Vorlage an das BVerfG zur Tonnagebesteuerung

Es wird eine Entscheidung des BVerfG darüber eingeholt, ob § 52 Abs. 10 Satz 4 EStG i. d. F. des Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetzes (AbzStEntModG) vom 2.6.2021 (BGBl I 2021, S. 1259) gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot verstößt, soweit diese Vorschrift die rückwirkende Anwendung des § 5a Abs. 4 Satz 5 und 6 EStG i. d. F. des AbzStEntModG für Wirtschaftsjahre anordnet, die nach dem 31.12.1998 beginnen.

Hintergrund: Maßgebende Gesetzesvorurschriften

§ 5a EStG räumt dem Steuerpflichtigen ein Wahlrecht ein, statt der Gewinnermittlung gemäß § 4 Abs. 1, § 5 EStG (Betriebsvermögensvergleich) eine pauschale Gewinnermittlung nach der Tonnage durchzuführen. Es handelt sich nicht um eine besondere Steuer, sondern um eine besondere Art der Gewinnermittlung, die nur für den Betrieb von Handelsschiffen im internationalen Verkehr vorgesehen ist.

Die Folgen des Übergangs von der Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich zur Gewinnermittlung nach der Tonnage und umgekehrt sind insbesondere in § 5a Abs. 4 EStG geregelt. Mit dieser Regelung hat sich der Gesetzgeber beim Übergang zur Gewinnermittlung nach der Tonnage gegen eine sofortige Besteuerung der stillen Reserven und für deren aufgeschobene Besteuerung entschieden.

Durch die Ermittlung und Feststellung des Unterschiedsbetrags nach § 5a Abs. 4 Satz 1 und 2 EStG wird sichergestellt, dass die bis zum Wechsel der Gewinnermittlungsart entstandenen stillen Reserven erfasst und später – bei Vorliegen einer der in Satz 3 Nr. 1 bis 3 genannten Hinzurechnungstatbestände – der Besteuerung unterworfen werden.

Der Gesetzgeber hat in Reaktion auf die Rechtsprechung des BFH, wonach der Begriff des Ausscheidens in § 5a Abs. 4 Satz 3 Nr. 3 EStG jedes Ausscheiden eines Gesellschafters, d. h. jeden Verlust der (unmittelbaren) Mitunternehmerstellung, unabhängig davon, ob der Gesellschafter unentgeltlich oder entgeltlich, im Wege der Einzel- oder der Gesamtrechtsnachfolge ausscheidet, § 5a Abs. 4 EStG durch das AbzStEntModG mit rückwirkender Geltung (vgl. § 52 Abs. 10 Satz 4 EStG i. d. F. des AbzStEntModG) u. a. dahin ergänzt, dass der Unterschiedsbetrag im Fall der unentgeltlichen Übertragung des Mitunternehmeranteils auf den Rechtsnachfolger übergeht.

Sachverhalt: Schenkweise Übertragung eines Kommanditanteils an Schifffahrtsgesellschaft

Die Klägerin erwarb ihren Kommanditanteil an der Schifffahrtsgesellschaft C-GmbH & Co. KG (KG) durch Schenkungen ihrer Eltern in den Jahren 2003 und 2007. Seitdem wurde der festgestellte Unterschiedsbetrag i. S. d. § 5a Abs. 4 EStG bei ihr als Rechtsnachfolgerin i. H. v. 49.635,44 EUR fortgeführt. Am 25.4.2012 beschloss die KG ihre Liquidation und veräußerte im Jahr 2013 das Seeschiff. Im Jahr 2021 wurde im Handelsregister eingetragen, dass die Liquidation beendet und die Firma erloschen sei.

Die Feststellungserklärung der KG für das Jahr 2013 ging beim Finanzamt (FA) am 15.1.2015 ein. In dem für die KG unter Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen Gewinnfeststellungsbescheid für 2013 rechnete das FA den laufenden Einkünften der Klägerin einen nach § 5a Abs. 4 Satz 3 EStG in der zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung aufgelösten Unterschiedsbetrag i. S. d. § 5a Abs. 4 Satz 1 EStG i. H. v. 49.635,44 EUR hinzu.

Im Jahr 2018 stellte die Klägerin einen Antrag auf Änderung des Gewinnfeststellungsbescheids 2013 mit dem Ziel, ihr den aufgelösten Unterschiedsbetrag nicht zuzurechnen. Zur Begründung führte sie aus, dass der Unterschiedsbetrag infolge der unentgeltlichen Übertragungen bereits bei den Schenkern in früheren Feststellungszeiträumen hätte aufgelöst werden müssen.

Das FA vertrat die Auffassung, dass der Unterschiedsbetrag bei der Klägerin gewinnerhöhend aufzulösen sei. Denn der Gesetzgeber habe § 5a Abs. 4 EStG durch das AbzStEntModG mit rückwirkender Geltung u. a. dahin ergänzt, dass der Unterschiedsbetrag im Fall der unentgeltlichen Übertragung des Mitunternehmeranteils auf den Rechtsnachfolger übergehe. Damit sei der Rechtsprechung des BFH, nach welcher der Unterschiedsbetrag bereits bei den Eltern im Jahr ihres Ausscheidens aus der Schifffahrtsgesellschaft gewinnerhöhend hätte aufgelöst werden müssen, der Boden entzogen und die bisherige langjährige Verwaltungspraxis gesetzlich verankert worden.

FG weist Klage als unbegründet ab

Zur Begründung führte das FG im Wesentlichen aus, dass nach § 5a Abs. 4 Satz 5 und 6 EStG n. F. der Unterschiedsbetrag auf die Klägerin als Rechtsnachfolgerin übergegangen sei. Folgerichtig habe das FA den Unterschiedsbetrag bei der Klägerin im Streitjahr wegen der Veräußerung des Seeschiffs berücksichtigt. Die Neuregelungen seien im Streitjahr anzuwenden, weil die in § 52 Abs. 10 Satz 4 EStG n. F. angeordnete rückwirkende Geltung vorbezeichneter Vorschriften nicht gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot verstoße. Es liege kein Fall einer echten Rückwirkung vor. Denn der Gesetzgeber stelle mittels § 5a Abs. 4 Satz 5 bis 7, § 52 Abs. 10 Satz 4 EStG n. F. lediglich sicher, dass die bestehende, über Jahrzehnte geübte Verwaltungspraxis formal in Gesetzesform gegossen worden und für alle Wirtschaftsjahre nach dem 31.12.1998 anwendbar sei.

Entscheidung: BFH holt Entscheidung des BVerfG ein

Infolge der vom vorlegenden Senat angenommenen Verfassungswidrigkeit des § 52 Abs. 10 Satz 4 EStG n. F. ist das Revisionsverfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG i. V. m. § 80 Abs. 1 BVerfGG auszusetzen und eine Entscheidung des BVerfG einzuholen.

Nach Überzeugung des vorlegenden Senats verstößt § 52 Abs. 10 Satz 4 EStG n. F. gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot (Art. 20 Abs. 3 GG), soweit diese Vorschrift die rückwirkende Anwendung des § 5a Abs. 4 Satz 5 und 6 EStG n. F. für Wirtschaftsjahre anordnet, die nach dem 31.12.1998 beginnen.

Die in § 52 Abs. 10 Satz 4 EStG n. F. angeordnete rückwirkende Geltung des § 5a Abs. 4 Satz 5 und 6 EStG n. F. ist nach Überzeugung des vorlegenden Senats verfassungswidrig. Diese Regelung stelle für das Streitjahr 2013 sowohl in formaler als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht eine echte Rückwirkung beziehungsweise Rückbewirkung von Rechtsfolgen dar. Diese sei verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.

Die im Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes stünden belastenden Gesetzen mit echter Rückwirkung beziehungsweise Rückbewirkung von Rechtsfolgen grundsätzlich entgegen. Von diesem grundsätzlichen Verbot echt rückwirkender Gesetze würden zwar Ausnahmen bestehen. Das Rückwirkungsverbot finde im Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze. Es gelte nicht, soweit sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts habe bilden können oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig gewesen sei. Bei den in der Rechtsprechung des BVerfG anerkannten, nicht abschließend definierten Fallgruppen handele es sich um Typisierungen ausnahmsweise fehlenden Vertrauens in eine bestehende Gesetzeslage. Vorliegend liege jedoch keine der bisher vom BVerfG anerkannten Fallgruppen zulässigerweise echt rückwirkender Gesetze vor.

Festschreibung der bisherigen Verwaltungsauffassung rechtfertigt Rückwirkung nicht

Zwar habe es über einen langen Zeitraum eine einheitliche Verwaltungspraxis gegeben, die bei unentgeltlichen Übertragungen inhaltlich der jetzt rückwirkend in Kraft gesetzten Neuregelung entspreche. Nach Auffassung des vorlegenden Senats könne eine – das Vertrauen des Bürgers in die Geltung eines Gesetzes zerstörende – einheitliche „Rechtsüberzeugung“ nicht gegeben sein, solange die in Rede stehende Verwaltungspraxis keine Zustimmung durch die Rechtsprechung erfahren habe.

Hinweis: Weitere Vorlage an BVerfG

Das FG Hamburg (Vorlagebeschluss vom 24.11.2022, 6 K 68/21, EFG 2023, S. 550, Az. beim BVerfG: 2 BvL 5/23) ist ebenfalls davon überzeugt, dass § 52 Abs. 10 Satz 4 EStG verfassungswidrig ist, weil diese Regelung eine unzulässige echte Rückwirkung (Rückbewirkung von Rechtsfolgen) für § 5a Abs. 4 Sätze 5, 6 und 7 EStG zu Lasten der Steuerpflichtigen darstellt. Es liegt – so das FG – keine der vom BVerfG anerkannten Fallgruppen zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der (echten) Rückwirkung vor.

BFH, Beschluss v. 19.10.2023, IV R 13/22; veröffentlicht am 1.2.2024

Alle am 1.2.2024 veröffentlichten Entscheidungen des BFH mit Kurzkommentierungen


Schlagworte zum Thema:  Gewinnermittlung, Verfassungsrecht