Rz. 44

Stand: EL 128 – ET: 11/2021

Tritt ein Ereignis ein, das steuerlich Wirkung für die Vergangenheit hat, so muss das FA davon betroffene Steuerbescheide (oder gleichgestellte VA; > Rz 4 ff) aufheben oder ändern, ohne dass es eines Antrags bedarf (§ 175 Abs 1 Satz 1 Nr 2 AO). Dabei sind auch die bei der ursprünglichen Entscheidung unterlaufenen Rechtsfehler zu korrigieren; das gilt also nicht nur für Änderungen nach § 177 AO (> Rz 52; BFH 193, 75 = BStBl 2001 II, 122). Ob einer nachträglichen Änderung des Sachverhalts rückwirkende steuerliche Bedeutung zukommt, bestimmt sich allein nach dem jeweils einschlägigen materiellen Recht (BFH 201, 421 = BStBl 2003 II, 554; BFH/NV 2020, 182; BFH 270, 262 = BStBl 2021 II, 165; BFH 270, 266 = BStBl II 2021, 167).

 

Rz. 44/1

Stand: EL 128 – ET: 11/2021

Während in den bisher dargestellten Fällen die Änderung voraussetzte, dass der Besteuerung ein unrichtiger Sachverhalt zugrunde lag oder ein Sachverhalt zunächst unrichtig beurteilt wurde, setzt § 175 Abs 1 Satz 1 Nr 2 AO voraus, dass der Sachverhalt zutreffend beurteilt worden ist, der > Steuerbescheid also richtig war. Erst wenn zu einem späteren Zeitpunkt ein steuerliches Merkmal mit Wirkung für die Vergangenheit entfällt, das vom FA der Steuerfestsetzung zugrunde gelegt worden ist (BFH 154, 493 = BStBl 1989 II, 75), zB weil es unter einer auflösenden > Bedingung gestanden hat, kommt eine Aufhebung oder Änderung des VA in Betracht. Entsprechendes gilt, wenn sich erstmals ein Merkmal ergibt, das für die Vergangenheit wirkt (BFH/NV 2002, 3). Hätte das Ereignis bereits bei Erlass des Steuerbescheids berücksichtigt werden können, greift § 175 Abs 1 Satz 1 Nr 2 AO nicht ein (BFH/NV 2009, 1393 mwN; BFH/NV 2017, 1299 = HFR 2017, 991). Zum Begriff "Ereignis" vgl außerdem BFH/NV 2006, 1045.

Kein rückwirkendes Ereignis idS ist die rückwirkende Änderung gesetzlicher Vorschriften (BFH 162, 355 = BStBl 1991 II, 55); ebenso nicht die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm durch das BVerfG (BFH 225, 299 = BStBl 2009 II, 891; EFG 2012, 2085). Das Gleiche gilt für eine Änderung der EStR/LStR (BFH/NV 1999, 589). Die > Rückwirkung ist in den Einzelsteuergesetzen geregelt (BFH 141, 488 = BStBl 1984 II, 786).

 

Rz. 44/2

Stand: EL 128 – ET: 11/2021

Die nachträgliche Ausübung einesWahlrecht oder der Widerruf eines bereits ausgeübten Wahlrechts ist ausnahmsweise rückwirkendes Ereignis iSd § 175 Abs 1 Satz 1 Nr 2 AO, wenn sie selbst Merkmal des gesetzlichen Tatbestands ist (BFH 157, 484 = BStBl 1989 II, 957) oder ein Wahlrecht – zB nach Änderung eines > Steuerbescheid – erstmals sinnvoll ist (BFH 268, 538 = BStBl 2021 II, 92).

 

Beispiel 1:

Ein solches Wahlrecht ergibt sich zB beim Realsplitting des § 10 Abs 1a Nr 1 EStG. Die Eheleute A sind geschieden. A hat 2019 seiner früheren Ehefrau Unterhalt geleistet. Diese Unterhaltsleistungen bleiben bei der 2020 unanfechtbar gewordenen Veranlagung des A unberücksichtigt. 2021 erst erklärt Frau A ihre Zustimmung zur Anwendung des Realsplittings. Herr A beantragt nunmehr den SA-Abzug seiner > Unterhaltsleistungen Rz 5 ff im Rahmen von § 10 Abs 1a Nr 1 EStG. Dieser Antrag zusammen mit der Zustimmung von Frau A ist ein rückwirkendes Ereignis. Der ESt-Bescheid 2019 für Herrn A ist zu ändern (vgl BFH 157, 484 aaO; ergänzend BFH 247, 105 = BStBl 2015 II, 138; > Unterhaltsleistungen Rz 11).

 

Beispiel 2:

Die Eltern eines schwerbehinderten Kindes hatten zunächst die Übertragung des Behinderten-Pauschbetrags (§ 33b Abs 13, 5 EStG) auf die Mutter beantragt; das FA hatte die ESt dementsprechend festgesetzt. Nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist für den Steuerbescheid der M beantragt der geschiedene Ehemann und Vater des Kindes, den Behinderten-Pauschbetrag hälftig bei seiner ESt-Festsetzung zu berücksichtigen. EFG 2003, 1449 lehnte die Änderung des bestandskräftigen Steuerbescheids der M ab, weil die Eltern die Übertragung des Pauschbetrags und deshalb auch den Widerruf nur gemeinsam beantragen können (§ 33b Abs 5 Satz 3 EStG; > Behinderten-Pauschbetrag Rz 62 ff).

 

Beispiel 3:

Die > Ehegatten A und B sind einzeln zur ESt veranlagt worden. Der ESt-Bescheid des A ist unanfechtbar. Im Rechtsbehelfsverfahren gegen den Bescheid der B beantragen die Ehegatten die Zusammenveranlagung. Dem Antrag ist zu entsprechen. Der Bescheid gegen A ist – vorbehaltlich § 26 Abs 2 Satz 4 EStG – aufzuheben (BFH 262, 92 = BStBl 2019 II, 694).

Auch bei einem späteren, aber noch vor Unanfechtbarkeit gestellten Antrag auf Einzelveranlagung ist § 175 Abs 1 Satz 1 Nr 2 AO anwendbar; anders, wenn beide > Ehegatten bereits bestandskräftig veranlagt sind (BFH/NV 2015, 811 mwN; AEAO zu § 175 Nr 2.4). § 175 Abs 1 Satz 1 Nr 2 AO ist durch § 26 Abs 2 Satz 4 EStG eingeschränkt worden, der nur unter engen Voraussetzungen eine Aufhebung oder Änderung zulässt (> Ehegattenbesteuerung Rz 20 ff).

 

Beispiel 4:

Bei der ESt-Veranlagung 2019 des C ist eine Spende abgezogen worden, die für einen begünstigten Zweck bestimmt war. Im Jahr 2021, nach Unanfechtba...

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