Leitsatz (amtlich)

Der IV. Senat tritt der Auffassung des I. Senats des Bundesfinanzhofs im Beschluß I 149/60 U vom 3. April 1962 (BStBl 1962 III S. 359) bei, daß die Bestimmung des Art. 2 Abs. 7 StändG 1960, der zufolge rechtskräftige und nicht rechtskräftige Steuerveranlagungen unterschiedlich behandelt werden, mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar ist.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3

 

Tatbestand

Der - inzwischen verstorbene - Bf. war freischaffender Architekt. Ab 1951 hat er von Dienststellen der Besatzungsmacht große Bauaufträge, insbesondere für Wohn- und Siedlungsbauten, erhalten. Er hatte die Planung, Skizzen, Vorentwürfe und Zeichnungen auszuarbeiten; außerdem wurde ihm die Bauleitung und Bauüberwachung übertragen. Zur Durchführung dieser Arbeiten benötigte der Bf. ständig eine größere Zahl von Mitarbeitern. Im Jahre 1954 hat er nach der Angabe seines Bevollmächtigten 150 bis 160 Hilfskräfte beschäftigt, von denen allerdings viele nur einige Wochen oder Monate bei ihm gearbeitet haben. Während des ganzen Jahres 1954 arbeiteten etwa 25 bis 30 Hilfskräfte bei ihm. Nach einer im Mai 1955 vom Finanzamt getroffenen Feststellung bestand der damalige Mitarbeiterstab des Bf. aus 74 Kräften, darunter 4 Architekten, 10 Diplom-Ingenieuren und 26 Hoch- und Tiefbau-, Vermessungs- und Heizungsingenieuren.

Das Finanzamt hat die Tätigkeit des Bf. für die Streitjahre wegen der außergewöhnlich großen Zahl von Mitarbeitern als gewerblich angesehen und gegen ihn Gewerbesteuermeßbescheide erlassen.

Im Rechtsmittelverfahren hat der Bf. bestritten, daß durch die Verwendung der Hilfskräfte seine Arbeitskraft vervielfältigt und damit nach der Rechtsprechung seine Gewerbesteuerpflicht begründet worden sei. Er allein fertige die Planungen, Skizzen und Vorentwürfe und zeichne verantwortlich für diese Arbeiten; er sei in der Lage, sie ohne Hinzuziehung besonders hochwertiger Fachkräfte zu bewältigen. Von ihm als Architekten werde eine große schöpferische Leistung verlangt, die durch Hilfskräfte weder ersetzt noch vervielfältigt werden könne. Schon die Höhe der gezahlten Gehälter (zwischen 200 DM und 600 DM monatlich) zeige, daß es sich nicht um hochqualifizierte Kräfte handele.

Das Finanzgericht hat die Berufung (für 1955 Sprungberufung) als unbegründet zurückgewiesen. Die Heranziehung des Bf. zur Gewerbesteuer entspreche der zur Frage der steuerschädlichen Vervielfältigung der Arbeitskraft des freien Berufsträgers durch Verwendung qualifizierter Hilfskräfte entwickelten höchstrichterlichen Rechtsprechung.

Im Rechtsbeschwerdeverfahren hat der Bf. geltend gemacht, daß seine Gewerbesteuerpflicht zum mindesten für 1955 zu verneinen sei, da das Steueränderungsgesetz (StändG) 1960 vom 30. Juli 1960 (BGBl 1960 I S. 616, BStBl 1960 I S. 514) durch die bei § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG neu angefügten Sätze 3 und 4 eine Gesetzesänderung gebracht habe, die auf nicht rechtskräftige Veranlagungen rückwirkend ab 1955 anzuwenden sei. Hinsichtlich des Erhebungszeitraumes 1954 schließe die frühere Rechtsprechung seine Freistellung von der Gewerbesteuer nicht grundsätzlich aus.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat ist der Auffassung, daß die Vorinstanzen den Streitfall nach dem vor Erlaß des StändG 1960 geltenden Recht zutreffend rechtlich gewürdigt haben. Der Streit geht um die von der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs, des Obersten Finanzgerichtshofs und des Bundesfinanzhofs entwickelte sogenannte Vervielfältigungstheorie (vgl. hierzu die in Abschn. 14 Abs. 2 GewStR 1955 aufgeführten Entscheidungen sowie die Entscheidung des Bundesfinanzhofs IV 668/55 U vom 7. November 1957, BStBl 1958 III S. 34, Slg. Bd. 66 S. 85, und die dort zitierten Urteile). Hiernach entfällt die Annahme einer - im wesentlichen auf der Arbeitskraft des Berufsträgers beruhenden - freien Berufstätigkeit im Sinne von § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG und es tritt damit Gewerbesteuerpflicht ein, wenn die Tätigkeit nicht ausschließlich oder doch ganz überwiegend von dem Berufsträger selbst ausgeübt wird. Es darf demnach, wenn ein Berufsträger Mitarbeiter beschäftigt, grundsätzlich nicht mehr als ein Mitarbeiter eine Tätigkeit ausüben, die ihrer Art nach Aufgabe des freien Berufs ist (vgl. die Entscheidungen des Bundesfinanzhofs I 65/51 U vom 29. Januar 1952, BStBl 1952 III S. 99, Slg. Bd. 56 S. 252; I 98/54 U vom 23. Juli 1957, BStBl 1957 III S. 323, Slg. Bd. 65 S. 232 IV 668/55 U vom 7. November 1957, a. a. O.).

Für Architekten ist weiter auf das Urteil des Senats IV 110/51 U vom 26. September 1951 (BStBl 1951 III S. 204, Slg. Bd. 55 S. 502) hinzuweisen. Dort ist auch zur Anordnung in Abschn. 4 Abs. 3 GewStR 1943 Stellung genommen, die inhaltlich in Abschn. 14 Abs. 4 der späteren GewStR übernommen worden ist. Sie lautet in letztgenannter Fassung dahin, daß es bei baukünstlerisch tätigen Architekten, die für die Durchführung eines großen und schwierigen Bauauftrages auf die Hilfe hochqualifizierter Hilfskräfte angewiesen seien, dem Zweck des § 18 EStG widersprechen würde, wenn sie wegen der Beschäftigung dieser Mitarbeiter nicht mehr als freie Berufsträger angesehen werden würden. Nach dem vorgenannten Urteil handelt es sich dabei um keinen von den Steuergerichten zu beachtenden Milderungserlaß, so daß diese nicht in der Lage sind, hieraus eine Gewerbesteuerbefreiung abzuleiten (vgl. auch über den Charakter der GewStR nunmehr die Ausführungen in Abschn. 1 der Richtlinien ab 1951). Dementsprechend ist in dem ebenfalls einen Architekten betreffenden Urteil des Bundesfinanzhofs I 87/58 S vom 2. Juni 1959 (BStBl 1959 III S. 334, Slg. Bd. 69 S. 191) trotz Vorliegens von Großaufträgen die Beschäftigung einer Mehrzahl von vorgebildeten Hilfskräften als Bauleiter für steuerschädlich, d. h. die Gewerbesteuerpflicht des Architekten begründend, angesehen worden. Auch der Bf. hat, wie aus den Akten hervorgeht, in den Streitjahren eine große Anzahl von als Bauingenieure vorgebildeten Hilfskräften mit der Tätigkeit eines Bauleiters betraut.

Eine andere rechtliche Beurteilung der Frage der Gewerbesteuerpflicht eines freien Berufsträgers bei Beschäftigung vorgebildeter Hilfskräfte ergibt sich aus den oben erwähnten, durch das StändG 1960 bei § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG angefügten Sätzen 3 und 4. Darin heißt es: "Ein Angehöriger eines freien Berufs im Sinne der Sätze 1 und 2 ist auch dann freiberuflich tätig, wenn er sich der Mithilfe fachlich vorgebildeter Arbeitskräfte bedient; Voraussetzung ist, daß er auf Grund eigener Fachkenntnisse leitend und eigenverantwortlich tätig wird. Eine Vertretung im Fall vorübergehender Verhinderung steht der Annahme einer leitenden und eigenverantwortlichen Tätigkeit nicht entgegen." Wegen der in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 angeordneten Rückwirkung dieser Gesetzesergänzung auf nicht rechtskräftige Veranlagungen ab 1955 wäre im vorliegenden Fall - die Rechtsgültigkeit dieser Anordnung vorausgesetzt - der Erhebungszeitraum 1955 nach der neuen Rechtslage zu beurteilen. Dies hätte, da die leitende und eigenverantwortliche Tätigkeit des Bf. wohl kaum bestritten werden kann, seine Freistellung von der Gewerbesteuer 1955 zur Folge.

Der Senat sieht sich jedoch an der Anwendung des neuen Rechtes auf den Erhebungszeitraum 1955 gehindert, weil er die erwähnte Anordnung in Art. 2 Abs. 7 StändG für verfassungswidrig und daher für nichtig erachtet. Da es sich um nachkonstitutionelles Recht handelt, das in einem Gesetz im formellen Sinn enthalten ist, kann der Senat die Nichtigkeit dieser Bestimmung nicht selbst feststellen. Er hat daher gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) das Rechtsbeschwerdeverfahren auszusetzen und die Sache dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen.

Der Senat befindet sich damit in übereinstimmung mit der Auffassung des I. Senats des Bundesfinanzhofs in dessen Vorlagebeschluß I 149/60 U vom 3. April 1962. Der I. Senat hat darin seine Rechtsansicht wie folgt begründet:

"1. Die gesetzliche Anordnung in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960, die der vorlegende Senat trotz der Ausführungen des Bundesministers der Finanzen für verfassungswidrig hält, lautet:

Die Vorschriften des Art. 1 Ziff. 8 sind ... hinsichtlich der Sätze 3 und 4 erstmals (sc. anzuwenden) für den Veranlagungszeitraum 1955 ..., soweit nicht rechtskräftige Veranlagungen vorliegen.

Ein in der ungleichen Behandlung der rechtskräftigen und der nicht rechtskräftigen Veranlagungen begründeter Verfassungsverstoß würde ... dann nicht zu einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG führen können, wenn dieser Verstoß lediglich die Nichtigkeit des letzten Halbsatzes des Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 ("soweit nicht rechtskräftige Veranlagungen vorliegen") zur Folge hätte. Der Senat ist jedoch der Auffassung, daß Art. 2 Abs. 7 StändG 1960, soweit er die rückwirkende Anwendung des § 18 Abs. 1 Ziff. 1 Sätze 3 und 4 EStG neuer Fassung anordnet, als Einheit betrachtet werden muß. Zwar kann auch nur ein Teil einer bestimmten Gesetzesvorschrift verfassungswidrig sein. Das ist dann möglich, wenn die Vorschrift sich in Teilinhalte zerlegen läßt, die Teilinhalte sich nicht gegenseitig bedingen und mit Sicherheit angenommen werden kann, daß der Gesetzgeber bei Beachtung des GG die Vorschrift in der nach Weglassung des nichtigen Teils sich ergebenden Fassung erlassen hätte (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - BVerfGE - 8, 28 (37)). Es kann jedoch nicht mit Sicherheit festgestellt werden, daß der Gesetzgeber die in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 enthaltene begünstigende Rückwirkungsklausel auch ohne die Beschränkung auf die noch nicht rechtskräftigen Veranlagungen in das Gesetz aufgenommen hätte. Es würde daher nach Auffassung des Senats einen Eingriff in die gesetzgeberische Entschließungsfreiheit bedeuten, lediglich diese Beschränkung nicht als rechtswirksam anzuerkennen (vgl. BVerfGE 9, 250 (255)). Ist vielmehr die ungleichmäßige Behandlung der rechtskräftigen und der nicht rechtskräftigen Veranlagungen wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig, so ist die gesamte Rückwirkungsklausel nichtig. Damit aber ist die Frage der Gültigkeit der Rückwirkungsklausel für den vom Senat zu entscheidenden Fall entscheidungserheblich.

Der Senat erblickt in der Rückwirkungsklausel des Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und einen solchen gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit.

Der Gesetzgeber hat mit Art. 18 Abs. 1 Ziff. 1 Sätze 3 und 4 EStG neuer Fassung eine gegenüber dem bisherigen Rechtszustand für die Steuerpflichtigen günstigere Regelung getroffen. Dem Gesetzgeber steht es frei, begünstigende Regelungen mit rückwirkender Kraft auszugestalten. Die Rückwirkung ist hier, anders als bei rückwirkend belastenden Steuergesetzen (vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Dezember 1961 - 2 BvL 6/59 -, BStBl 1962 I S. 486), verfassungsrechtlich unbedenklich. Bedenken ergeben sich allein aus der in der Rückwirkungsklausel enthaltenen Differenzierung zwischen rechtskräftigen und nicht rechtskräftigen Veranlagungen (vgl. auch Ziff. 5 der Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf des StändG 1960, Drucksache 1811 des Deutschen Bundestags, dritte Wahlperiode, S. 15).

In dieser Differenzierung sieht der vorlegende Senat einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar mehrfach betont, daß der Gleichheitssatz ein den Gesetzgeber bindendes Willkürverbot enthalte dergestalt, daß eine Norm nur dann gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße, wenn ein sachlicher Grund für die in der Norm enthaltene ungleiche Behandlung schlechterdings nicht erkennbar sei, und daß daher nur die Einhaltung der äußersten Grenzen der gesetzgeberischen Freiheit am Gleichheitssatz zu messen sei (vgl. BVerfGE 9, 334 (37), und die dort angeführten Entscheidungen). Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch in neueren Entscheidungen (vgl. Urteil vom 14. Januar 1962 - 1 BvR 845/58 -, BStBl 1962 I S. 500) dem gesetzgeberischen Ermessen offensichtlich engere Grenzen als bisher gesetzt (vgl. auch Falk, Deutsche Steuer-Zeitung, Ausgabe A, 1962 S. 99, 101 in Fußnote 6). Hiernach müssen einleuchtende Gründe für die Ungleichbehandlung geltend gemacht werden können. In dieser Hinsicht ist der vorliegende Senat der Auffassung, daß ein sachlicher Grund für die unterschiedliche Behandlung der rechtskräftigen und der nicht rechtskräftigen Veranlagungen in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 nicht erkennbar ist. Der Gesetzgeber stand auch nicht, wie im Fall der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Dezember 1957 (BVerfGE 7, 194), vor der Wahl, ob dem Gleichheitssatz oder dem Grundsatz der Rechtssicherheit der Vorzug zu geben sei.

Der Unterschied beider Fälle liegt zunächst darin, daß im Gegensatz zu hier der Gesetzgeber damals die für die noch nicht rechtskräftigen Veranlagungen bestehende Rechtslage überhaupt nicht verändert hat. Er hat lediglich die Lücke, die durch die Nichtigerklärung des § 26 EStG alter Fassung durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 6, 55) im Gesetz entstanden war, durch die sogenannte Neuregelung der Ehegattenbesteuerung geschlossen. Er hat nicht einen bestehenden Rechtszustand für die nicht rechtskräftigen Fälle unter Ausschluß der rechtskräftigen Fälle rückwirkend geändert, sondern ihn lediglich im Wortlaut des Gesetzes zum Ausdruck gebracht. Die Andersbehandlung der rechtskräftigen Veranlagungen im Fall der Neuregelung der Ehegattenbesteuerung war nur eine Bestätigung der Rechtslage, wie sie sich auf Grund der Grundsatzregelung in § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) ergeben hatte, und von der abzuweichen der Gesetzgeber nach der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Dezember 1957 nicht gehalten war. Ganz anders zu würdigen ist das Vorgehen des Gesetzgebers im Zusammenhang mit der hier zur Entscheidung gestellten Regelung in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960. Hier hat der Gesetzgeber aus freien Stücken, mag dies auch aus sachlichen Gründen veranlaßt gewesen sein, einen seit Jahrzehnten bestehenden und verfassungsmäßig einwandfreien Rechtszustand rückwirkend geändert. Hier aber ist kein sachlicher Grund dafür erkennbar, warum der Gesetzgeber die rechtskräftigen Fälle nicht in die für die Steuerpflichtigen günstigere Rückwirkung mit einbezogen und die Steuerpflichtigen dadurch benachteiligt hat. Die Regelung in § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG hat in diesem Zusammenhang keine Bedeutung.

Es kommt hinzu, daß bei der Neuregelung der Ehegattenbesteuerung im EStG 1957 die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Gerechtigkeit in Widerstreit lagen. Die Zahl der rechtskräftigen Veranlagungen, die auf dem für nichtig erklärten § 26 EStG beruhten, war unübersehbar, so daß eine Wiederaufrollung all dieser Fälle die Rechtssicherheit in der Tat erschüttert hätte. Hier konnte der Gesetzgeber sich, ohne gegen die verfassungsmäßige Ordnung zu verstoßen, unter Hintansetzung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung für die Wahrung der Rechtssicherheit entscheiden. Das betont die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Dezember 1957 ausdrücklich. Bei der Neuregelung des § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG hingegen ist die ... auch dem Bundestag bekannte Tatsache zu beachten, daß die Zahl der ab 1955 auf Grund der bisherigen Vervielfältigungstheorie des Bundesfinanzhofs rechtskräftig veranlagten Fälle verschwindend gering ist (vgl. zu Drucksache 1941 des Deutschen Bundestags, dritte Wahlperiode, S. 5). Damit aber kann die unter Verstoß gegen den Gleichheitssatz erfolgte Nichteinbeziehung dieser Fälle nicht mit dem Hinweis auf den Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt werden. Auch einen anderen einleuchtenden Grund für diese Ungleichbehandlung vermag der Senat nicht zu erkennen. Die in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 getroffene Regelung, wonach die rechtskräftig veranlagten Fälle an der begünstigenden Rückwirkung nicht teilhaben, verletzt daher den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

Die Rückwirkungsklausel in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 verstößt mit ihrem Ausschluß der rechtskräftigen Fälle nach Auffassung des vorlegenden Senats sogar gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, der als wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 7, 194 (196); 7, 89 (92)) und des Bundesfinanzhofs (vgl. Grimm, Besteuerung und Grundgesetz, Schäffer & Co. GmbH, Stuttgart 1959 S. 40) Verfassungsrang hat. Der Grundsatz der Rechtssicherheit erfordert, daß das Vertrauen des Staatsbürgers auf den Bestand der Gesetze und die Rechtmäßigkeit der im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Bestimmungen ergehenden Hoheitsakte geschützt wird (vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Dezember 1961 - 2 BvL 6/59 -, a. a. O.). Diesen Vertrauensschutz stört die rückwirkende Regelung in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 in erheblicher Weise, wenn sie die rechtskräftigen Fälle von der nachträglich für die Jahre ab 1955 gewährten Vergünstigung ausschließt. Steuerpflichtige, die ihre auf der Vervielfältigungstheorie beruhenden Veranlagungen zur Gewerbesteuer haben rechtskräftig werden lassen, sehen sich in ihrem Vertrauen in die gesetzliche Regelung und deren bisherige Auslegung getäuscht. Die Steuerpflichtigen werden hierdurch geradezu angeregt, gegen sie ergangene Steuerbescheide möglichst nicht mehr rechtskräftig werden zu lassen. Rechtsunsicherheit, Rechtsunfrieden und Streitsucht wären die Folge. Der Senat gelangt daher auch deshalb, weil die ungleichmäßige Behandlung der rechtskräftigen und der nicht rechtskräftigen Veranlagungen in Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 die Rechtssicherheit in bedenklicher Weise gefährdet, zu dem Ergebnis, daß diese Bestimmung verfassungswidrig ist."

Der IV. Senat schließt sich diesen Ausführungen vollinhaltlich an.

 

Fundstellen

Haufe-Index 410544

BStBl III 1962, 420

BFHE 1963, 418

BFHE 75, 418

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