Das Wichtigste in Kürze:

1. U-Haft ist legale Freiheitsberaubung gegenüber einem Unschuldigen.
2. Der dominierende (Haft-)Grund, mit dem die U-Haft gerechtfertigt wird, ist die Fluchtgefahr. In der Praxis werden aber in nicht wenigen Fällen die wahren Haftgründe nicht genannt und Inhaftierungen nur aufgrund von Fiktionen angeordnet.
3. Wer mit der Verfassungsbeschwerde die sachlichen Voraussetzungen der U-Haft bekämpfen will tut sich schwer. Dennoch gibt es sowohl bei der Anordnung/Aufrechterhaltung der U-Haft als auch bei der Ausgestaltung der konkreten Haftbedingungen Ansatzpunkte für eine verfassungsgerichtliche Beanstandung. Die verfassungsrechtlich gebotene Begründungstiefe bei Haftfortdauerentscheidungen wird oft nicht erfüllt.
 

Rdn 1060

 

Literaturhinweise:

Broß, Untersuchungshaft im Rechtsstaat in: Strafverteidigung im Rechtsstaat (2009), 962

Hassemer, Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft, StV 1984, 40

Krehl, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 22.2.2005 – 2 BvR 109/05, StV 2005, 561

Mayer/Hunsmann, Leitlinien für die verfassungsrechtlich gebotene Begründungstiefe in Untersuchungshaftsachen, NStZ 2015, 325

Scheinfeld, Haftfortdauerentscheidungen und Rechtsbeugung – Zur strafrechtlichen Relevanz einer richterlichen Verweigerungshaltung, GA 2010, 684

s.a. die Hinw. bei → Untersuchungshaft, Allgemeines, Teil B Rdn 807, und bei → Verfassungsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 730, m.w.N.

 

Rdn 1061

1. Verfassungsverstöße kommen insbesondere bei der U-Haft vor, die Hassemer zutreffend als "Freiheitsberaubung gegenüber einem Unschuldigen" bezeichnet hat (vgl. Hassemer StV 1984, 40).

 

Rdn 1062

Es handelt sich hierbei um eine strafrechtliche Zwangsmaßnahme (→ Verfassungsbeschwerde, Begründetheit, Zwangsmaßnahmen, Allgemeines, Teil C Rdn 1112), in der sich aus verfassungsprozessrechtlicher Sicht besonders das Problem der Anfechtbarkeit oder Nichtanfechtbarkeit von Zwischenentscheidungen (→ Verfassungsbeschwerde, Zulässigkeit, Beschwerdegegenstand, Teil C Rdn 1166), der Rechtswegerschöpfung (→ Verfassungsbeschwerde, Zulässigkeit, Rechtswegerschöpfung, Teil C Rdn 1182) und der materiellen Subsidiarität (→ Verfassungsbeschwerde, Zulässigkeit, materielle Subsidiarität, Teil C Rdn 1177) stellt.

 

Rdn 1063

2.a) Der dominierende (Haft-)Grund, mit dem die U-Haft gerechtfertigt wird, ist die Fluchtgefahr (zu diesem Haftgrund Burhoff, EV, Rn 3718 ff.). Der Umgang der Praxis, aber auch der Gesetzgebung mit diesem Haftgrund ist skandalös. Die Fluchtgefahr würde sich kaum weniger effizient, aber weit grundrechtsverträglicher mit der Einführung der elektronischen Fußfessel bannen lassen (vgl. Roxin/Schünemann, § 30 Rn 3 m.w.N.). Herrmann hat recht, wenn er formuliert: "Es erscheint geradezu unvorstellbar, wie häufig davon auszugehen sein soll, dass die Gefahr der Flucht des Beschuldigten angenommen werden müsse" (Herrmann, Rn 683).

 

Rdn 1064

b)aa) Tatsächlich gibt es eine besorgniserregend große Anzahl an Fällen, in denen ein gesetzlich vorgesehener Haftgrund gar nicht gegeben ist, sondern lediglich floskelhaft begründet wird, um den wahren, aber illegalen Haftgrund (sog. apokryphe Haftgründe), vor allem

des Drucks der öffentlichen Meinung
der Erleichterung der Ermittlungen
der Förderung der Geständnisbereitschaft
der Förderung der Therapie- und Behandlungsbereitschaft
der Erleichterung ausländerrechtlicher Maßnahmen
der Vorwegnahme der zu erwarteten Strafhaft

zu verbergen (vgl. Herrmann, Rn 638 ff.).

 

Rdn 1065

bb) Die Verteidigung gegen diese apokryphen Haftgründe ist schwierig bis unmöglich (vgl. Herrmann, Rn 656), auch wenn das BVerfG die strenge Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes betont:

 

Rdn 1066

"In dem Rechtsinstitut der Untersuchungshaft wird das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 GG) und den Bedürfnissen einer wirksamen Verbrechensbekämpfung deutlich sichtbar. Ein gerechter Ausgleich dieser Spannung läßt sich im Rechtsstaat nur dadurch erreichen, daß den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der grundrechtlich verbürgte Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten und daher noch als unschuldig geltenden Beschuldigten als Korrektiv ständig entgegengehalten wird. Das bedeutet, daß der Eingriff in die Freiheit nur hinzunehmen ist, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als durch vorläufige Inhaftierung eines Verdächtigen [m.w.N.]. Dieser verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der U-Haft von Bedeutung. Vor allem darf die U-Haft hinsichtlich ihrer Dauer nicht außer Verhältnis zu der voraussichtlich zu erwartenden Strafe stehen. Unabhängig von der zu erwartenden Strafe setzt aber der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer Grenzen" (BVerfGE 20, 144, 147 f.). Das klin...

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