Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags

Für eine Klage, mit der die Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlags ab dem Jahr 2020 geltend gemacht wird, fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis, wenn die Steuerfestsetzung wegen dieses Punktes vorläufig ist und beim Bundesverfassungsgericht bereits ein einschlägiges Musterverfahren anhängig ist.

Hintergrund: Gesetzliche Regelungen

Soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind, kann sie vorläufig festgesetzt werden (§ 165 Abs. 1 Satz 1 AO). Diese Regelung ist auch anzuwenden, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) oder einem obersten Bundesgericht ist (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO).

Sachverhalt: Streit um Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags

Streitig ist, ob die Erhebung des Solidaritätszuschlags im Jahr 2020 und ab dem Jahr 2021 gegen Verfassungsrecht verstößt.

Das Finanzamt (FA) setzte gegenüber den zusammenveranlagten Eheleuten (Kläger) Solidaritätszuschlag für 2018 und Vorauszahlungen auf den Solidaritätszuschlag für die letzten drei Quartale 2020 und ab 2021 fest. Die Festsetzung des Solidaritätszuschlags für 2018 erfolgte gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig.

Den hiergegen erhobenen Einsprüchen half das FA nur insoweit ab, als es die Festsetzung der Vorauszahlungen zum Solidaritätszuschlag ebenfalls nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO für vorläufig hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes erklärte. Es verwies auf die beim BVerfG seit dem 24.8.2020 unter dem Az. 2 BvR 1505/20 anhängige Verfassungsbeschwerde sowie auf das derzeit beim BFH anhängige Revisionsverfahren IX R 15/20. Es führte ferner aus, dass der Vorläufigkeitsvermerk auch die Frage erfasse, ob die fortgeltende Erhebung des Solidaritätszuschlags nach Auslaufen des Solidarpakts II zum 31.12.2019 verfassungsgemäß sei. Im Übrigen wies das FA die Einsprüche als unbegründet zurück.

Die Kläger haben gegen die Einspruchsentscheidung Klage beim FG erhoben. Zur Begründung haben sie insbesondere ausgeführt, die Klage sei zulässig. Das beim BVerfG unter dem Az. 2 BvR 1505/20 anhängige Verfassungsbeschwerdeverfahren stehe nicht entgegen, da dieses mangels Rechtswegerschöpfung unzulässig sei. Es fehle an einer Ermächtigungsgrundlage, da es sich bei dem Solidaritätszuschlag nicht um eine Ergänzungsabgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG handele. Zudem verletze der Solidaritätszuschlag nach seiner nur teilweisen Abschaffung ab 2021 Art. 3 Abs. 1 GG sowie Art. 6 GG.

Im Laufe des Klageverfahrens ergingen geänderte Vorauszahlungsbescheide zum Solidaritätszuschlag für die Jahre 2021 bis 2023 und weitere Jahre. Die Festsetzungen erfolgten nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des SolZG. Zudem erging ein Bescheid für 2020 u. a. über Solidaritätszuschlag. Die Festsetzung des Solidaritätszuschlags erfolgte ebenfalls vorläufig.

Das FG wies die Klage als unbegründet ab.

Zur Begründung der Revision haben die Kläger vorgetragen, das FG sei zu Recht von der Zulässigkeit der Klage ausgegangen. Das Rechtsschutzbedürfnis sei nicht durch den Vorläufigkeitsvermerk entfallen. Das BVerfG-Verfahren 2 BvR 1505/20 sei von vornherein aussichtslos. Es fehle an der Rechtswegerschöpfung. Die von den dortigen Beschwerdeführern geltend gemachte allgemeine Bedeutung der Verfassungsbeschwerde liege nicht vor. Es sei nahezu ausgeschlossen, dass das BVerfG das Verfahren 2 BvR 1505/20 als zulässig erachten werde.

Das FG habe allerdings verkannt, dass das SolZG bereits durch das Auslaufen des Solidarpakts II seit dem Veranlagungszeitraum 2020, jedenfalls aufgrund der nur selektiven Abschaffung des Solidaritätszuschlags ab dem Veranlagungszeitraum 2021 verfassungswidrig sei. Dies gelte umso mehr ab dem Veranlagungszeitraum 2021, da der Solidaritätszuschlag nach seiner nur teilweisen Abschaffung ab 2021 zu einer „Reichensteuer“ umgestaltet worden sei. Damit werde das finanzverfassungsrechtliche Kompetenzgefüge verletzt.

Die Kläger beantragen, das Urteil des FG, die Einspruchsentscheidung des FA, den Bescheid für 2020 über den Solidaritätszuschlag und die Vorauszahlungsbescheide über Solidaritätszuschlag ab dem 1.1.2021 aufzuheben.

Entscheidung: FG hätte Klage als unzulässig abweisen müssen

Der BFH entscheidet, dass das Urteil des FG Bundesrecht verletzt, soweit es die Klage als unbegründet statt als unzulässig abgewiesen hat. Denn das FG ist zu Unrecht von der Zulässigkeit der Klage ausgegangen. Für die Klage fehlt wegen des Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO das Rechtsschutzbedürfnis. Die Klage war daher wegen Fehlens einer Sachurteilsvoraussetzung von Beginn an unzulässig.

Allgemeine Klärung der Streitfrage im Musterverfahren ist abzuwarten

Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Steuerbescheid in dem verfassungsrechtlichen Streitpunkt vorläufig ergangen ist, diese Streitfrage sich in einer Vielzahl im Wesentlichen gleich gelagerter Verfahren (Massenverfahren) stellt und bereits ein nicht von vornherein aussichtsloses Musterverfahren beim BVerfG anhängig ist. Liegen diese Voraussetzungen vor, muss ein Steuerpflichtiger im Allgemeinen die Klärung der Streitfrage in dem Musterverfahren abwarten, ohne dadurch unzumutbare Rechtsnachteile zu erleiden. Eine weitere verfassungsrechtliche Klärung in eigener Sache kann der Steuerpflichtige ggf. später durch Rechtsbehelfe gegen die vom FA nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO zu treffende Entscheidung herbeiführen, wenn ihm nach Ausgang des Musterverfahrens die Streitfrage nicht ausreichend beantwortet erscheint.

Bei verfassungsrechtlichen Streitfragen fehlt das Rechtsschutzbedürfnis erst, wenn das Musterverfahren bereits beim BVerfG anhängig ist. Andernfalls wäre unsicher, ob es überhaupt zu einer Klärung der Rechtsfrage durch das BVerfG kommen wird. Klage- und Musterverfahren müssen hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im Wesentlichen gleichgelagert sein. In dem Musterverfahren darf es nicht um einen anderen Sachverhalt gehen, der zusätzliche möglicherweise sogar vorrangige Streitfragen aufwirft. Klage- und Musterverfahren müssen zudem dieselben Vorschriften, nicht aber notwendig das gleiche Streitjahr, betreffen. Notwendig ist allein, dass sich das Klageverfahren durch die Entscheidung in dem bereits anhängigen verfassungsrechtlichen Musterverfahren „sicher“ erledigen lässt.

Musterverfahren darf nicht von vornherein aussichtslos erscheinen

Voraussetzung ist, dass das Musterverfahren nicht von vornherein aussichtslos erscheint. Die Anforderungen für die Annahme eines nicht vornherein aussichtslosen Musterverfahrens, das beim BVerfG anhängig ist, dürfen allerdings nicht überspannt werden. Die in dem Musterverfahren geltend gemachten Argumente dürfen nicht so wenig Gewicht haben, dass dem Verfahren von vornherein eine Erfolgsaussicht abzusprechen ist. Insbesondere kommt es nach dem Wortlaut des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO nicht darauf an, ob und in welchem Umfang das Musterverfahren letztlich tatsächlich Erfolg haben wird.

Klägern fehlte Rechtsschutzbedürfnis für ihr Begehren

Es war den Klägern zuzumuten, aufgrund des bestehenden Vorläufigkeitsvermerks den Ausgang des beim BVerfG anhängigen Verfahrens 2 BvR 1505/20 abzuwarten. Dieses, bereits bei Klageerhebung anhängige Verfahren war unter Berufung auf Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 106, Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG eingeleitet worden. Die Kläger berufen sich in ihrem Klageverfahren auf dieselben verfassungsrechtlichen Vorschriften wie in dem BVerfG-Verfahren 2 BvR 1505/20. Auch sind dieselben Normen des SolZG streitig.

Die Kläger haben im Klageverfahren keinen zusätzlichen Gesichtspunkt geltend gemacht, der im BVerfG-Verfahren 2 BvR 1505/20 keine Rolle spielt. Ungeachtet der Frage, ob die Begründung der Kläger sich mit Blick auf die Verfassungswidrigkeit des SolZG als erfolgversprechend darstellt, hatten sie sich in ihrer Klage auf keinen weiteren Gesichtspunkt berufen, für den das anhängige Verfahren beim BVerfG nicht vorgreiflich ist.

Welche Erfolgsaussichten das beim BVerfG anhängige (Muster‑)Verfahren 2 BvR 1505/20 hat, muss nicht entscheiden werden. Das Verfahren erscheint ‑‑trotz der möglicherweise fehlenden Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) ‑‑ jedenfalls nicht von vornherein aussichtslos und damit als Musterverfahren im Rahmen eines Vorläufigkeitsvermerks ungeeignet. Insbesondere besitzen die in der Verfassungsbeschwerde geltend gemachten Gründe, warum die Verfassungsbeschwerde trotz fehlender Rechtswegerschöpfung zulässig sein soll, nicht so wenig Gewicht, dass dem Verfahren von vornherein jede Erfolgsaussicht abzusprechen wäre.

Hinweis: Ausnahmsweise Rechtsschutzgewährung trotz Vorläufigkeit

Nur wenn besondere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art substantiiert geltend gemacht werden, kann es gerechtfertigt sein, trotz Anhängigkeit des Musterverfahrens Rechtsschutz gegen den im Streitpunkt für vorläufig erklärten Bescheid zu gewähren. Das kann u. a. gegeben sein, wenn der Steuerpflichtige aus berechtigtem Interesse ein weiteres Verfahren einleiten will, weil er z. B. bisher in den Musterverfahren nicht geltend gemachte Gründe substantiiert vorträgt und diese an das BVerfG oder den EuGH herantragen möchte. Dem Steuerpflichtigen darf dann nicht die Möglichkeit abgeschnitten werden, die verfassungsrechtlichen Bedenken in einem eigenen Verfahren zu verfolgen.

BFH, Urteil v. 26.9.2023, IX R 9/22; veröffentlicht am 2.11.2023

Alle am 2.11.2023 veröffentlichten Entscheidungen des BFH mit Kurzkommentierungen

Schlagworte zum Thema:  Vorläufigkeitsvermerk, Klage, Finanzgericht