LfSt Bayern, 18.01.2024, S 0353.1.1 - 8 St 43

 

1. Anwendungsbereich

Die Änderung oder Aufhebung eines Steuerbescheides nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist eine Änderungsvorschrift, die es ermöglicht, Ereignisse, die bei Erlass des Bescheides noch nicht vorgelegen haben, nachträglich steuerlich zu berücksichtigen, wenn sie in die Vergangenheit zurückwirken. Ein zunächst fehlerfreier Bescheid wird durch Eintritt eines rückwirkenden Ereignisses rechtswidrig und muss daher korrigiert werden.

Spezielle Änderungsvorschriften in den Einzelsteuergesetzen gehen der Vorschrift des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO vor (z. B Verlustrücktrag § 10d Abs. 1 S. 3 EStG oder die Änderung der Bemessungsgrundlage § 17 UStG; Bedingung und Befristung §§ 5 Abs. 2, 7 Abs. 2, 8 BewG).

 

2. Steuerliche Rückwirkung des Ereignisses

Ob einem Ereignis steuerliche Rückwirkung für die Vergangenheit zuzumessen ist, bestimmt sich nicht nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO, sondern kann nur den materiellen Steuergesetzen entnommen werden (BFH-Urteile vom 26.7.1984, BStBl II 1984 S. 786 und vom 12.7.1989, BStBl II 1989 S. 957).

Bei einmaligen Steuern (z. B. GrESt oder ErbSt) stellt ein nachträglich eingetretener Sachverhalt in der Regel ein rückwirkendes Ereignis dar, weil nur der eine Steuerbescheid aufgehoben oder geändert werden kann.

Bei laufend veranlagten Steuern wirken sich Ereignisse, die nach Ablauf des Veranlagungszeitraums eintreten, regelmäßig nicht rückwirkend aus, sondern betreffen den neuen Veranlagungszeitraum. Dies gilt insbesondere für Vorgänge, die an Zu- und Abfluss von Zahlungen knüpfen.

 

3. Umfang der Änderung

Der (Anpassungs-) Bescheid hat lediglich die Auswirkungen des eingetretenen Ereignisses zu berücksichtigen (punktuelle Änderung). Eine Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles ist unzulässig. Allerdings dürfen - soweit das rückwirkende Ereignis reicht - anlässlich der Änderung wegen des eingetretenen Ereignisses auch Rechtsfehler, die bei der ursprünglichen Entscheidung unterlaufen sind, korrigiert werden (BFH-Urteil vom 23.11.2000, BStBl 2001 II S. 122). Daneben ist auch die Vorschrift des § 177 AO zu beachten.

 

4. Festsetzungsfrist

Für den Erlass, die Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem das Ereignis eintritt (§ 175 Abs. 1 Satz 2 AO). Die besondere Verjährungsfrist ist auf den Umfang der durch den Eintritt des rückwirkenden Ereignisses sich ergebenden steuerlichen Auswirkung beschränkt. Für den Fristbeginn kommt es nicht darauf an, wann das Ereignis dem Finanzamt bekannt wird.

 

5. Beispiele für das Nichtvorliegen von rückwirkenden Ereignissen

In den folgenden Fällen liegt ein rückwirkendes Ereignis nicht vor:

  • Änderung steuerrechtlicher Normen (BFH vom 09.08.1990, BStBl II 1991 S. 55),
  • Änderung der Rechtsprechung (BFH vom 21.03.1996, BStBl II 1996 S. 399),
  • Nichtigerklärung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht (§ 78 BVerfG).
  • Zu § 15 Abs. 1 Nr. 1 EStG

    Die Veräußerung eines vierten Objekts im Rahmen eines gewerblichen Grundstückshandels (vgl. BFH vom 06.02.1999, BStBl II 2000 S. 306). Die steuerliche Erfassung der stillen Reserven aus der Veräußerung der ersten drei Objekte ist aber gem. § 173 AO möglich (vgl. BFH vom 07.09.1965, BStBl III 1965 S. 677).

  • Zu § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG

    Wird ein Gesellschaftsanteil gegen abgekürzte Leibrente veräußert und entscheidet sich der Steuerpflichtige für die Sofortversteuerung, stellt der Tod des Rentenberechtigten vor dem Ende der Laufzeit kein rückwirkendes Ereignis dar (BFH vom 19.08.1999, BStBl II 2000 S. 179).

  • Zu § 14 S. 1 KStG

    Die Änderung des dem Organträger zuzurechnenden Einkommens der Organgesellschaft erfüllt bezogen auf die dem Organträger gegenüber festgesetzte Körperschaftsteuer weder die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 noch die des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (BFH-Urteil vom 28.01.2004 BStBl 2004 II S. 539).

  • Zu § 4 Nr. 9 Buchst. a, § 9 Abs. 1 UStG

    Der nachträgliche Verzicht auf die Steuerfreiheit einer Grundstückslieferung ist kein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO für die Steuerfestsetzung des Veräußerers. Weder die Ausgabe einer Rechnung mit Umsatzsteuer noch die Änderung durchgeführter zivilrechtlicher Vereinbarungen (auch die nach dem 31.12.2003 wegen § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG notariell beurkundeten Vertragsänderungen bzw- ergänzungen) sind als rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu beurteilen, das die Unanfechtbarkeit durchbricht.

    Wenn ein Wahlrecht wie der Verzicht auf die Steuerbefreiung der Grundstückslieferung (§ 4 Nr. 9 Buchst. a, § 9 Abs. 1 UStG) oder der Widerruf des Verzichts nur zeitlich begrenzt bis zur Bestandskraft (oder Änderbarkeit nach § 164 Abs. 2 AO) der Steuerfestsetzung des Lieferers oder des Abnehmers ausgeübt werden darf, ist die nachträgliche Ausübung dieses Wahlrechts kein Ereignis mit steuerrechtlicher Rückwirkung i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (BFH-Urteil vom 28.11.2002, BStBl I...

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