Entscheidungsstichwort (Thema)

Besorgnis der Befangenheit durch Verfahrensverstöße

 

Leitsatz (NV)

Besorgnis der Befangenheit kann auch dadurch entstehen, daß das prozessuale Vorgehen des Richters einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage entbehrt und sich dem betroffenen Beteiligten der Eindruck einer sachwidrigen auf Voreingenommenheit beruhenden Benachteiligung aufdrängt. Bei einem nicht offensichtlich mißbräuchlichen Ablehnungsgesuch darf der Richter nur noch solche Handlungen vornehmen, die keinen Aufschub dulden.

 

Normenkette

FGO § 51 Abs. 1; ZPO § 42 Abs. 2, § 47

 

Tatbestand

Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) haben nach einer Steuerfahndungsprüfung gegen die aufgrund der Prüfungsfeststellungen ergangenen Bescheide in zahlreichen Verfahren Klage erhoben und die Aussetzung der Vollziehung mehrerer angefochtener Bescheide beantragt. Der Beklagte (das Finanzamt - FA -) wies die Anträge zurück. Die Beschwerden hatten zum Teil Erfolg. Die Kläger erhoben Klage und beantragten, das FA zur Aussetzung der Vollziehung zu verpflichten. Daraufhin setzte das FA die Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1978 und 1982, der Gewerbesteuermeßbescheide 1977 bis 1982, des Umsatzsteuerbescheides 1979 und der Umsatzsteuerhaftungsbescheide 1979 bis 1982 unter Widerrufsvorbehalt ab Fälligkeit in vollem Umfang aus und erklärte die Rechtsstreite in der Hauptsache für erledigt. Die Kläger hielten die Klagen mit dem Ziel einer vorbehaltlosen Aussetzung der Vollziehung aufrecht. Das Finanzgericht (FG) verband die Verfahren mit Beschluß vom 13. Juli 1992 zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung. Mit Verfügung vom selben Tag setzte der Senatsvorsitzende, Vorsitzender Richter am FG A, den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 30. Juli 1992 fest. Durch Beschluß vom 14. Juli 1992 lehnte der Senat den Antrag der Kläger, die Verhandlung bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über ihre Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 16. Dezember 1991 XI B 21/91 wegen Richterablehnung auszusetzen, ab.

Mit Schriftsatz vom 14. Juli 1992 rügten die Kläger die Verletzung des gesetzlichen Richters bei der Beschlußfassung vom 13. Juli 1992 mit der Begründung, daß gegen die Richter des ... Senats Regreßverfahren anhängig seien. Es sei keine verfahrensbeendende Verfahrensentscheidung denkbar, die ohne Zusammenhang zu den anhängigen Regreßverfahren sei. Ferner habe das FG die Zusage, Aktenteile zu kopieren, nicht eingehalten.

Unter dem 17. Juli 1992 teilte A den Klägern mit, daß über die Frage der Mitwirkung der Richter am FG B und C gesondert entschieden werde.

Mit Schreiben vom 21. Juli 1992 lehnten die Kläger die Richter des Senats wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Bereits im Zeitpunkt der Beschlüsse vom 13. und 14. Juli 1992 hätte über die Mitwirkung von B und C entschieden sein müssen. Die Verweigerung der Aufhebung des Termins zur mündlichen Verhandlung am 30. Juli 1992 sei sachlich nicht geboten gewesen. Die Verfassungsbeschwerde wegen Richterablehnung sei bereits seit einem Jahr anhängig; in derartigen Fällen sei das Ermessen des FG auf Null reduziert. Für Richter B stehe fest, daß die Kläger Steuerhinterzieher seien; weitere Sachverhaltsfeststellungen seien nach dessen Auffassung nicht zu treffen, da aus den Strafverfahren alles bekannt sei. Besorgnis der Befangenheit werde auch begründet durch die kurzfristige Beschlußfassung am 14. Juli 1992 über den seit Monaten anhängigen Antrag nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

Das FG verwarf den Antrag, A und C abzulehnen, als unzulässig. Der Senat entschied daher unter Mitwirkung dieser Richter (vgl. BFH-Beschluß vom 29. Oktober 1986 VII S 15/86, BFH/NV 1987, 519). Den Antrag auf Ablehnung des Richters B lehnte das FG als unbegründet ab.

Gegen diese Entscheidung haben die Kläger Beschwerde erhoben.

Das FG hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Mit Schriftsatz vom 30. August 1993 haben die Kläger ihren auf Ablehnung der Richter A und C gerichteten Antrag zurückgenommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist begründet.

1. Gemäß § 51 Abs. 1 FGO i.V.m. § 42 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) findet die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Es müssen objektive Gründe vorliegen, die vom Standpunkt des Ablehnenden aus bei ruhiger und vernünftiger Betrachtung befürchten lassen, der Richter stehe der Sache nicht unvoreingenommen gegenüber (BFH-Beschlüsse vom 4. Juli 1985 V B 3/85, BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555; vom 24. Juli 1992 VI B 109/91, BFH/NV 1993, 41, und vom 27. Juli 1992 VIII B 59/91, BFH/NV 1993, 112). Hierher gehören Verstöße des Richters gegen die gebotene Objektivität und Neutralität und die Fälle unsachlichen und auf Voreingenommenheit hindeutenden Verhaltens im laufenden Verfahren, z.B., wenn die Verfahrensweise des Richters jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt oder wenn sie den Anschein der Willkür erweckt. Auch unsachliche Äußerungen, die Weigerung einen schriftsätzlich angekündigten Antrag einer Partei anzunehmen und ihn im Protokoll festzuhalten (Beschluß des Oberlandesgerichts - OLG - Köln vom 16. Oktober 1970 3 W 46/70, OLGZ 1971, 376) sowie eine unzulängliche Stellungnahme des Richters zu den zum Ablehnungsantrag führenden Vorgängen in der dienstlichen Äußerung können Zweifel an der Unparteilichkeit wecken.

Dagegen kann das eigene Verhalten der ablehnenden Partei als solches keinen Ablehnungsgrund herbeiführen. Durch Angriffe auf den Richter (wie Dienstaufsichtsbeschwerden, Anträge auf Einleitung von Disziplinarmaßnahmen, wiederholte Ablehnungsgesuche in früheren Prozessen) kann ein Beteiligter einen ihm unbequemen Richter nicht ausschalten (Beschluß des OLG München vom 27. Oktober 1970 I U 1212/70, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1971, 384). Dies gilt auch dann, wenn sich der Richter gegen das Verhalten des Beteiligten, z.B. durch eine Strafanzeige, zur Wehr setzt.

Verfahrensverstöße oder fehlerhafte Entscheidungen sind grundsätzlich kein Ablehnungsgrund (BFH-Beschlüsse vom 8. Mai 1992 III B 110/92, BFH/NV 1993, 174, und in BFH/NV 1993, 112). Etwas anderes gilt nur dann, wenn Gründe dargetan werden, die darauf hindeuten, daß die Fehlerhaftigkeit auf einer unsachlichen Einstellung des Richters oder auf Willkür beruht (BFH-Beschluß vom 16. Februar 1989 X B 99/88, BFH/NV 1989, 708).

Besorgnis der Befangenheit kann daher auch dadurch entstehen, daß das prozessuale Vorgehen des Richters einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage entbehrt und sich so sehr von dem normalerweise geübten Verfahren entfernt, daß sich der betroffenen Partei der Eindruck einer sachwidrigen auf Voreingenommenheit beruhenden Benachteiligung aufdrängt (Zöller/Vollkommer, Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., 1993, § 42 Rdnr. 24). Prozessuale Fehler eines Richters begründen zwar für sich genommen noch nicht die Besorgnis der Befangenheit, dennoch kann - wie im Streitfall - eine Häufung dieser Fehler den Eindruck von Voreingenommenheit entstehen lassen (Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts - BayObLG - vom 21. Januar 1988 BReg 3 Z 193/87, Monatsschrift für Deutsches Recht - MDR - 1988, 500).

Im Streitfall sind diese Voraussetzungen gegeben.

B hat sich trotz des anhängigen Ablehnungsgesuchs nicht - wie es § 47 ZPO vorschreibt - auf unaufschiebbare Handlungen beschränkt, sondern in der Klagesache ein Votum angefertigt, das er am 21. Juli 1993 abzeichnete und sodann an A und C weiterleitete, die es ihrerseits am 28. Juli 1992 abzeichneten. Da das gegen B gerichtete Ablehnungsgesuch nicht von vornherein offensichtlich mißbräuchlich war, durfte B nur solche Handlungen vornehmen, die keinen Aufschub duldeten (wie z.B. Eilentscheidungen oder die Einleitung eines Beweissicherungsverfahrens). Mit der Anfertigung des Votums hätte B daher warten müssen, bis über das Ablehnungsgesuch endgültig entschieden war. In den Fällen der Richterablehnung hat sich der abgelehnte Richter jedweder weiteren Tätigkeit in der Sache zu enthalten (Beschluß des OLG Hamburg vom 12. Februar 1992 7 W 62, 63/91, NJW 1992, 1462).

B hat im Richterablehnungsverfahren offenbar auch keine dienstliche Äußerung abgegeben. Die Äußerung erübrigt sich nur bei unzulässigen und querulatorischen Gesuchen. Anderenfalls hat der Richter zu dem Gesuch - in der Regel schriftlich - Stellung zu nehmen. Mängel der Stellungnahme können für die Beurteilung der Besorgnis der Befangenheit ebenso von Bedeutung sein (dazu vgl. Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 44 Rdnr. 4) wie eine ganz unterbliebene Äußerung.

Hinzu kommt die von den Klägern gerügte Übersendung der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse an das FA, die offenbar regelmäßig geschehen ist. Gründe, die dafür sprechen könnten, daß B diese Unterlagen dem FA aus unsachlichen Gründen zugänglich machen wollte, sind allerdings nicht erkennbar und auch nicht vorgetragen worden. Es scheint vielmehr, daß B diese Unterlagen dem FA aus Unkenntnis oder aus Unachtsamkeit zur Kenntnis brachte.

Insgesamt erreichen die dargestellten Verfahrensverstöße ein solches Gewicht, daß die Kläger von fehlender Unvoreingenommenheit ausgehen konnten. Darauf, ob der Richter tatsächlich befangen ist oder sich für befangen hält, kommt es nicht an. Maßgebend ist allein, ob auch für den betroffenen Beteiligten aus dessen - objektivierter - Sicht Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters gegeben sein können.

2. Eine nochmalige Akteneinsicht der Kläger hält der Senat nicht für erforderlich, da seit der Akteneinsicht vom 15. Februar 1993 lediglich die Schriftsätze der Kläger vom 17. Februar 1993 und vom 30. August 1993 sowie der Beschluß in der Prozeßkostenhilfe-Sache den Akten beigefügt worden sind. Auch sind nicht weitere von den Klägern in Bezug genommene Akten beizuziehen. Die Bezugnahme auf früheres Vorbringen in anderen Verfahren kann den substantiierten Vortrag im anhängigen Verfahren nicht ersetzen. Jedes Rechtsschutzbegehren muß aus sich selbst heraus verständlich sein (Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., 1993, § 65 Rz. 20f.). Das gilt insbesondere dann, wenn eine Vielzahl von Verfahren anhängig ist und von der Bezugnahme und dem Antrag auf Beiziehung nicht nur vereinzelt und nicht nur zur Ergänzung, Präzisierung und Klarstellung Gebrauch gemacht wird. In Fällen dieser Art - wie hier, wo die Kläger u.a. die Beiziehung sämtlicher Akten der anhängigen Verfahren beantragt haben - ist die Bezugnahme prozessual unbeachtlich.

 

Fundstellen

BFH/NV 1994, 489

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge