Reform der Pflegeversicherung: Neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff

Seit dem 1. Januar 2017 wird in der Pflegeversicherung der Begriff der Pflegebedürftigkeit neu definiert. Bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit kommt es nun auf den Grad der Selbstständigkeit und die verbliebenen Fähigkeiten in sechs gesetzlich festgelegten Lebensbereichen an.

Notwendig war ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff insbesondere deshalb, weil das bisherige Recht Personen, deren Pflegebedürftigkeit auf demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Erkrankung beruhte, gegenüber den Pflegebedürftigen aufgrund einer somatischen Erkrankung benachteiligte. Diese Ungleichheit hat der Gesetzgeber mit den Pflegestärkungsgesetzen I bis III beseitigt.

Neue Maßstäbe bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit

Bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit kommt es nun auf den Grad der Selbstständigkeit und die verbliebenen Fähigkeiten in gesetzlich festgelegten sechs Lebensbereichen an, die die allgemeinen Lebenssituationen eines jeden Menschen widerspiegeln. Neben den Hilfen bei den körperbezogenen Verrichtungen des täglichen Lebens wegen einer somatischen Erkrankung (beispielsweise Rheuma, Arthrose, Verlust der Sehfähigkeit oder als Folge eines Unfalls zum Beispiel mit einer Querschnittslähmung) wird nach neuem Recht auch der Hilfebedarf an Betreuung und Beaufsichtigung bei der Bewältigung des Alltagslebens aufgrund kognitiver oder psychischer Beeinträchtigungen gleichwertig berücksichtigt.

Kriterien in sechs Lebensbereiche maßgebend für die Pflegebedürftigkeit

Die sechs Lebensbereiche sind gesetzlich festgelegt. Jeder Bereich wird durch einzelne Kriterien erläutert, zu denen jeweils der Grad der Selbstständigkeit bzw. die verbliebenen Fähigkeiten festzustellen sind. Auf das persönliche Umfeld kommt es nicht an. Zu ermitteln ist, inwieweit bei den einzelnen Kriterien Unterstützung durch fremde Personen notwendig ist und welche Fähigkeiten noch aus eigenem Antrieb bewältigt werden können. Insbesondere bei körperlichen Beeinträchtigungen wird auch hinterfragt, ob durch den Einsatz von Hilfsmitteln ein höherer Grad von Selbstständigkeit erreicht werden kann.

Die gesetzliche Vorschrift nennt folgende Bereiche und Kriterien:

Bereich 1: Mobilität (5 Kriterien):
Es geht darum, wie weit sich eine Person noch selbständig fortbewegen und ihre Körperhaltung ändern kann.

Bereich 2: Kognitive und kommunikative Fähigkeiten (11 Kriterien):
Es geht um die Fähigkeit zur örtlichen und zeitlichen Orientierung im Alltag, um eigene Entscheidungsmöglichkeiten und um die Fähigkeit, Bedürfnissen mitteilen zu können.

Bereich 3: Verhaltensweisen und psychische Problemlagen (13 Kriterien):
Maßgebend ist die Einschränkung der Selbständigkeit und der damit erforderliche Hilfebedarf bei psychischen Problemlagen, etwa bei Angstzuständen.

Bereich 4:Selbstversorgung (14 Kriterien):
In diesem Bereich geht es um die Selbständigkeit bei den Verrichtungen des täglichen Lebens bei der Körperpflege und der Ernährung.

Bereich 5: Bewältigung von/selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen (17 Kriterien):
Festzustellen ist die Selbständigkeit bei der Bewältigung und dem Umgang mit der Krankheit zur Sicherstellung therapeutischer Maßnahmen.

Bereich 6: Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte (6 Kriterien):
Im Fokus steht hier, wie selbständig eine Person mit der Tagesplanung und der Aufrechterhaltung von Kontakten zurecht kommt.

Nicht genannt, dennoch berücksichtigt – die hauswirtschaftliche Versorgung

Hilfen aus dem Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung sind nicht separat zu ermitteln. Vielmehr wird bereits mit jedem der aufgelisteten sechs Bereiche berücksichtigt, ob und in welchem Ausmaß die gesundheitlichen Einschränkungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten auch einen Hilfebedarf bei der Haushaltsführung erfordern, differenziert zwischen außerhäuslichen Aktivitäten und der eigentlichen Haushaltsführung. Ist eine Person beispielsweise in der Mobilität eingeschränkt, wird auch das selbstständige Einkaufen nicht mehr möglich sein. Liegen mentale Funktionsstörungen vor, werden auch die Fähigkeiten zu außerhäuslichen Aktivitäten beeinträchtigt sein.

Hilfebedarf muss von Dauer sein

Besteht ein Hilfebedarf nur von kurzer Dauer (zum Beispiel nach einem Unfall oder wegen einer von vornherein zeitlich begrenzten schwereren Krankheit), liegt keine Pflegebedürftigkeit im Sinne der Pflegeversicherung vor. Denn hierfür wird einer Zeitspanne von sechs Monaten vorausgesetzt, die nur dann kürzer sein darf, wenn die verbleibende Lebensspanne vorausschauend kürzer als sechs Monate sein wird. Ist ein Hilfebedarf von mindestens sechs Monaten prognostiziert, lassen therapeutische und rehabiltative Maßnahmen aber erwarten, dass Pflegebedürftigkeit wieder behoben werden kann, besteht die Möglichkeit, den Zeitraum, für den Pflegebedürftigkeit anerkannt wird, zunächst zu befristen.

Besonderheiten gelten für Kinder

Auch Kinder können pflegebedürftig sein. Im Prinzip gelten auch für Kinder die sechs Bereiche. Als Vergleichsmaßstab dafür, inwieweit die Selbstständigkeit eingeschränkt ist oder Fähigkeiten nicht vorhanden sind, wird der übliche Hilfebedarf eines gesunden Kindes im gleichen Alter herangezogen. Nur der darüber hinausgehende Hilfebedarf kann für die Pflegebedürftigkeit berücksichtigt werden.

Weitere Abweichungen gelten noch für Kinder bis zum 18. Lebensmonat, da diese naturbedingt noch eine Rund-Um-Versorgung benötigen. Deshalb werden bei diesen Kindern nur die oben genannten Bereiche 3 sowie 5 beurteilt. Hinzu kommt aus dem Modul 4 die Frage, ob gravierende Probleme bei der Nahrungsaufnahme bestehen, die einen außergewöhnlichen pflegeintensiven Hilfebedarf im Bereich der Ernährung auslösen.

Feststellung durch MDK oder beauftragte Gutachter

Bundesweit geltende Beurteilungsrichtlinien sorgen dafür, dass Pflegebedürftigkeit nach einheitlichen Kriterien beurteilt wird. Zuständig für die Feststellung, ob und in welchem Ausmaß Pflegebedürftigkeit im Einzelfall vorliegt, sind der MDK oder – eher im Ausnahmefall – von den Pflegekassen beauftragte externe Gutachter. Eine Begutachtung ist von den Pflegekassen regelmäßig zu veranlassen, wenn ihnen ein Antrag auf Feststellung von Pflegebedürftigkeit von einer oder für eine Person vorliegt.