Rz. 93

Die wesentliche Frage bei der Sitzverlegung aus dem Inland in einen EU- bzw. EWR-Staat ist also, ob dadurch das deutsche Besteuerungsrecht hinsichtlich einzelner Wirtschaftsgüter ausgeschlossen oder beschränkt wird. Dabei bewirkt der Wechsel von der unbeschränkten zur beschränkten Steuerpflicht für sich allein genommen noch keine "Einschränkung des Besteuerungsrechts", da der beschränkten Steuerpflicht unterliegende inl. Wirtschaftsgüter ebenso besteuert werden können wie der unbeschränkten Steuerpflicht unterliegende inl. Wirtschaftsgüter. Dieser Fall kann vorkommen, wenn die Geschäftsleitung einer Gesellschaft mit Sitz im Ausland in den ausländischen Staat verlegt wird. Dagegen bedeutet ein Wechsel vom unbeschränkten Besteuerungsrecht zur Besteuerung nach der Anrechnungs- oder Freistellungsmethode eine Einschränkung des Besteuerungsrechts, ebenso ein Wechsel von der Anrechnungs- zur Freistellungsmethode.

 

Rz. 94

Eine grenzüberschreitende Sitzverlegung in einen EU- bzw. EWR-Staat ist danach steuerneutral, wenn und soweit im Inland eine Betriebsstätte erhalten bleibt und die Wirtschaftsgüter dieser Betriebsstätte zugeordnet werden können ("Betriebsstättenbedingung"). Soweit Wirtschaftsgüter der inl. Betriebsstätte zuzuordnen sind, hat die Bundesrepublik nach dem jeweiligen DBA[1] das Besteuerungsrecht hinsichtlich der Nutzung und entsprechend Art. 13 Abs. 2 OECD-MA auch hinsichtlich des Veräußerungsgewinns dieser Wirtschaftsgüter. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass die Zuordnung von Wirtschaftsgütern zu Betriebsstätten aufgrund der "funktionalen Betrachtungsweise" der Finanzverwaltung eingeschränkt sein kann; im Zweifel sind Wirtschaftsgüter aufgrund der "Zentralfunktion" danach dem Stammhaus zuzuordnen (Rz. 45).

 

Rz. 94a

Dies wirft die Frage auf, was unter einer "Betriebsstätte" zu verstehen ist, da die Fusionsrichtlinie keine Definition enthält. Der Begriff ist nach dem Zweck auszulegen, den die gesetzliche Regelung verfolgt. Dieser Zweck besteht darin, dass der Staat der übertragenden Gesellschaft das Besteuerungsrecht behält. Es soll also eine nationale Besteuerungslücke aufgrund einer "Entstrickung" vermieden werden. Der Begriff der "Betriebsstätte" ist also so auszulegen, dass der "abgebende" Staat kein Steuersubstrat verliert. Besteht ein DBA zwischen dem Staat der übertragenden und dem Staat der übernehmenden Gesellschaft, richtet sich die Frage, ob der abgebende Staat ein Besteuerungsrecht hat oder nicht, nach dem Begriff der Betriebsstätte im jeweiligen DBA.[2] Daher ist auf die Definition des jeweiligen DBA abzustellen. Das bedeutet, dass die "Betriebsstättenbedingung" nicht erfüllt ist, wenn eine Betriebsstätte zwar nach § 12 AO, nicht aber nach dem jeweiligen DBA vorliegt. Dann geht das Besteuerungsrecht nach dem DBA auf den Zuzugsstaat über. Die grenzüberschreitende Sitzverlegung führt insoweit zur Besteuerung im Staat der übertragenden Gesellschaft. Vorkommen kann dies z. B., wenn in dem Wegzugsstaat nur ein Warenlager vorhanden ist, das nach Art. 5 Abs. 4 Buchst. a) OECD-MA keine Betriebsstätte bildet. Besteht kein DBA, ist § 12 AO anwendbar. Zwischen der Bundesrepublik und allen EU- und EWR-Staaten bestehen jedoch DBA. § 12 AO ist daher bei der Sitzverlegung in EU-/EWR-Staaten nicht anwendbar.

 

Rz. 95

Schließlich stellt sich die Frage, welche Wirtschaftsgüter im Einzelnen der Betriebsstätte zugeordnet werden können. Soweit die Wirtschaftsgüter der wegziehenden Körperschaft schon vor der Sitzverlegung eine inl. Betriebsstätte gebildet haben, entstehen keine Probleme. Die Betriebsstätte bleibt auch nach der Sitzverlegung der deutschen Steuer verhaftet. Die "Betriebsstättenbedingung" ist damit erfüllt.

 

Rz. 95a

Hat die wegziehende Körperschaft eine Betriebsstätte im Ausland unterhalten, entstehen regelmäßig ebenfalls keine Probleme. Infolge der nach den deutschen DBA üblicherweise geltenden Freistellungsmethode waren die Wirtschaftsgüter der ausl. Betriebsstätte vor der Sitzverlegung nicht der deutschen Steuer verhaftet. Es tritt also keine "Entstrickung" ein, sodass der Wegzug keinen Anlass für das Eingreifen der deutschen Besteuerung bietet. Hiervon gibt es allerdings für ausl. Betriebsstätten mit "passiven" Einkünften eine Ausnahme. Unterliegt die ausl. Betriebsstätte einer "Aktivitätsklausel" nach dem DBA oder nach § 20 Abs. 2 AStG, gilt nicht die Freistellungs-, sondern die Anrechnungsmethode. Da es sich bei Einkünften aus einer der Anrechnungsmethode unterliegenden ausl. Betriebsstätte nicht um "inl. Einkünfte" handelt, werden sie zwar durch die unbeschränkte Steuerpflicht, aber nicht mehr von der nach der Sitzverlegung bestehenden beschränkten Steuerpflicht erfasst. Die Wirtschaftsgüter der ausl. Betriebsstätte scheiden daher durch die Sitzverlegung aus dem deutschen Besteuerungsrecht aus. Damit kommt es insoweit zur Aufdeckung und Versteuerung der stillen Reserven.

 

Rz. 96

Für Grundstücke steht das Besteuerungsrecht nach Art. 6 OECD-MA regelmäßig dem Belegenheitsstaat zu, und zwar unabhän...

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