Entscheidungsstichwort (Thema)

Ermessensausübung bei Haftungsinanspruchnahme

 

Leitsatz (NV)

Bei Nichtangabe der für die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners maßgebenden Ermessenserwägungen und bei Nichtvorliegen von grober Fahrlässigkeit ist der Haftungsbescheid - weil ermessensfehlerhaft ergangen - aufzuheben.

 

Normenkette

AO §§ 105, 109, 118 S. 1

 

Tatbestand

Der Kläger war im Jahre 1972 neben dem Kaufmann R Gesellschafter-Geschäftsführer einer im Jahre 1970 gegründeten GmbH, die ihrerseits Komplementärin und Geschäftsführerin einer GmbH & Co. KG (KG) gewesen war. Die KG unterhielt an verschiedenen Orten Produktionsstätten. Als dienstältester kaufmännischer Angestellter war im streitigen Haftungszeitraum D in dem Unternehmen tätig, dem nach der Behauptung des Klägers die kaufmännische Leitung übertragen war.

In den Umsatzsteuervoranmeldungen der KG für 1972 wurde eine Selbstverbrauchsteuer für den Voranmeldungszeitraum Januar 1972 in Höhe von 3 818 DM erklärt, für die restlichen Voranmeldungszeiträume hingegen nicht. Aufgrund der nach den Umsatzsteuervoranmeldungen die Steuerschuld übersteigenden Vorsteuerabzugsbeträge ergab sich ein Vorsteuerüberschuß (Rotbetrag) von 53 237 DM, den das FA an die KG auszahlte. Dagegen erklärte die KG in der Umsatzsteuerjahreserklärung 1972 die Selbstverbrauchsteuer mit 27 210,43 DM, so daß nur noch ein Vorsteuerüberschuß von 29 845,66 DM verblieb. Die nach diesen Angaben am 19. März 1974 durchgeführte Umsatzsteuer-Jahresveranlagung 1972 wurde bestandskräftig. Die sich aus den unterschiedlichen Vorsteuerüberschüssen (laut Voranmeldungen: 53 237 DM, laut Jahresveranlagung 29 845,66 DM) ergebende Rückforderung des FA in Höhe von 23 392,43 DM wurde von der KG nicht bezahlt. Über deren Vermögen wurde am 4. April 1974 das Konkursverfahren eröffnet.

Mit Haftungsbescheid vom 21. Juli 1975 nahm das FA den Kläger als mittelbaren Geschäftsführer der KG wegen des Rückforderungsanspruchs für 1972 in Höhe von 23 392 DM gemäß § 105 i. V. m. §§ 109, 118 und 112 AO in Anspruch. In dem Haftungsbescheid ist nicht angegeben, daß wegen der Rückforderung betreffend die Umsatzsteuer 1972 mit Haftungsbescheid vom 19. September 1974 auch der andere Geschäftsführer K in Anspruch genommen worden war.

Auf die nach erfolglosem Einspruchsverfahren mit dem Ziel der Aufhebung des Haftungsbescheids erhobene Klage hat das FG eine Beweisaufnahme durchgeführt, in der u.a. der weitere Geschäftsführer K und der Angestellte D zur Verantwortlichkeit für die Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen als Zeugen vernommen wurden.

Aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme hat das FG die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt: Das FA habe den Kläger in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der GmbH, die ihrerseits Geschäftsführer der KG gewesen sei, nach den hier anzuwendenden Vorschriften der §§ 103, 105, 109, 118 AO (Art. 97 § 11 des EGAO 1977) zu Recht als Haftungsschuldner in Anspruch genommen. Die Beweisaufnahme habe ergeben, daß der Kläger für die Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen der KG verantwortlich gewesen sei. Die Inanspruchnahme des Klägers sei auch nicht ermessensfehlerhaft. Denn aufgrund der getroffenen Feststellungen sei das Gericht der Auffassung, daß der Kläger mit der Nichtangabe der Selbstverbrauchsteuer in den Umsatzsteuervoranmeldungen II mit XII 1972 grob fahrlässig gehandelt habe. In Anwendung des Urteils des BFH vom 13. April 1978 V R 109/75 (BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508) hätten deshalb die für die Haftbarmachung maßgeblichen Ermessenserwägungen des FA in den Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung nicht aufgenommen zu werden brauchen.

Mit der Revision verfolgt der Kläger das Klagebegehren weiter, hilfsweise wird beantragt, die Sache unter Aufhebung der Vorentscheidung an das FG zurückzuverweisen. Er rügt fehlerhafte Anwendung von §§ 103, 105, 109 und 118 AO.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere den Bekundungen des Zeugen D hätte das FG nicht davon ausgehen dürfen, daß der Kläger für die Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen der KG alleinverantwortlich gewesen sei. Mindestens aber sei dem Kläger wegen der Nichtangabe der ab Februar 1972 angefallenen Selbstverbrauchsteuer eine grobe Fahrlässigkeit nicht nachzuweisen; er sei nämlich der jedenfalls vertretbaren Meinung gewesen, daß die Selbstverbrauchsteuerpflicht bis Ende 1972 wegen Nichtfertigstellung der entsprechenden Wirtschaftsgüter noch nicht eingetreten gewesen sei.

Fehle es aber - mindestens - an grober Fahrlässigkeit, so hätten die für die Inanspruchnahme als Haftungsschuldner maßgeblichen Ermessenserwägungen in dem Haftungsbescheid oder die Einspruchsentscheidung aufgenommen werden müssen, was nicht geschehen sei. Die angefochtenen Verwaltungsakte seien deshalb auch wegen Nichtangabe der für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe rechtswidrig erlassen worden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Unter Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils ist der Haftungsbescheid vom 21. Juli 1975 in Form der Einspruchsentscheidung vom 15. September 1975 aufzuheben.

1. Die Entscheidung darüber, ob der Kläger als Geschäftsführer der GmbH, die als Geschäftsführer der GmbH & Co. KG tätig war, bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 109, 105, 103 AO gemäß § 118 AO als Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen sei, ist eine Ermessensentscheidung (BFH-Urteile vom 1. Juni 1965 VII 228/63 U, BFHE 82, 689, BStBl III 1965, 495, und vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508). Diese Ermessensentscheidung ist nach § 102 FGO darauf zu überprüfen, ob der Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

Eine solche von Amts wegen durchzuführende Überprüfung setzt indessen voraus, daß die Ermessensentscheidung des FA von diesem erkennbar durchgeführt worden ist. Das FA muß folglich seine Ermessenserwägungen spätestens in der Einspruchsentscheidung kundtun, damit sie von dem FG überprüft werden können (vgl. BFH-Urteil vom 18. September 1981 VI R 44/77, BFHE 134, 149, BStBl II 1981, 801; Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, 8. Aufl., § 191 AO 1977 Anm. 62, 90, 110, 111; Tipke/Kruse, AO/FGO, 11. Aufl., § 191 AO 1977 Tz. 15).

2. Im Streitfall sind der Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung, die in dem finanzgerichtlichen Urteil in Bezug genommen sind, in der Frage sachgerechter Ermessensausübung der revisionsrichterlichen Würdigung zugänglich (vgl. Ziemer/Birkholz, FGO, 3. Aufl., Rdnr. 12 zu § 118; BFH-Urteil vom 14. September 1967 V 108/63, BFHE 90, 193, BStBl II 1968, 193). Diese Würdigung ergibt, daß im Haftungsbescheid und der Einspruchsentscheidung keine Erwägungen zur Ausübung des Ermessens enthalten sind, was bereits für sich allein den Ausführungen in den unter Ziff. 1 genannten Urteilen des BFH zuwiderläuft, zumal noch ein anderer Geschäftsführer für die KG tätig gewesen ist, so daß mindestens Erwägungen hinsichtlich der Auswahl des Klägers als Haftungsschuldner angezeigt gewesen wären.

Das FG ist der Meinung, solche Erwägungen seien hier entbehrlich gewesen, weil die wegen Nichtangabe der Selbstverbrauchsteuer erfolgte ungerechtfertigte Auszahlung der Vorsteuerbeträge auf ein grob fahrlässiges Verhalten des Klägers zurückzuführen sei. Das FG beruft sich hierfür auf das Urteil des BFH in BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508. Diese Entscheidung ist jedoch im Streitfall nicht einschlägig. Denn sie setzt - wie sich aus den Entscheidungsgründen ergibt - voraus, daß das Vorliegen von grober Fahrlässigkeit spätestens in der Einspruchsentscheidung festgehalten ist oder sich aus ihr doch mindestens eindeutig ergibt (vgl. Urteil des FG München vom 9. Oktober 1984 III (XII) 268/77 AO, EFG 1985, 268). So liegt der Fall hier aber nicht. Denn weder aus dem Haftungsbescheid noch aus der Einspruchsentscheidung ergibt sich ein zweifelsfreier Anhaltspunkt dafür, daß dem Kläger hinsichtlich der Nichtangabe der Selbstverbrauchsteuer - welche die Ursache für die sich aus den Voranmeldungen ergebende negative Steuerschuld und damit die Auszahlung der Vorsteuerbeträge gewesen ist - grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen war. Eine solche Angabe wäre jedoch im Streitfall um so mehr erforderlich gewesen, als es sich bei der Selbstverbrauchsteuer um eine außerhalb der allgemeinen Umsatzsteuer eingeführte Sondersteuer handelte, die mit schwierigen Rechtsfragen behaftet war und überdies nur zeitlich befristet, also vorübergehend - hier bis zum 31. Dezember 1972 - (vgl. § 30 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes 1967 i.d.F. des Gesetzes vom 29. Mai 1967, BGBl I 1967, 545, BStBl I 1967, 224), in Kraft gewesen ist.

Fehlt aber, wie vorstehend dargetan, in den zugrunde liegenden Verwaltungsakten ein Anhaltspunkt für das Vorliegen grober Fahrlässigkeit, so konnte mangels Anwendbarkeit des Urteils in BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508 auf die Angabe der für die Haftbarmachung des Klägers maßgeblichen Ermessenserwägungen nicht verzichtet werden. Der gegenteilige Standpunkt des FG läuft auf eine erstmals vom Gericht vorgenommene Ermessensausübung hinaus, die den FG verwehrt ist (vgl. Urteil des BFH vom 26. September 1968 IV R 53/68, BFHE 94, 110, BStBl II 1969, 77). Die Vorentscheidung ist daher aufzuheben, ohne daß auf die weiteren Revisionsrügen einzugehen ist.

Die Sache ist spruchreif. Unter Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils ist der angefochtene Haftungsbescheid in Form der Einspruchsentscheidung vom 15. September 1975 aufzuheben (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO).

 

Fundstellen

BFH/NV 1987, 72

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