Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsschutzbedürfnis bei AdV unter Widerrufsvorbehalt

 

Leitsatz (NV)

Beantragt ein Steuerpflichtiger im finanzgerichtlichen Verfahren die Aussetzung der Vollziehung (AdV) und bewilligt das FA die AdV unter Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs, wird die Hauptsache dadurch auch nach Ergehen des VGFGEntlG nicht erledigt.

 

Normenkette

FGO § 69 Abs. 2-3

 

Verfahrensgang

FG München

 

Tatbestand

Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Beschwerdeführer) ist einer der vier Erben nach dem im November 1975 gestorbenen A. Dem Beschwerdeführer - wie auch den übrigen Erben - wurden am 27. Juli 1982 den Erblasser betreffende Steuerbescheide bekanntgegeben, und zwar

der Einkommensteuerbescheid 1974 vom 28. September 1976,

der Einkommensteuerbescheid 1975 vom 8. November 1977 und

der Vermögensteuerbescheid 1974 vom 28. März 1977.

Der Beschwerdeführer legte gegen die Bescheide am 9. August 1982 Einspruch ein und beantragte Aussetzung der Vollziehung. Diesen Antrag hat der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) mit Verfügung vom 14. Februar 1983 abgelehnt.Am 15. März 1983 erhob der Beschwerdeführer Klage gegen den Einkommensteuerbescheid 1974, den Vermögensteuerbescheid 1974 und den Einkommensteuerbescheid 1975, ohne daß Einspruchsentscheidungen des FA vorlagen, und beantragte gleichzeitig Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Steuerbescheide gemäß § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

Das FA hat mit Verfügung vom 27. Juni 1983 die Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1974 für die Ergänzungsabgabe und den Stabilitätszuschlag, des Einkommensteuerbescheids 1975 und des Vermögensteuerbescheids 1974 unter dem Vorbehalt jederzeitigen Widerrufs ausgesetzt.

Mit dem am 25. August 1983 beim Finanzgericht (FG) eingegangenen Schriftsatz des FA vom 23. August 1983 teilte das FA unter anderem folgendes mit:

,,1. Die Vermutung, das Finanzamt habe durch die Nichtaussetzung der ESt 1974 die in 1980 erfolgte Zahlung mit dem verjährten Steueranspruch für 1974 verrechnen wollen, geht fehl. Ebensowenig entspricht es den Tatsachen, wenn der ASt behauptet, ihm sei von Seiten des Finanzamtes zugesagt worden, es werde die Vollziehung sämtlicher Steuerbescheide aussetzen.

Das Finanzamt hat - wie im Schreiben vom 22. 6. 1983 auch mitgeteilt - lediglich aus Gründen der Vereinfachung alle noch offenen Beträge von der Vollziehung ausgesetzt. Da aber die Zahlung in Höhe von 13 627,- DM, die der ASt am 22. 7. 1980 erbracht hat, auf die Einkommensteuer-Schuld 1974 angerechnet worden ist, war für diesen Veranlagungszeitraum keine Steuerschuld mehr offen.

Nachdem das Finanzamt jedoch in der Hauptsache dahingehend zu entscheiden beabsichtigt, daß die ESt sowie die VSt 1974 gegenüber dem ASt verjährt sind, müssen richtigerweise die ESt und VSt 1974 von der Vollziehung ausgesetzt werden. Da die ESt-Schuld 1975 nach Auffassung des Finanzamtes nicht verjährt ist, wird die bereits gewährte AdV insoweit widerrufen werden.

Entsprechende Bescheide gehen dem ASt in Kürze zu. Das Finanzgericht erhält einen Abdruck der Verfügungen.

2. In der Hauptsache vertritt das Finanzamt wie bisher den Standpunkt, daß die Klage mangels abgeschlossenen Vorverfahrens unzulässig ist."

Das FG hat den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 1974 und des Vermögensteuerbescheids 1974 als unzulässig abgelehnt, da das Rechtsschutzbedürfnis weggefallen sei. Das FA habe die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 1974 und des Vermögensteuerbescheids 1974 bereits ausgesetzt. Der in den Aussetzungsverfügungen enthaltene Widerrufsvorbehalt rechtfertige es nicht, eine gerichtliche Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung zu begehren.

Das FG führte weiter aus, es setze sich mit dieser Entscheidung in Widerspruch zu dem Beschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 10. März 1970 II S 39/68 (BFHE 98, 330, BStBl II 1970, 385); im Falle des Widerrufs der Aussetzungsverfügung durch das FA sei der Antragsteller aber nicht gehindert, erneut einen Aussetzungsantrag bei Gericht zu stellen.

Für die Zeit nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) vom 31. März 1978 (BGBl I, 446, BStBl I, 174), ergebe sich aus Art. 3 § 7 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 des Gesetzes, daß die bloße Möglichkeit eines Widerrufs der Aussetzungsverfügung nicht ausreichen könne, das Rechtsschutzbedürfnis für eine gerichtliche Entscheidung zu bejahen. Ein Antrag an das Gericht auf Aussetzung der Vollziehung sei nur zulässig, wenn die Finanzbehörde den Antrag nach § 69 Abs. 2 FGO ganz oder zum Teil abgelehnt habe. Das gelte nicht, wenn das FA zu erkennen gegeben habe, daß es die Vollziehung nicht aussetzen werde. Die Aussetzung und der Widerrufsvorbehalt stellen keine ganze oder teilweise Ablehnung dar. Der Widerrufsvorbehalt sei auch keine derartige Einschränkung - wie etwa die Anordnung einer Sicherheitsleistung -, daß das FA dadurch zu erkennen gebe, daß es nur zum Teil aussetze. Ein nach Aussetzung der Vollziehung unter Widerrufsvorbehalt bei Gericht gestellter Antrag sei deshalb unzulässig. Etwas anderes könne aber - im Hinblick auf das durch das VGFGEntlG zum Ausdruck gebrachte Bestreben des Gesetzgebers, die FG in ihrer Tätigkeit zu entlasten - nicht gelten, wenn das FA aufgrund eines bei Gericht anhängigen Antrags die Vollziehung unter Widerrufsvorbehalt aussetze. Im übrigen sei der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 1975 unbegründet.

Das FG hat die Beschwerde gegen die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 1974 und des Vermögensteuerbescheids 1974 nach Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) i. V. m. § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zugelassen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluß des FG vom 6. Oktober 1983 führt zu dessen Aufhebung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.

Der BFH hat im Beschluß in BFHE 98, 330, BStBl II 1970, 385 ausgesprochen: Die Hauptsache ist im gerichtlichen Verfahren über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nicht erledigt, wenn das FA die Aussetzung der Vollziehung unter Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs bewilligt und daraufhin die Erledigung der Hauptsache anzeigt, der Antragsteller sich dieser Erklärung aber nicht anschließt. Der Antragsteller hat auch im vorliegenden Fall gemäß § 69 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 FGO zulässigerweise die gerichtliche Anordnung beantragt, die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids auszusetzen. Ergeht eine solche gerichtliche Anordnung, so bindet sie die betroffene Verwaltungsbehörde; nur das Gericht der Hauptsache kann sie gemäß § 69 Abs. 3 Satz 5 FGO ändern oder aufheben. Ohne Zustimmung des Antragstellers kann ein solcher Antrag sich in der Hauptsache nur dann erledigen, wenn die betroffene Verwaltungsbehörde die Vollziehung vorbehaltlos aussetzt. Eine Aussetzung unter Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs erledigt dagegen nicht das Anliegen des Antragstellers, vor einer Vollziehung unabhängig von dem Standpunkt der Verwaltungsbehörde geschützt zu sein. An dieser Sachlage hat sich durch das VGFGEntlG nichts geändert. Denn danach ist zur Entlastung der FG zwar ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung an das Gericht nur zulässig, wenn die Finanzbehörde den Antrag nach § 69 Abs. 2 FGO ganz oder zum Teil abgelehnt, oder zu erkennen gegeben hat, daß es die Vollziehung nicht aussetzen werde; im VGFGEntlG ist aber nicht die Regelung enthalten, daß ein vom Steuerpflichtigen zulässig eingeleitetes gerichtliches Verfahren durch eine vom FA verfügte Aussetzung der Vollziehung unter Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs erledigt werde.

Der Senat hat nicht zu entscheiden, ob eine Verfügung des FA auf Aussetzung der Vollziehung unter Widerrufsvorbehalt eine Zugangssperre an das FG i. S. von Art. 3 § 7 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 VGFGEntlG bildet, wie das FG meint. Selbst wenn die Rechtsauffassung des FG insoweit für zutreffend erachtet wird, erledigt eine Aussetzung der Vollziehung unter Widerrufsvorbehalt, die erst während des finanzgerichtlichen Verfahrens ergeht, nicht das Anliegen des Antragstellers, vor einer Vollziehung unabhängig von dem Standpunkt der Verwaltungsbehörde geschützt zu sein.

Das FG hat zur Frage der Begründetheit des Begehrens des Antragstellers - von seinem Standpunkt aus zu Recht - keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Die Sache geht daher an das FG zurück (§§ 132, 155 FGO, § 575 der Zivilprozeßordnung).

 

Fundstellen

BFH/NV 1986, 682

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