Das Wichtigste in Kürze:

1. Der EGMR prüft die Erschöpfung des Rechtswegs ohne übermäßigen Formalismus.
2. Der Beschwerdeführer muss die Beschwerdepunkte aber zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den Voraussetzungen und Fristen des nationalen Rechts vor den Gerichten des gegnerischen Vertragsstaats geltend gemacht haben.
3. Der Beschwerdeführer muss des Weiteren grds. von allen im innerstaatlichen Rechtssystem zur Behebung des Konventionsverstoßes zur Verfügung stehenden effektiven Rechtsbehelfen und -mitteln Gebrauch machen.
4. Grds. zu erheben ist die Verfassungsbeschwerde.
5. Ebenso müssen die Rechtsbehelfe der StPO grds. genutzt werden. Bedenken bestehen u.a. bei einer Anhörungsrüge und bei einem Widerspruch.
6. Vor dem EGMR ist die Rechtswegerschöpfung – den Umständen entsprechend in abgestufter Darlegungslast – schließlich substantiiert anzugeben und durch Nachweise zu belegen.
 

Rdn 252

 

Literaturhinweise:

Broß, Zulässigkeitsanforderungen von Individualrechtsbehelfen – Aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 2006, 506

Eschelbach/Geipel/Weiler, Anhörungsrügen, StV 2010, 325

Grabenwarter, Die Revisionsbegründungsfrist nach § 345 Abs. 1 StPO und das Recht auf angemessene Vorbereitung der Verteidigung, NJW 2002, 109

Michalke, Reform der Untersuchungshaft – Reform vertan? NJW 2010, 17

Rogge, Die Einlegung einer Menschenrechtsbeschwerde, EuGRZ 1996, 341

Rudolf/v. Raumer, Die Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – Eine kaum genutzte Chance, AnwBl. 2009, 313

Safferling, Audiatur et altera pars – Die prozessuale Waffengleichheit als Prozessprinzip? NStZ 2004, 181

Strafner, Der Schadensersatzanspruch nach Art. 5 Abs. 5 EMRK in Haftsachen, StV 2010, 275

Wittinger, Die Einlegung einer Individualbeschwerde vor dem EGMR, NJW 2001, 1238

s.a. die Hinw. bei → Revision, Allgemeines, Teil A Rdn 2006, bei → Untersuchungshaft, Allgemeines, Teil B Rdn 806, bei → Menschenrechtsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 2, und bei → Verfassungsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 730, m.w.N.

 

Rdn 253

1.a)aa) Es ist grds. die Aufgabe der Vertragsparteien, Menschenrechtsverletzungen innerhalb ihres eigenen Rechtsschutzsystems abzuhelfen. Die Erhebung einer Menschenrechtsbeschwerde ist daher nur zulässig, wenn zuvor der Rechtsweg vor den innerstaatlichen Gerichten erschöpft wurde (EGMR; Urt. v. 18.6.1971 – 2832/66 [De Wilde, Ooms u. Versyp/Belgien Nr. 50], EGMR-E 1, 112 f.; EGMR, Urt. v. 9.10.1979 [Airey/Irland], EGMR-E 1, 416). Vor den Strafgerichten endgültig Versäumtes ist im Verfahren über die Menschenrechtsbeschwerde nicht nachholbar.

 

Rdn 254

bb) Im Gegensatz zu den in der Rspr. des BVerfG festzustellenden strengen Anforderungen (BVerfG NStZ 2000, 382 [naheliegende Ablehnung eines Revisionssenats]; vgl. auch → Verfassungsbeschwerde, Zulässigkeit, Rechtswegerschöpfung, Teil C Rdn 1182), ist dem EGMR bei seiner Überprüfung ein "übermäßiger Formalismus" fremd. Die Regel der Erschöpfung des Rechtswegs wird "relativ flexibel" angewendet (EGMR, Urt. v. 1.4.2010 – 27804/05 [B./Deutschland], StV 2011, 430). Dies beruht neben dem Ziel der EMRK, einen möglichst umfassenden und effektiven Schutz der Menschenrechte zu gewährleisten (Broß EuGRZ 2006, 507 "Zielsetzung von Individualrechtsbehelfen"), auf dem Umstand, dass Völkerrecht nicht mit demselben Formalismus angewendet werden kann, der zuweilen bei der Anwendung innerstaatlichen Rechts für geboten erachtet wird. Artikel 35 Abs. 1 EMRK bezieht sich ausdrücklich auf die allgemein anerkannten Grundsätze des Völkerrechts (→ Menschenrechtsbeschwerde, Auslegung der Konvention, Teil C Rdn 13).

 

☆ Der EGMR und bereits die Kommission haben sich mehrfach zu Recht für die Notwendigkeit einer gewissen Flexibilität bei der Überprüfung des Erfordernisses der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs ausgesprochen (seit der Entsch. v. 30.8.1958 – 332/57 [ Lawless /Irland], EGMR-E 1, 128). Hiervon wurde bislang, trotz der erheblichen Arbeitsbelastung, nicht merklich abgerückt.EGMR und bereits die Kommission haben sich mehrfach zu Recht für die Notwendigkeit einer gewissen Flexibilität bei der Überprüfung des Erfordernisses der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs ausgesprochen (seit der Entsch. v. 30.8.1958 – 332/57 [Lawless/Irland], EGMR-E 1, 128). Hiervon wurde bislang, trotz der erheblichen Arbeitsbelastung, nicht merklich abgerückt.

 

Rdn 255

b) Wenn das BVerfG ohne Angaben von Gründen beschließt, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, scheitern Versuche der Regierung, nach Zustellung die Einrede der Nichterschöpfung zu erheben und entsprechende Interpretationen im Hinblick auf die Beweggründe des BVerfG vorzutragen. Der Gerichtshof geht hier regelmäßig zu Recht von einer Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs aus. Insbesondere stellt er in ständiger Rspr. fest, dass es nicht seine Aufgabe ist, sich an die Stelle des BVerfG zu setzen und über die Gründe der Nichtannahme zu spekulieren (EGMR, Urt. v. 9.6.2009 – 11363/03 [Mooren/Deu...

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