a) Grundsätzliches, Überblick

 

Rz. 76

[Autor/Stand] Grundsätzliches. In der Rechtsanwendungspraxis ist hinsichtlich der Anwendung einer Norm zwischen zwei Zeitpunkten zu differenzieren (s. auch Rz. 607 ff.): Zum einen der Zeitpunkt, zu dem sich der unter den Tatbestand zu subsumierende Sachverhalt ereignet hat, zum anderen der Zeitpunkt der praktischen Anwendung einer Norm durch einen Rechtsanwender (z.B. Behörde, Gericht). Der erste Zeitpunkt betrifft denjenigen, zu dem eine Rechtsnorm durch Verwirkung ihres Tatbestandes unmittelbar oder mittelbar eine (Verhaltens-)Pflicht aufstellt; ab welchem Zeitpunkt die Verwirklichung eines Sachverhalts die Rechtsfolge einer Norm auslösen kann, ist eine Frage der zeitlichen Anwendbarkeit dieser Norm (sog. zeitlicher Anwendungsbereich). Dies wird durch den Rechtsanwendungsbefehl einer Norm geregelt, der Teil der materiellen Rechtssetzung ist (vgl. etwa § 52 EStG). Die Frage des zeitlichen Anwendungsbereichs einer Norm betrifft mithin die Frage, auf welche Sachverhalte der Lebenswirklichkeit die Rechtsfolge einer Norm angewendet werden soll. Mit anderen Worten meint der zeitliche Anwendungsbereich also den Zeitpunkt, ab dem die Norm in der Weise "scharf gestellt ist", dass der Steuerpflichtige den Tatbestand mit dem Auslösen der Rechtsfolge verwirklichen kann; geklärt wird die Frage, welche Sachverhalte unter den Tatbestand zu subsumieren sind. Der zeitliche Anwendungsbereich betrifft hingegen nicht den (letztlich zufälligen) Zeitpunkt, ab dem der Rechtsanwender eine Norm auf einen irgendwann in der Vergangenheit verwirklichten Sachverhalt praktisch anzuwenden hat (s.w.u.), vielmehr folgt aus dem zeitlichen Anwendungsbereich die Anordnung, auf welche Fälle der Rechtsanwender eine Norm anzuwenden hat. So bedeutet etwa die zeitliche Anwendbarkeit einer Norm ab dem 1.1.2022 nicht, dass der Rechtsanwender ab dem 1.1.2022 nunmehr sämtliche auf seinem Schreibtisch landende Fälle nach dieser Neuregelung zu beurteilen hätte. Von der zeitlichen Anwendbarkeit zu trennen ist ferner die Frage des Inkrafttretens einer Norm als dem Zeitpunkt, zu dem sie Teil des geltenden Rechts wird, also Geltung erlangt; so kann eine Norm zum 1.6.2021 in Kraft getreten sein, aber erst für ab dem 1.1.2022 verwirklichte Sachverhalte anzuwenden sein.[2] Der zweite Zeitpunkt betrifft denjenigen, zu dem ein Rechtsanwender (z.B. Behörde, Gericht) das Erfüllen des Tatbestands feststellt und dem Rechtsanwendungsbefehl einer Vorschrift gehorcht, indem er die bereits materiell-rechtlich ausgelöste Rechtsfolge durch Begründung einer konkreten Verhaltenspflicht (z.B. Erlass eines Verwaltungsaktes, eines Steuerbescheids, eines Urteils) auf den konkreten Fall anwendet, d.h. die Rechtsfolge real durchsetzt; dies betrifft die praktische Anwendung einer Norm, deren Zeitpunkt weitgehend zufällig ist. Die beiden dargestellten Zeitpunkte werden in aller Regel nicht zusammenfallen, vielmehr wird der Zeitpunkt der praktischen Anwendung dem Zeitpunkt der Verwirklichung des zu regelnden Sachverhalts nachfolgen. So entscheidet ein (Finanz-)Gericht oder eine Behörde üblicherweise über einen Sachverhalt, der sich in der Vergangenheit ereignet hat. In diesem Fall erfolgt die praktische Anwendung der Norm rückwirkend auf den Zeitpunkt, in dem der Tatbestand materiell-rechtlich verwirklicht wurde.

 

Rz. 77

[Autor/Stand] Zeitlicher Anwendungsbereich des § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. AbzStEntModG (Überblick). § 50d Abs. 3 EStG ist gemäß Art. 15 des AbzStEntModG[4] am 9.6.2021 in Kraft getreten. Abweichend von der allgemeinen Anwendungsregel des § 52 Abs. 1 (Satz 3) EStG ordnet § 52 Abs. 47b EStG i.d.F. AbzStEntModG an, dass die Fassung des § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. AbzStEntModG grundsätzlich auch in allen offenen Fällen anzuwenden ist (vgl. Rz. 86 ff.). Das gilt nicht ("es sei denn"), wenn die Einkünfte vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens zugeflossen sind und zu diesem Zeitpunkt eine Vorgängerfassung des § 50d Abs. 3 EStG galt, die dem Entlastungsanspruch nicht entgegenstehen würde (d.h. für den Steuerpflichtigen günstiger wäre); dann ist keine der Fassungen des § 50d Abs. 3 EStG oder nur die günstigere Altfassung anzuwenden (vgl. Rz. 98). Das nennt die Gesetzesbegründung eine "Günstigerprüfung"[5] (vgl. Rz. 93 ff.).

b) Zufluss ab 9.6.2021

 

Rz. 78

[Autor/Stand] Anwendung in allen nach Inkrafttreten (9.6.2021) verwirklichten Sachverhalten (= Zufluss nach Inkrafttreten ). Die Anwendungsbestimmung des § 52 Abs. 47b EStG (abgedruckt in Rz. 84) regelt nur den Rechtsanwendungsbefehl für die Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. AbzStEntModG auf alle "offenen Fälle", d.h. auf solche tatbestandsrelevanten Sachverhalte, die bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens (9.6.2021) durch Zufluss der abzugsteuerpflichtigen Erträge bereits verwirklicht sind (vgl. Rz. 87). Gleichwohl folgt aus dem mit dem Inkrafttreten einhergehenden allgemeinen Regelungsanspruch einer Norm, dass diese auf alle ab Inkrafttreten (neu) verwirklichten Sachverhalten anzuwenden ist; ein...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge