Leitsatz (redaktionell)

1. Wenn der jetzige Beruf eines Beschädigten ebenso wie der frühere eine angelernte Tätigkeit darstellt, so ist mangels erheblicher Unterschiede im sozialen Rang dieser Tätigkeit ein sozialer Abstieg zu verneinen. Der Umstand, daß ein im früheren Beruf des Beschädigten Tätiger in der Regel als Facharbeiter entlohnt wird, kann zu keinem anderen Ergebnis führen.

Zwar kann ein Beruf schon dann sozial ungleichwertig sein, wenn er gegenüber dem früheren Beruf zu einer erheblichen wirtschaftlichen Einbuße führt. Dies kann aber dann nicht gelten, wenn klare und allgemein anerkannte Abgrenzungsmerkmale (gelernte und angelernte Tätigkeit) für die soziale Wertung gegeben sind und ein besonderes berufliches Betroffensein aus wirtschaftlichen Erwägungen nicht vorliegt.

2. Unter Berücksichtigung der Beschädigtengrundrente von 150 DM bzw 180 DM kann bei einem amtlichen Minderverdienst von 100 DM ohne Rechtsirrtum ein wesentlicher wirtschaftlicher Schaden verneint werden.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 2 Buchst. a

 

Tenor

Die Sprungrevision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28. April 1964 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger ist bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht als Holzfaserplattenmacher tätig gewesen. Als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) sind bei ihm Stecksplitter in der linken Lunge, geringe Zwerchfellverklebung, Narben und Knochennarbe am linken Oberarm, Metallsplitter in den Weichteilen des linken Unterarmes, Verlust des rechten Beines im oberen Drittel des Oberschenkels, Narben in der linken Kniekehle und Narbe an der linken Wange bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H. anerkannt. Mit Bescheid vom 12. Juli 1961 wurde ein besonderes berufliches Betroffensein verneint, weil der heutige Beruf als Gummischwabbler eine gegenüber dem erlernten Beruf sozial gleichwertige Tätigkeit darstelle. Der Widerspruch blieb erfolglos. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage mit Urteil vom 28. April 1964 ab und ließ die Berufung zu. Der Kläger sei in seinem jetzt ausgeübten Beruf als Spiral-Federnwickler nicht höher beeinträchtigt als im allgemeinen Erwerbsleben. Ein sozialer Abstieg liege nicht vor. Bei dem früheren Beruf eines Holzfaserplattenmachers handele es sich, obwohl er in der Regel als Facharbeiter entlohnt werde, um eine Anlerntätigkeit. Zwar könne der Kläger diesen Beruf nicht mehr ausüben, da er ausschließlich im Stehen und Gehen ausgeübt werden müsse; auch kämen Umschulungsmaßnahmen nicht in Betracht. Die jetzige Tätigkeit als Spiral-Federnwickler stelle aber auch eine angelernte Hilfsarbeitertätigkeit dar, und zwar eine solche mit einer Anlernzeit von ca. drei Monaten. Es handele sich somit im jetzigen wie im früheren Beruf nicht um echte Facharbeiterberufe, weshalb kein, jedenfalls kein wesentlicher sozialer Abstieg vorliege. Zu den Facharbeitern gehörten nur solche Arbeitnehmer, die einen Beruf ordnungsgemäß erlernt und die vorgeschriebene Prüfung abgelegt hätten. Es könne nicht entscheidend darauf ankommen, daß eine Entlohnung wie bei einem Facharbeiter erfolge. Wenn der Kläger als Facharbeiter in der Faserplatten- und Sperrholzindustrie von Ost-Westfalen - namhafte Holzfaserplattenbetriebe gebe es in Nordrhein-Westfalen (NRW) nicht - im Akkord arbeiten könnte, würde er monatlich etwa 700,- DM anstatt im Jahre 1963 etwa 600,- DM verdienen. Da er aber bis 31. Dezember 1963 150,- DM und danach 180,- DM Grundrente erhalte, habe er durch die Schädigung auch keinen außergewöhnlichen wirtschaftlichen Schaden erlitten. Die frühere Tätigkeit als Gummischwabbler habe außer Betracht zu bleiben, da es sich um eine wesentlich durch die Flucht aus der Ostzone bedingte Übergangsbeschäftigung gehandelt habe.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger unter Vorlage einer Einwilligungserklärung des Beklagten Sprungrevision eingelegt; er rügt Verletzung des § 30 Abs. 2 BVG. Zutreffend sei das SG von der Fassung dieser Vorschrift ausgegangen, die sie durch das Zweite Neuordnungsgesetz vom 21. Februar 1964 (Bundesgesetzblatt I, 85 - 2. NOG -) erhalten habe. Es habe diese Vorschrift jedoch bei der Auslegung des Begriffs des Facharbeiters und damit des sozialen Abstiegs verletzt und sich in Widerspruch zum Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 15. Dezember 1961 - 8 RV 1445/59 - gesetzt. Der frühere Beruf sei dem eines Facharbeiters gleichzustellen, weil in den Tarifverträgen insoweit von einem Facharbeiterlohn gesprochen werde. Der Wechsel in die berufsfremde Metallindustrie müsse als ein Abgleiten in der sozialen Schicht im Sinne der genannten BSG-Entscheidung angesehen werden. Das SG hätte ferner in dem Minderverdienst von 100,- DM monatlich einen außergewöhnlichen wirtschaftlichen Schaden erblicken müssen. Der Kläger beantragt, das Urteil des SG insoweit aufzuheben, als es die Klage abgewiesen hat und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 12. Juli 1961 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 1962 zu verurteilen, ab 1. September 1960 unter Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit Rente nach einer MdE von mehr als 80 v. H. zu gewähren. Der Beklagte beantragt, die Sprungrevision als unbegründet zurückzuweisen. Ein Hilfsarbeiter könne durch tarifliche Vergünstigungen kein Facharbeiter werden. Darüber hinaus sei der Kläger nach seiner Übersiedlung aus der Ostzone auch ohne die Schädigungsfolgen zu einem Berufswechsel gezwungen worden, weil in NRW keine namhaften Holzfaserplattenbetriebe bestünden.

Die Sprungrevision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher statthaft (§§ 161, 164, 166 SGG); sachlich ist sie nicht begründet.

Nach § 30 Abs. 2 BVG in der Fassung des Ersten Neuordnungsgesetzes (1. NOG) vom 27. Juni 1960 (Bundesgesetzblatt I, 453) ist die MdE höher zu bewerten, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem früheren oder derzeitigen Beruf besonders betroffen ist. Das ist u. a. der Fall, wenn er infolge der Schädigung weder seinen bisherigen Beruf noch einen sozial gleichwertigen Beruf ausüben kann. Diese Vorschrift ist durch das 2. NOG nur unwesentlich geändert worden. Die Feststellung des SG, daß es sich bei der Tätigkeit des Klägers als Gummischwabbler nur um eine durch die Flucht des Klägers bedingte Übergangsbeschäftigung gehandelt habe, die bei der Prüfung einer besonderen beruflichen Betroffenheit außer Betracht zu bleiben habe, ist von der Revision nicht angegriffen und daher, soweit sie tatsächlicher Natur ist, nach § 163 SGG für das BSG bindend. Sonach war bei der Prüfung einer besonderen beruflichen Betroffenheit des Klägers von seinem jetzigen Beruf als Spiral-Federnwickler auszugehen.

Zutreffend hat das SG zunächst eine besondere berufliche Betroffenheit durch einen in diesem Beruf etwa entstandenen erheblichen wirtschaftlichen Schaden verneint. Wie der erkennende Senat im Urteil vom 28. August 1964 - 9 RV 378/63 - (vgl. SozR Nr. 17 zu § 30 BVG) bereits entschieden hat, sollen durch § 30 Abs. 2 BVG die über die Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben hinausgehenden besonderen Nachteile ausgeglichen werden (BSG 12, 212; 15, 226). Daraus ergibt sich, daß nicht alle Nachteile, die der Versorgungsberechtigte in seinem Beruf erleidet, bereits ein besonderes berufliches Betroffensein begründen. Wenn nach der Art der Schädigung die Nachteile ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des einzelnen Berufs eine annähernd gleichmäßige Bedeutung haben, geht die Beeinträchtigung nicht über die MdE im allgemeinen Erwerbsleben hinaus und stellt keine besondere berufliche Betroffenheit dar. Der im Oberschenkel amputierte und zu 80 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigte Kläger kann nach den unangegriffenen Feststellungen des SG den früheren Beruf nicht ausüben, da er ausschließlich im Stehen und Gehen ausgeführt werden muß. Der Kläger ist also ohne Rücksicht auf die Besonderheiten einzelner Berufe als Handarbeiter allgemein von solchen Tätigkeiten ausgeschlossen, die nur im Stehen verrichtet werden können. Er ist damit bereits im allgemeinen Erwerbsleben derart in seiner Erwerbsfähigkeit behindert, daß er solche Nachteile im Berufsleben in Kauf nehmen muß, die durch die Bewertung der MdE im allgemeinen Erwerbsleben als mit abgegolten zu erachten sind. Das SG hat insoweit zutreffend den monatlichen Minderverdienst von 100,- DM des Klägers der ihm gewährten Beschädigten-Grundrente von 150,- bezw. 180,- DM gegenübergestellt. Da sich hiernach im Ergebnis keine finanzielle Schlechterstellung des Klägers ergab, konnte das SG auch bei Würdigung des Charakters der Grundrente, die sowohl wegen der wirtschaftlichen als auch der gesundheitlichen Folgen der Schädigung gewährt wird (§§ 1 Abs. 1, 30 Abs. 1 BVG), das Vorliegen eines außergewöhnlichen, d. h. erheblichen wirtschaftlichen Schadens ohne Rechtsirrtum verneinen.

Allerdings sind für die Frage, ob die MdE höher als nach der Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu bewerten ist, nicht allein wirtschaftliche Gesichtspunkte maßgebend. Eine besondere berufliche Betroffenheit kann, wie das Gesetz andeutet, auch dann vorliegen, wenn die spätere Tätigkeit zwar nicht hinsichtlich des wirtschaftlichen Ertrages, wohl aber in der sozialen Wertung hinter der früheren Tätigkeit wesentlich zurückbleibt. Dies ist z. B. der Fall, wenn ein Facharbeiter wegen der Art der Schädigung nur noch als Hilfsarbeiter tätig werden kann (vgl. BSG 10, 69). Das SG konnte jedoch im vorliegenden Fall auch einen sozialen Abstieg des Klägers verneinen. Nach den Feststellungen des SG hat der Kläger keinen Facharbeiterberuf erlernt; er ist weder Holzfaserplattenmacherlehrling gewesen noch hat er eine Facharbeiterprüfung abgelegt; bei seinem früheren Beruf hat es sich um eine "Anlerntätigkeit" gehandelt. Andererseits stellt die jetzige Tätigkeit eines Spiral-Federnwicklers keine bloße Hilfsarbeitertätigkeit, sondern ebenfalls eine angelernte Tätigkeit dar, die eine Anlernzeit von etwa drei Monaten voraussetzt. Das SG konnte auf Grund dieser unangegriffenen Feststellungen zu dem Ergebnis gelangen, daß beide Tätigkeiten keine echten Facharbeiterberufe darstellen und daß mangels erheblicher Unterschiede in ihrem sozialen Rang mit dem Wechsel von der früheren zur jetzigen Tätigkeit kein wesentlicher sozialer Abstieg verbunden ist. Der vor - liegende Fall unterscheidet sich sonach wesentlich von dem Fall, der in dem von der Revision zitierten Urteil des BSG vom 15. Dezember 1961 - 8 RV 1445/59 - entschieden worden ist. Dort hatte ein Berufswechsel vom gelernten Gärtner zum ungelernten Hilfsarbeiter stattgefunden.

Der Umstand, daß der Holzfaserplattenmacher in der Regel als Facharbeiter entlohnt wird, mußte das SG zu keiner anderen Beurteilung veranlassen. Denn damit ist nur festgestellt, daß in diesem Beruf, der in NRW so selten vorkommt, daß die Gewerkschaft Holz dafür keinen Tarifvertrag abgeschlossen hat, regelmäßig Facharbeiterlöhne gezahlt werden, obwohl nur eine angelernte Tätigkeit verrichtet wird. Es kann dahinstehen, ob dies deshalb geschieht, weil dieser Beruf verhältnismäßig selten ist. Jedenfalls kann die Tatsache, daß "in der Regel" Facharbeiterlohn gezahlt wird, der angelernten Tätigkeit nicht den Charakter einer Facharbeitertätigkeit verleihen. Zwar kann ein Beruf auch schon dann sozial ungleichwertig sein, wenn er gegenüber dem früheren Beruf zu einer erheblichen wirtschaftlichen Einbuße führt (vgl. BSG 12, 213). Dies ist aber jedenfalls dann nicht der Fall, wenn - wie hier - klare und allgemein anerkannte Abgrenzungsmerkmale (gelernte und angelernte Tätigkeit) für die soziale Wertung der Tätigkeit gegeben sind und ein besonderes berufliches Betroffensein aus rein wirtschaftlichen Erwägungen ausscheidet.

Da nach alledem das angefochtene Urteil nicht zu beanstanden ist, war die Sprungrevision als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380504

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