Leitsatz (amtlich)

Nach Auffassung des I. Senats des Bundesfinanzhofs ist die Bestimmung des Art. 2 Abs. 7 StändG 1960, derzufolge rechtskräftige und nicht rechtskräftige Steuerveranlagungen unterschiedlich behandelt werden, mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar. 2. Er leitet deswegen die Sache gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung zu. GG Art. 3 Abs. 1, 20 Abs. 3; StändG 1960 Art. 2 Abs. 7.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3

 

Tatbestand

I.

Streitig ist, ob die Bfin. mit ihren im Kalenderjahr 1955 erzielten Einkünften gewerbesteuerpflichtig ist.

Die Bfin. ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die eine Privatschule betreibt. Die drei Gesellschafter sind für den Lehrberuf voll ausgebildet und übernahmen im Streitjahr 70 v. H. der Unterrichtsstunden. Die restlichen Unterrichtsstunden wurden von zwei angestellten Lehrkräften abgehalten. Finanzamt und Finanzgericht zogen die Bfin. mit den Einkünften des Kalenderjahres 1955 zur Gewerbesteuer heran, weil die Bfin. sich mit Gewinnabsicht durch selbständige und nachhaltige Betätigung am wirtschaftlichen Verkehr beteiligt habe. Sie habe damit einen Gewerbebetrieb im Sinne von § 2 Abs. 1 GewStG, § 1 GewStDV unterhalten, da ihre Betätigung nicht als Ausübung einer freiberuflichen Tätigkeit im Sinne von § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG anerkannt werden könne. Freiberufliche Tätigkeit beruhe im wesentlichen auf dem geistigen Vermögen und der persönlichen Arbeitskraft des Berufsträgers. An dieser Voraussetzung fehle es im Streitfall, da die Bfin. sich im Streitjahre zweier angestellter Arbeitskräfte bedient habe, die im Rahmen des Unternehmens eine der Arbeit der Gesellschafter gleichgeartete Tätigkeit ausgeübt hätten. Die Bfin. habe dadurch die Arbeitskraft der Gesellschafter vervielfältigt. Die unterrichtende Tätigkeit verliere den freiberuflichen Charakter, wenn mehrere qualifizierte Hilfskräfte beschäftigt würden. Nach der Rechtsprechung sei nur die Beschäftigung einer solchen Hilfskraft zum Zwecke der Vertretung des Berufsträgers unschädlich. Das gelte auch für den Zusammenschluß mehrerer freier Berufsträger zu einer Gemeinschaft. Da die Bfin. zwei angestellte Lehrkräfte beschäftigt habe, habe sie die Grenzen der freien Berufstätigkeit überschritten. Auch die weitere Entwicklung der Schule zeige, daß das Unternehmen der Bfin. zu einem erheblichen Teil mit Hilfe fremder Arbeitskräfte geführt werden sollte; denn schon im folgenden Jahre 1956, dem zweiten Jahre des Bestehens der Gesellschaft, sei etwa die Hälfte des Unterrichts von fremden Hilfskräften erteilt worden.

Mit der Rb. wird insbesondere geltend gemacht, daß die Gesellschafter der Bfin. auf Grund ihres gesellschaftlichen Zusammenschlusses nicht schlechtergestellt werden dürften als sie stehen würden, wenn jeder allein seinen Beruf ausüben würde. Es könne daher, ohne daß dadurch die Grenzen der freien Berufstätigkeit überschritten würden, jedem der drei Gesellschafter aus Gründen der Vertretung eine qualifizierte Hilfskraft zur Seite gestellt werden.

Der Senat ist der Auffassung, daß die Vorinstanzen den Streitfall nach dem zur Zeit der Vorentscheidungen geltenden Recht zutreffend rechtlich gewürdigt haben. Der Streit geht um die von der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs, des Obersten Finanzgerichtshofs und des Bundesfinanzhofs entwickelte sogenannte Vervielfältigungstheorie (vgl. hierzu die in Abschn. 14 Abs. 2 GewStR aufgeführten Entscheidungen sowie die Entscheidung des Bundesfinanzhofs IV 668/55 U vom 7. November 1957, BStBl 1958 III S. 34, Slg. Bd. 66 S. 85, und die dort zitierten Urteile). Hiernach entfällt die Annahme einer - im wesentlichen auf der Arbeitskraft des Berufsträgers beruhenden - freien Berufstätigkeit im Sinne von § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG, und es tritt damit Gewerbesteuerpflicht ein, wenn die Tätigkeit nicht ausschließlich oder doch ganz überwiegend von dem Berufsträger selbst ausgeübt wird. Es darf demnach, wenn ein Berufsträger Mitarbeiter beschäftigt, grundsätzlich nicht mehr als ein Mitarbeiter eine Tätigkeit ausüben, die ihrer Art nach Aufgabe des freien Berufs ist (vgl. die Entscheidungen des Bundesfinanzhofs I 65/51 U vom 29. Januar 1952, BStBl 1952 III S. 99, Slg. Bd. 56 S. 252; I 98/54 U vom 23. Juli 1957, BStBl 1957 III S. 323, Slg. Bd. 65 S. 232; IV 668/55 U vom 7. November 1957, a. a. O.). Diese Grundsätze gelten nach Auffassung des Senats auch für eine Gemeinschaft, deren Tätigkeit ebenfalls gewerblichen Charakter annimmt, wenn mehrere qualifizierte Hilfskräfte beschäftigt werden und damit die Organisationsform verlassen wird, die bei der gemeinschaftlichen Ausübung eines freien Berufs durch mehrere Personen die gegebene ist, nämlich der Zusammenschluß jeweils selbständiger Berufsträger.

Der Senat würde demnach bei der rechtlichen Beurteilung des Streitfalles den Vorinstanzen folgen. Er sieht sich hieran jedoch durch das Steueränderungsgesetz (StändG) 1960 vom 30. Juli 1960 (BGBl 1960 I S. 616, BStBl 1960 I S. 514) gehindert. Durch dessen Art. 1 Ziff. 8 ist § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG neu gefaßt und durch die Anfügung der Sätze 3 und 4 die Vervielfältigungstheorie eingeschränkt worden. Das StändG 1960 ist am 6. August 1960 in Kraft getreten. Es bestimmt jedoch in Art. 2 Abs. 7 unter anderem, daß die neu angefügten Sätze 3 und 4 des § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG erstmals für den Veranlagungszeitraum 1955 anzuwenden sind, soweit nicht rechtskräftige Veranlagungen vorliegen. Nach dem Wortlaut des StändG kommt demnach die in § 18 Abs. 1 Ziff. 1 Sätze 3 und 4 EStG neuer Fassung enthaltene Einschränkung der Vervielfältigungstheorie rückwirkend auch für den Streitfall zur Anwendung. Das hätte, da nunmehr nach der gesetzlichen Neuregelung eine freiberufliche Tätigkeit auch bei Beschäftigung mehrerer qualifizierter Hilfskräfte gegeben sein kann, zur Folge, daß im Streitfalle, in dem die leitende und eigenverantwortliche Tätigkeit der Gesellschafter der Bfin. wohl kaum bestritten werden kann, die Bfin. im Gegensatz zu den Entscheidungen der Vorinstanz von der Gewerbesteuer freizustellen wäre, zumindest aber die Sache unter Aufhebung der Vorentscheidungen zurückverwiesen werden müßte zur Prüfung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 18 Abs. 1 Ziff. 1 Satz 3 zweiter Halbsatz gegeben sind. Die Entscheidung des Senats hängt somit von der Gültigkeit der Anordnung in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 ab. Der Senat hält diese Bestimmung für verfassungswidrig und daher für nichtig. Da es sich um nachkonstitutionelles Recht handelt, das in einem Gesetz im formellen Sinn enthalten ist, kann der Senat die Nichtigkeit dieser Bestimmung nicht selbst feststellen. Er hat daher gemäß Art 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) das Rechtsbeschwerdeverfahren auszusetzen und die Sache dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen.

II. -

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat seine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des Art. 2 Abs. 7 StändG 1960, die sich aus der ungleichmäßigen Behandlung der rechtskräftigen und der nicht rechtskräftigen Veranlagungsfälle ergeben, dem Bundesminister der Finanzen mitgeteilt. Der Bundesminister der Finanzen hat gemäß § 287 Ziff. 2 AO seinen Beitritt zum Verfahren erklärt. Er hält die Vorschrift für verfassungsmäßig. Die rückwirkende Inkraftsetzung der Sätze 3 und 4 des § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG in der Fassung des StändG 1960 sei dadurch veranlaßt gewesen, daß die Vervielfältigungstheorie ab 1955 von den Finanzämtern uneinheitlich angewendet worden sei. Die Beschränkung der Rückwirkung auf die noch nicht rechtskräftigen Fälle sei im Interesse der Rechtssicherheit erfolgt (Hinweis auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1 BvR 678/57 vom 12. Dezember 1957, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - BVerfGE - 7, 194, BStBl 1958 I S. 52). Da dem Gesetzgeber bekannt gewesen sei, daß die interessierten Berufsverbände ihre Mitglieder gebeten hätten, gegen die auf der Vervielfältigungstheorie beruhenden Gewerbesteuermeßbescheide Rechtsmittel einzulegen, habe man davon ausgehen dürfen, daß nur eine Minderzahl der einschlägigen Veranlagungen infolge ihrer Rechtskraft nicht von der rückwirkenden Gesetzesänderung erfaßt würden. Der Bundesminister der Finanzen hat hilfsweise um Prüfung, ob nicht dann, wenn die ungleichmäßige Behandlung der rechtskräftigen und der nicht rechtskräftigen Veranlagung verfassungswidrig erscheine, die Verfassungswidrigkeit auf den Nebensatz des Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 "soweit nicht rechtskräftige Veranlagungen vorliegen" zu beschränken sei.

III. -

Die gesetzliche Anordnung in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960, die der vorlegende Senat trotz der Ausführungen des Bundesministers der Finanzen für verfassungswidrig hält, lautet:

Die Vorschriften des Art. 1 Ziff. 8 sind ... hinsichtlich der Sätze 3 und 4 erstmals (sc. anzuwenden) für den Veranlagungszeitraum 1955 ..., soweit nicht rechtskräftige Veranlagungen vorliegen. Ein in der ungleichen Behandlung der rechtskräftigen und der nicht rechtskräftigen Veranlagungen begründeter Verfassungsverstoß würde, wie der Bundesminister der Finanzen in seiner Stellungnahme zutreffend ausführt, dann nicht zu einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG führen können, wenn dieser Verstoß lediglich die Nichtigkeit des letzten Halbsatzes des Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 ("soweit nicht rechtskräftige Veranlagungen vorliegen") zur Folge hätte. Der Senat ist jedoch der Auffassung, daß Art. 2 Abs. 7 StändG 1960, soweit er die rückwirkende Anwendung des § 18 Abs. 1 Ziff. 1 Sätze 3 und 4 EStG neuer Fassung anordnet, als Einheit betrachtet werden muß. Zwar kann auch nur ein Teil einer bestimmten Gesetzesvorschrift verfassungswidrig sein. Das ist dann möglich, wenn die Vorschrift sich in Teilinhalte zerlegen läßt, die Teilinhalte sich nicht gegenseitig bedingen und mit Sicherheit angenommen werden kann, daß der Gesetzgeber bei Beachtung des GG die Vorschrift in der nach Weglassung des nichtigen Teils sich ergebenden Fassung erlassen hätte (vgl. BVerfGE 8, 28 (37)). Es kann jedoch nicht mit Sicherheit festgestellt werden, daß der Gesetzgeber die in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 enthaltene begünstigende Rückwirkungsklausel auch ohne die Beschränkung auf die noch nicht rechtskräftigen Veranlagungen in das Gesetz aufgenommen hätte. Es würde daher nach Auffassung des Senats einen Eingriff in die gesetzgeberische Entschließungsfreiheit bedeuten, lediglich diese Beschränkung nicht als rechtswirksam anzuerkennen (vgl. BVerfGE 9, 250 (255)). Ist vielmehr die ungleichmäßige Behandlung der rechtskräftigen und der nicht rechtskräftigen Veranlagungen wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig, so ist die gesamte Rückwirkungsklausel nichtig. Damit aber ist die Frage der Gültigkeit der Rückwirkungsklausel für den vom Senat zu entscheidenden Fall entscheidungserheblich.

Der Senat erblickt in der Rückwirkungsklausel des Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und einen solchen gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit.

Der Gesetzgeber hat mit Art. 18 Abs. 1 Ziff. 1 Sätze 3 und 4 EStG neuer Fassung eine gegenüber dem bisherigen Rechtszustand für die Steuerpflichtigen günstigere Regelung getroffen. Dem Gesetzgeber steht es frei, begünstigende Regelungen mit rückwirkender Kraft auszugestalten. Die Rückwirkung ist hier, anders als bei rückwirkend belastenden Steuergesetzen (vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Dezember 1961 - 2 BvL 6/59 -, BStBl 1962 I S. 486), verfassungsrechtlich unbedenklich. Bedenken ergeben sich allein aus der in der Rückwirkungsklausel enthaltenen Differenzierung zwischen rechtskräftigen und nicht rechtskräftigen Veranlagungen (vgl. auch Ziff. 5 der Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf des StändG 1960, Drucksache 1811 des Deutschen Bundestages, dritte Wahlperiode, S. 15).

In dieser Differenzierung sieht der vorlegende Senat einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar mehrfach betont, daß der Gleichheitssatz ein den Gesetzgeber bindendes Willkürverbot enthalte dergestalt, daß eine Norm nur dann gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße, wenn ein sachlicher Grund für die in der Norm enthaltene ungleiche Behandlung schlechterdings nicht erkennbar sei, und daß daher nur die Einhaltung der äußersten Grenzen der gesetzgeberischen Freiheit am Gleichheitssatz zu messen sei (vgl. BVerfGE 9, 334 (337), und die dort angeführten Entscheidungen). Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch in neueren Entscheidungen (vgl. Urteil vom 24. Januar 1962 - 1 BvR 845/58 -, BStBl 1962 I S. 500) dem gesetzgeberischen Ermessen offensichtlich engere Grenzen als bisher gesetzt (vgl. auch Falk, Deutsche Steuer-Zeitung, Ausgabe A 1962 S. 99, 101 in Fußnote 6). Hiernach müssen einleuchtende Gründe für die Ungleichbehandlung geltend gemacht werden können. In dieser Hinsicht ist der vorlegende Senat der Auffassung, daß ein sachlicher Grund für die unterschiedliche Behandlung der rechtskräftigen und der nicht rechtskräftigen Veranlagungen in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 nicht erkennbar ist. Der Gesetzgeber stand auch nicht, wie im Fall der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Dezember 1957 (BVerfGE 7, 194), vor der Wahl, ob dem Gleichheitssatz oder dem Grundsatz der Rechtssicherheit der Vorzug zu geben sei.

Der Unterschied beider Fälle liegt zunächst darin, daß im Gegensatz zu hier der Gesetzgeber damals die für die noch nicht rechtskräftigen Veranlagungen bestehende Rechtslage überhaupt nicht verändert hat. Er hat lediglich die Lücke, die durch die Nichtigerklärung des § 26 EStG alter Fassung durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 6, 55) im Gesetz entstanden war, durch die sogenannte Neuregelung der Ehegattenbesteuerung geschlossen. Er hat nicht einen bestehenden Rechtszustand für die nicht rechtskräftigen Fälle unter Ausschluß der rechtskräftigen Fälle rückwirkend geändert, sondern ihn lediglich im Wortlaut des Gesetzes zum Ausdruck gebracht. Die Andersbehandlung der rechtskräftigen Veranlagungen im Fall der Neuregelung der Ehegattenbesteuerung war nur eine Bestätigung der Rechtslage, wie sie sich auf Grund der Grundsatzregelung in § 79 Abs. 2 Satz 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) ergeben hatte, und von der abzuweichen der Gesetzgeber nach der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Dezember 1957 nicht gehalten war. Ganz anders zu würdigen ist das Vorgehen des Gesetzgebers im Zusammenhang mit der hier zu Entscheidung gestellten Regelung in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960. Hier hat der Gesetzgeber aus freien Stücken, mag dies auch aus sachlichen Gründen veranlaßt gewesen sein, einen seit Jahrzehnten bestehenden und verfassungsmäßig einwandfreien Rechtszustand rückwirkend geändert. Hier aber ist kein sachlicher Grund dafür erkennbar, warum der Gesetzgeber die rechtskräftigen Fälle nicht in die für die Steuerpflichtigen günstigere Rückwirkung mit einbezogen und die Steuerpflichtigen dadurch benachteiligt hat. Die Regelung im § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG hat in diesem Zusammenhang keine Bedeutung.

Es kommt hinzu, daß bei der Neuregelung der Ehegattenbesteuerung im EStG 1957 die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Gerechtigkeit in Widerstreit lagen. Die Zahl der rechtskräftigen Veranlagungen, die auf dem für nichtig erklärten § 26 EStG beruhten, war unübersehbar, so daß eine Wiederaufrollung all dieser Fälle die Rechtssicherheit in der Tat erschüttert hätte. Hier konnte der Gesetzgeber sich, ohne gegen die verfassungsmäßige Ordnung zu verstoßen, unter Hintansetzung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung für die Wahrung der Rechtssicherheit entscheiden. Das betont die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Dezember 1957 ausdrücklich. Bei der Neuregelung des § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG hingegen ist die vom Bundesminister der Finanzen vorgetragene und auch dem Bundestag bekannte Tatsache zu beachten, daß die Zahl der ab 1955 auf Grund der bisherigen Vervielfältigungstheorie des Bundesfinanzhofs rechtskräftig veranlagten Fälle verschwindend gering ist (vgl. zu Drucksache 1941 des Deutschen Bundestages, dritte Wahlperiode, S. 5). Damit aber kann die unter Verstoß gegen den Gleichheitssatz erfolgte Nichteinbeziehung dieser Fälle nicht mit dem Hinweis auf den Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt werden. Auch einen anderen einleuchtenden Grund für diese Ungleichbehandlung vermag der Senat nicht zu erkennen. Die in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 getroffene Regelung, wonach die rechtskräftig veranlagten Fälle an der begünstigenden Rückwirkung nicht teilhaben, verletzt daher den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

Die Rückwirkungsklausel in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 verstößt mit ihrem Ausschluß der rechtskräftigen Fälle nach Auffassung des vorlegenden Senats sogar gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, der als wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 7, 194 (196); 7, 89 (92)) und des Bundesfinanzhofs (vgl. Grimm, Besteuerung und Grundgesetz, Schäffer & Co. GmbH, Stuttgart 1959, S. 40) Verfassungsrang hat. Der Grundsatz der Rechtssicherheit erfordert, daß das Vertrauen des Staatsbürgers auf den Bestand der Gesetze und die Rechtmäßigkeit der im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Bestimmungen ergehenden Hoheitsakte geschützt wird (vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Dezember 1961 - 2 BvL 6/59 -, a. a. O.). Diesen Vertrauensschutz stört die rückwirkende Regelung in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 in erheblicher Weise, wenn sie die rechtskräftigen Fälle von der nachträglich für die Jahre ab 1955 gewährten Vergünstigung ausschließt. Steuerpflichtige, die ihre auf der Vervielfältigungstheorie beruhenden Veranlagungen zur Gewerbesteuer haben rechtskräftig werden lassen, sehen sich in ihrem Vertrauen in die gesetzliche Regelung und deren bisherige Auslegung getäuscht. Die Steuerpflichtigen werden hierdurch geradezu angeregt, gegen sie ergangene Steuerbescheide möglichst nicht mehr rechtskräftig werden zu lassen. Rechtsunsicherheit, Rechtsunfrieden und Streitsucht wären die Folge. Der Senat gelangt daher auch deshalb, weil die ungleichmäßige Behandlung der rechtskräftigen und der nicht rechtskräftigen Veranlagungen in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 die Rechtssicherheit in bedenklicher Weise gefährdet, zu dem Ergebnis, daß diese Bestimmung verfassungswidrig ist.

Auf die Vorlage hin ist es dem Bundesverfassungsgericht nicht möglich, von sich aus die begünstigende Rückwirkungsklausel des Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 auch auf die rechtskräftigen Fälle auszudehnen, also (an Stelle des Gesetzgebers) einen anderen Gesetzeswortlaut festzulegen (vgl. BVerfGE 8, 28 (36); 9, 250 (255)). Auch ein verfassungswidriges Unterlassen des Gesetzgebers kann - da ein entsprechender Verfassungsauftrag nicht besteht - nicht festgestellt werden. Wegen des vom Senat angenommenen Verstoßes gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit kann die Rückwirkungsklausel nur im ganzen für nichtig erklärt werden. Der Gesetzgeber selbst ist aber in der Lage, durch eine neue gesetzliche Regelung auch die bisher benachteiligten rechtskräftigen Fälle in die begünstigende Rückwirkung mit einzubeziehen. Ein rückwirkender Eingriff des Gesetzgebers in die Rechtskraft, vor allem, wenn dies dem Steuerpflichtigen günstig ist, ist möglich. Als Beispiel hierfür diene § 74 Abs. 2 Satz 3 des D-Markbilanzgesetzes in der Fassung des § 12 Ziff. 11 des Dritten D-Markbilanzergänzungsgesetzes vom 21. Juni 1955 (BGBl 1955 I S. 297, BStBl 1955 I S. 222).

 

Fundstellen

BStBl III 1962, 359

BFHE 1963, 255

BFHE 75, 255

StRK, R 1

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