Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 06.05.1976)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 6. Mai 1976 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger verlangt mit Rücksicht auf eine besondere berufliche Betroffenheit (§ 30 Abs. 2 Bundesversorgungsgesetz –BVG–) die Erhöhung seiner Versorgungsbezüge. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) war wegen Verlustes des rechten Unterschenkels in Höhe der Unterschenkelmitte auf 50 vH geschätzt worden (Bescheid vom 30. Oktober 1951). Seit September 1946 ist der Kläger in einer Maschinenbaufabrik beschäftigt. Dort arbeitete er zunächst in der Motorenmontage als Maschinenschlosser. Von dieser Tätigkeit wurde er im September 1964 freigestellt, nachdem er zum Betriebsratsmitglied und später zu dessen Vorsitzenden gewählt worden war. In dieser Position wurde er nach den jeweiligen Akkorddurchschnittsverdiensten entlohnt.

Im Oktober 1972 beantragte der Kläger, den Grad seiner Erwerbsbehinderung höher zu bewerten, weil er dem erlernten Beruf des Maschinenschlossers nur noch unter Aufbietung außergewöhnlicher Tatkraft nachgehen könne. Die Versorgungsverwaltung lehnte dies ab, weil der Kläger in seinem Beruf nicht stärker behindert und körperlich nicht mehr beansprucht sei als Unterschenkelamputierte üblicherweise auf sich zu nehmen hätten. Im übrigen würden die Vorschriften, welche sicherstellen, daß Betriebsratsmitglieder in ihren Einkünften und in ihrer beruflichen Fortentwicklung nicht benachteiligt werden dürften, im Streitfalle nicht berührt (Bescheid vom 15. Dezember 1972; Widerspruchsbescheid vom 19. März 1973).

Die Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen, die Berufung das Landessozialgerichts (LSG) zurückgewiesen (Urteil des SG Itzehoe vom 6. Juni 1974; Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 6. Mai 1976), das Berufungsgericht deshalb, weil der Kläger das Wirkungsfeld der Motorenmontage habe voll ausfüllen können. Für den Wechsel seiner Tätigkeit und die Übernahme der Betriebsratsposition seien weder Schädigungsfolgen noch sonstige gesundheitliche Momente ursächlich gewesen. Ob sich seit 1964, also nach der Wahl des Klägers zum Betriebsratsmitglied, sein körperlicher Zustand verschlechtert habe, könne dahingestellt bleiben. Denn deshalb sei er vom weiteren beruflichen Aufstieg nicht zurückgehalten worden. Vielmehr sei sein Arbeitsentgelt schon 1968 demjenigen angeglichen worden, das Arbeiter in derjenigen Abteilung verdienten, welcher der Kläger vor seiner Freistellung vom Produktionsprozeß angehört habe. Allerdings wäre der Kläger inzwischen ohne die Schädigungsfolgen wahrscheinlich Vorarbeiter geworden. Aber auch hierdurch habe er keine Einkommenseinbuße, jedenfalls nicht eine solche von mehr als 20 vH erfahren.

Der Kläger hat die – zugelassene – Revision eingelegt. Er beanstandet, daß das LSG die rechtliche Beurteilung auf das faktisch erzielte Arbeitseinkommen und nicht auf die Fähigkeit zur Ausübung eines Berufes abgestellt und demgemäß auch nicht geprüft habe, ob der Kläger durch eine bisher nicht berücksichtigte Wirbelsäuleninsuffizienz sowie außerdem durch verstärkte Nervenschmerzen im Amputationsstumpf außerstande sei, den Anforderungen eines Maschinenschlossers nach wie vor gerecht zu werden. Auf die verschlechterten gesundheitlichen Verhältnisse sei das LSG durch den ärztlichen Abschlußbericht nach einer Kur vom 25. September 1972 hingewiesen worden. Auch die Tätigkeit als Betriebsratsvorsitzender sei dem Kläger gesundheitlich nicht mehr zumutbar. Von der Pflicht zur weiteren Sachaufklärung sei das Berufungsgericht nicht deshalb dispensiert gewesen, weil der Kläger für die Zeit seines Ehrenamtes gegen den Arbeitgeber einen Lohnfortzahlungsanspruch habe, der nicht geringer bemessen werden dürfe als das Arbeitsentgelt vergleichbarer Arbeitnehmer mit betriebsüblicher beruflicher Entwicklung (§ 37 Abs. 4 Betriebsverfassungsgesetz –BetrVG–). Mit dieser Einkommensgarantie sei über die tatsächliche Berufsentwicklung des betreffenden Betriebsangehörigen nichts ausgesagt. Infolgedessen hätte die Frage der beruflichen Betroffenheit des Klägers unabhängig von der Tatsache beurteilt werden müssen, daß der Kläger von der Produktionsarbeit freigestellt gewesen sei. – Das Berufungsgericht widerspreche sich selbst, wenn es einerseits feststelle, der Kläger sei wegen der Schädigungsfolgen nicht zum Vorarbeiter aufgestiegen, andererseits aber erkläre, er sei aus dem genannten Grunde nicht an weiterem beruflichen Fortkommen gehindert gewesen.

Der Kläger beantragt,

die vorinstanzlichen Urteile sowie die Bescheide vom 15. Dezember 1972 und 19. März 1973 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Oktober 1972 Rente nach einer MdE von 60 vH zu leisten;

hilfsweise,

den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er meint, der Kläger wolle im Rahmen des § 30 Abs. 2 BVG Fiktives beachtet wissen. Nach dem gesetzlichen Tatbestand komme es aber allein auf die konkreten Verhältnisse an.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers hat Erfolg.

Für die Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG ist derjenige Beruf maßgebend, der für den Beschädigten die Existenzgrundlage bildet (BSG BVBl 1970, 100). Dies ergibt sich einmal aus dem Begriff „Erwerbsleben” in § 30 Abs. 1 BVG und außerdem aus den in § 30 Abs. 2 gebrauchten Formulierungen des „ausgeübten”, „begonnenen”, „nachweislich angestrebten” Berufes. In Übereinstimmung mit dem üblichen Sprachverständnis wird als (ausgeübter) Beruf die auf die Dauer vorgesehene – nicht nur vorübergehende – Arbeit bezeichnet, die der Schaffung und Erhaltung der Lebensgrundlage dient (BSGE 23, 231, 233; SozR Nr. 13 zu § 45 BVG; auch BSGE 10, 69, 71; 33, 151, 155 f; Urteil vom 16. Juli 1968 – 9 RV 610/67). Von Beruf in diesem Sinne ist der Kläger Maschinenschlosser, Dagegen ist seine Tätigkeit als Betriebsratsmitglied nicht als Beruf zu qualifizieren. Diese Aufgabe hat er „unentgeltlich als Ehrenamt” wahrgenommen (§ 37 Abs. 1 BetrVG). Von der „beruflichen Tätigkeit” war er gerade als Mitglied des Betriebsrats befreit (§ 37 Abs. 2, § 38 Abs. 1 BetrVG). Die Unentgeltlichkeit der Amtsausübung eines Betriebsratsangehörigen ist im Interesse der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des Amtsinhabers vorgeschrieben. Ihm soll für die Wahrnehmung seiner Funktionen keine Vergütung zufließen, weder unmittelbar noch versteckt (Fitting/Auffarth/Kaiser BetrVG, Handkommentar, 11. Aufl, Anm. 8 und 9 zu § 37). Der Anspruch des Betriebsratsmitglieds auf Lohnfortzahlung (§ 37 Abs. 4 BetrVG) wurzelt in dem Arbeitsvertrag (Fitting/Auffarth/Kaiser aaO Anm. 26 zu § 37; Dietz/Richardi, BetrVG, 5. Aufl, Rdnr 37 zu § 38). Sein Beschäftigungsverhältnis dauert so, wie es vorher bestand, fort und ist zB Grundlage der Beitragspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung (BSGE 24, 123). Das unvermindert weiterbezogene Arbeitsentgelt war aber kein Ausgleich für die ehrenamtliche Tätigkeit. Diese diente mithin nicht wie die Berufsarbeit der Existenz Sicherung. Auch war sie nicht nachhaltig, für die Dauer geplant. Vielmehr beträgt die Amtszeit eines Betriebsrates regelmäßig 3 Jahre (§ 21 Satz 1 BetrVG).

Was den Beruf als Maschinenschlosser anbetrifft, so hätte das LSG ermitteln müssen, ob und ggf seit wann der Kläger darin durch die Art. der Schädigungsfolgen betroffen ist (§ 30 Abs. 2 BVG). Vom Sachverhalt her bestand Anlaß genug, die Streitsache nach mehreren Tatbestandsseiten hin zu prüfen. Zunächst war die Länge des Zeitablaufs in Rechnung zu stellen. Die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers, auch sein Schädigungsleiden, könnten sich in der Zeit seit 1964, also seit seiner Wahl zum Mitglied des Betriebsrats, erheblich verschlechtert haben. Aufgrund zureichender Hinweise war zu erörtern, ob der Kläger weder dem bisherigen noch einem sozial gleichwertigen Beruf nachgehen konnte (§ 30 Abs. 2 Buchst a BVG). Ferner war zu bedenken, daß der Kläger, wenn er den bisherigen Beruf nach 1964 weiter ausgeübt hätte, dies möglicherweise auf Kosten seiner Gesundheit oder unter Aufbietung einer außergewöhnlichen, nicht zu erwartenden Energie getan hätte (§ 30 Abs. 2 Buchst b BVG; BSGE 13, 20, 23; 36, 21, 24; SozR Nr. 60 zu § 30 BVG). Es kam also unter diesem Aspekt auf eine Entwicklung seines Gesundheitszustandes und seiner körperlichen Funktionstüchtigkeit gerade im Hinblick auf die besonderen Anforderungen seines Berufes an. Hinzu kommt, daß der Kläger infolge der Schädigung am Aufstieg zum Vorarbeiter in seinem Beruf gehindert wurde; dies hat das LSG sogar, wenn auch ohne Anführung genauerer Belege, angenommen (§ 30 Abs. 2 Buchst c BVG). In diesen Richtungen waren Aufklärung und Feststellungen nicht deshalb entbehrlich, weil der Kläger als Mitglied des Betriebsrats den Lohn in eben dem Umfange weitererhielt, den er erzielt hätte, wenn er nicht von seiner betrieblichen Arbeitspflicht entbunden gewesen und wenn er leistungsfähig geblieben wäre (§ 37 Abs. 4 Satz 1, § 38 Abs. 1 BetrVG). Die Entscheidung des LSG wäre nur richtig, wenn das Arbeitseinkommen als solches, seine Höhe und seine Minderung unabhängig von der jeweiligen Arbeitsleistung und dem Leistungsvermögen des einzelnen unmittelbar Kriterium der besonderen beruflichen Betroffenheit wären. Dies trifft jedoch nicht zu.

Die ungewöhnliche Bürde einer Berufseinengung iS des § 30 Abs. 2 BVG ist ein wesentlicher Teil der MdE. In der MdE werden die „gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung” (§ 1 Abs. 1 BVG) ausgedrückt und in einem Wert bezeichnet (BSG Urteil vom 6. August 1963, 10 RV 1331/60 = DMW 1964, 1959). Da mit dem Grad, um den die Erwerbsfähigkeit gemindert ist, die wirtschaftlichen Folgen einer Gesundheitsstörung bemessen werden, versteht es sich von selbst, daß Verdiensteinbußen, die ein Beschädigter hinnehmen muß, ein wichtiger und brauchbarer Indikator für eine berufliche Beeinträchtigung und ihr Ausmaß sein können. So ist anerkannt, daß ein erheblicher wirtschaftlicher Nachteil auch aus einem Vergleich der tatsächlich erreichten Arbeitseinkünfte mit dem Einkommen, das ohne die Schädigung zu erwarten wäre, abgelesen werden kann. Dabei wird ein Minderverdienst von etwa 20 %als Ausdruck einer speziellen Berufsbelastung angesehen (BSGE 29, 139, 143; SozR 3100 § 30 Nr. 6; vgl. auch BSGE 26, 213). Finanzielle Gesichtspunkte geben aber nicht von Gesetzes wegen allein und notwendig immer den Ausschlag dafür, daß eine Erwerbsbehinderung im Einzelfall nach § 30 Abs. 2 BVG höher als nach der Einschränkung im allgemeinen Erwerbsleben zu veranschlagen ist. Der finanzielle Aspekt tritt für die Rechtsanwendung zurück, wenn eine Berufsposition nur unter außergewöhnlicher Energie und unter Gefährdung der Gesundheit ausgefüllt wird (BSGE 13, 20, 23; 36, 21, 24; SozR Nr. 60 zu § 30 BVG). Ferner kann bedeutsam sein, daß zwar nicht der wirtschaftliche Ertrag einer Tätigkeit, wohl aber das durch sie vermittelte soziale Ansehen wesentlich hinter dem zurückbleibt, was der einzelne in seinem Arbeitsleben ohne die Schädigung hatte (BSGE 10, 69; 12, 212; 29, 139, 142; SozR Nr. 36 zu § 30 BVG; Urteil vom 24. November 1965 – 9 RV 610/64; 10. Oktober 1972 – 9 RV 748/71). In § 30 Abs. 2 BVG ist denn auch unter den Gründen für die Annahme eines besonderen beruflichen Betroffenseins das Moment der finanziellen Einbuße nicht eigens aufgeführt (BSG 23. Juli 1970 – 8 RV 269/68 = VersorgB 71, 17). Deshalb mögen Mehrverdienste infolge von Überstundenvergütungen oder der Bezug der Grundrente bzw einer Rente aus einer gesetzlichen Rentenversicherung einen Einkommensausfall infolge der Schädigung wettmachen; gleichwohl sind sie ohne Belang dafür, daß der Beschädigte einen Nachteil erlitten hat, der den Tatbestand des § 30 Abs. 2 BVG verwirklicht (BSGE 15, 223; 30, 21, 23 f, 26 f; Urteil vom 23. Juli 1970 – 8 RV 269/68; 11. Juni 1970 – 9 RV 416/69 = Praxis 70, 470).

Von dieser in ständiger, gefestigter Rechtsprechung vertretenen Rechtsansicht ist der 10. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in einem Falle abgewichen, in dem der Beschädigte infolge der Schädigungsfolgen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden war. Der 10. Senat meinte, die an den Beschädigten aus der gesetzlichen Rentenversicherung gezahlte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit sei bei Beurteilung des Ausmaßes des besonderen beruflichen Betroffenseins zu berücksichtigen (Urteil vom 14. März 1975 SozR 3100 § 30 Nr. 6). Diese Entscheidung ist ua mit dem – über den konkreten Entscheidungszusammenhang hinausgehenden – Argument begründet worden, daß der aus der Berufsbetroffenheit resultierende Mehrbetrag der Grundrente auf den Berufsschadensausgleich anzurechnen sei (§ 30 Abs. 7 BVG idF vom 22. Juni 1976). Auf die Überlegungen des angeführten Urteils braucht indessen hier nicht abschließend eingegangen zu werden, weil im Streitfalle besondere berufliche Betroffenheit und Berufsschadensausgleich nicht miteinander konkurrieren. Hier ist wichtig, daß das besondere berufliche Betroffensein nicht den tatsächlichen Arbeitserwerb, sondern die Fähigkeit zum Erwerb betrifft. Von dieser Fähigkeit und ihrer Bewertung kann der Schwerbeschädigtenstatus oder die Erfüllung des Tatbestands der Erwerbsunfähigkeit abhängen (§ 31 Abs. 3 BVG). Dies kann wiederum wichtig für gesetzliche Vorzugsstellungen sein, zB für den Anspruch auf Berufsschadensausgleich, des weiteren für die Berechtigung auf Ausgleichsrente (§ 32 Abs. 1), Heilbehandlung nach § 10 Abs. 2, Alterszulage (§ 31 Abs. 1 Satz 2), Ehegattenzuschlag (§ 33 a), Kinderzuschlag (§ 33 b), Witwen- oder Waisenbeihilfe (§ 48 Abs. 1) oder für den Schadensausgleich nach § 40 a Abs. 3 usw. Hinzu kommt, daß das Arbeitsentgelt, welches der Kläger erhielt, in keinem direkten und aktuellen Zusammenhang mit einer Berufstätigkeit stand, also nicht Gegenleistung für erbrachte Arbeit war, sondern auf dem durch das BetrVG ausgesprochenen Verbot einer Minderung der arbeitsvertraglichen Lohnzahlungen beruhte (§ 37 Abs. 4 BetrVG). Wegen dieses Verbots der Lohnminderung blieb tatsächlich unbeachtet, daß die Leistungsfähigkeit des Klägers speziell in seinem beruflichen Wirkungsbereich erheblich gesunken oder gar geschwunden sein konnte. Dies blieb faktisch außer Betracht. Ob der Arbeitgeber auch aus Rechtsgründen die Entlohnung des Klägers während seiner Zugehörigkeit zum Betriebsrat nicht hätte ändern können, kann auf sich beruhen. Einer solchen Änderung könnte jedenfalls entgegenstehen, daß sie eine Änderungskündigung voraussetzte. Dagegen wäre aber das Mitglied des Betriebsrats gefeit, weil eine Änderungskündigung eine ordentliche Kündigung ist, der ein Betriebsratsmitglied nicht ausgesetzt ist (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Kündigungsschutzgesetz; § 103 BetrVG; Fitting/Auffarth/Kaiser, Anm. 3 zu § 103). Wie dem auch sei, das Arbeitsentgelt, das ein Betriebsratsmitglied empfängt, ist nicht das Äquivalent seiner realen persönlichen Arbeitsleistung. Wegen seiner Freistellung von der Berufsarbeit gilt als Bezugswert für die Bemessung des Lohnes das Entgelt vergleichbarer Arbeitnehmer mit betriebsüblicher beruflicher Entwicklung (§ 37 Abs. 4 BetrVG), also eine nur angenommene Größe. Für das besondere berufliche Betroffensein ist hingegen auf die wirklichen, die Erwerbsfähigkeit des einzelnen konkret beeinträchtigenden Gegebenheiten abzuheben. Infolgedessen sind Tatsache und Höhe des Einkommens, das der Kläger als Mitglied des Betriebsrates hatte, für die Bemessung seiner MdE unerheblich. Die Richtigkeit der hier vertretenen Auffassung wird verdeutlicht, wenn man sich eine andere Fallgestaltung vor Augen führt, nämlich die, daß die Berufsbetroffenheit bereits anerkannt gewesen war, bevor der Beschädigte das Ehrenamt antrat. Wollte man dann der Stellung des Betriebsratsmitglieds einen Einfluß auf die Bewertung der MdE, insbesondere auf das Merkmal der beruflichen Betroffenheit, beimessen, so hätte dies im Wege eines Änderungsbescheides gemäß § 62 BVG zu geschehen. Die Wahl zum Mitglied des Betriebsrats änderte aber nichts an denjenigen Verhältnissen, welche für die Feststellung des Versorgungsanspruchs maßgebend gewesen wären. Denn diese Verhältnisse beträfen die Fähigkeit zur Berufsarbeit. Infolgedessen tauchte die Frage der Kollision von höherer MdE und gesetzlich verbrieftem Einkommen eines Betriebsratsmitgliedes gar nicht auf. Außerdem verböte sich die Berücksichtigung des Ehrenamtes zum Nachteil des beruflich Betroffenen gemäß § 78 Satz 2 BetrVG, wonach die Mitglieder des Betriebsrats wegen ihrer Tätigkeit nicht benachteiligt oder begünstigt werden dürfen.

Das Ergebnis dieser Rechtsauslegung ist freilich eine Rechtslage, die den Kläger als Mitglied eines Betriebsverfassungsorgans – mittelbar – besserstellt als andere Arbeitnehmer. Für die Zeit, in welcher ein Absinken seiner Leistungskraft sich nicht in einer Änderung seines Arbeitsverhältnisses und in der Höhe seines Lohnes niederschlägt, weil sein Arbeitsentgelt auf einer bestimmten Höhe garantiert ist, kann er dennoch wegen Nachlassens seiner Erwerbsfähigkeit höhere Versorgungsbezüge erhalten. Dieses Resultat mag der Tendenz, wenn auch nicht direkt, der Regelung des § 78 Satz 2 BetrVG zu widerstreiten scheinen. Hier ist indessen wichtig, daß dem Kläger der Vorteil höherer Versorgungsleistungen nicht „wegen” seiner Betriebsratstätigkeit zuteil wird, sondern gerade, wie oben ausgeführt worden ist, unabhängig von dieser ehrenamtlichen Stellung. Es fehlt mithin an einem Kausalzusammenhang zwischen der Mandatsträgerschaft und der durch das Versorgungsrecht gewährten Rechtswohltat. Auf diese ursächliche Verknüpfung von Amt und Bevorzugung wird jedoch in dem Verbot des § 78 Satz 2 BetrVG abgestellt (Galperin/Löwisch, 5. Aufl, II Anm. 5 zu § 78; Erdmann/Jürging/Kammann, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz 1972, Erl. 6 zu § 78; Fitting/Auffarth/Kaiser, Anm. 7 zu § 78). Dem eigentlichen Sinngehalt der Rechtsnorm ist daher der hier gegebene Sachverhalt nicht unterzuordnen. Nur wenn man dem § 78 BetrVG darüber hinaus die gesetzgeberische Absicht entnehmen wollte, daß jegliche Diskriminierung und Privilegierung von Betriebsratsmitgliedern unterbunden sein sollen, könnte das hier gefundene Ergebnis als unpassend erscheinen. Dabei wäre aber nicht zu übersehen, daß die Unstimmigkeit von versorgungsrechtlicher Lösung und betriebsverfassungsrechtlicher Normvorstellung nicht durch das Versorgungsrecht hervorgerufen ist. Dieses leitet seine Rechtsfolge von der Erfüllung eines gesetzlichen Tatbestandes her, der wirkliche, die Erwerbsfähigkeit bestimmende Verhältnisse und Zustände beschreibt. Demgegenüber beziehen sich das Arbeits- und Betriebsverfassungsrecht auf die Fortdauer eines Vergleichstatbestandes, der in der Realität überholt sein kann. Dies kann die Quelle einer Vergünstigung des Betriebsratsmitgliedes sein, die nach der Zielsetzung des § 78 Satz 2 BetrVG nicht erwünscht sein mag, bei der geltenden Rechtsordnung aber unvermeidbar ist (ähnlich: BSG SozR Nr. 41 zu § 45 RKG).

Hiernach ist nicht auszuschließen, daß der Kläger wegen besonderen beruflichen Betroffenseins Anspruch auf eine Erhöhung seiner Versorgungsleistungen hat. Damit die tatsächliche Seite der Sache nach den oben angegebenen Richtungen hin geklärt werden kann, ist das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926303

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