Entscheidungsstichwort (Thema)

Langjährige Facharbeitertätigkeit. Verweisung auf Pförtnertätigkeiten. Verweisbarkeit eines Facharbeiters

 

Orientierungssatz

1. Die Verweisung eines Facharbeiters auf eine andere zumutbare Berufstätigkeit scheitert grundsätzlich weder am fortgeschrittenen Lebensalter noch an der langjährigen Ausübung des bisherigen Berufs noch an beiden zusammen.

2. Pförtnertätigkeiten, die ohne Bewährungsaufstieg zu Lohngruppe V des MTL II gehören, sind einem Facharbeiter grundsätzlich zumutbar; denn sie stehen tariflich einem Ausbildungsberuf gleich. Dasselbe gilt für diejenigen Aufseher in Galerien, Museen und Schlössern, zu deren Tätigkeit das Erheben von Eintrittsgeld gehört und die deswegen in Lohngruppe V eingestuft sind.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; MTL 2

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 10.06.1980; Aktenzeichen L 5 J 290/78)

SG Kiel (Entscheidung vom 08.08.1978; Aktenzeichen S 4 J 363/77)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente.

Der 1922 geborene Kläger war in seinem erlernten Isoliererberuf jahrzehntelang beschäftigt, bis er im November 1975 einen Herzhinterwandinfarkt erlitt. Nachdem er Ende 1976/Anfang 1977 nochmals berufstätig gewesen war, wurde er wegen eines Schulter-Arm-Syndroms erneut arbeitsunfähig krank. Seinen im Mai 1977 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 18. Oktober 1977 ab. Die hiergegen erhobene Klage sowie die Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Urteile des Sozialgerichts -SG- Kiel vom 8. August 1978 und des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts -LSG- vom 10. Juni 1980).

Das LSG ist davon ausgegangen, daß der Kläger im wesentlichen durch eine Herzkranzarteriensklerose mit Zustand nach Herzhinterwandinfarkt sowie durch Verschleißerscheinungen insbesondere der Lendenwirbelsäule in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt werde. Es hat ihn für fähig gehalten, leichte körperliche Arbeiten ohne besonderen Zeitdruck und ohne Wechselschicht im Sitzen fortgesetzt, im Stehen mit Unterbrechungen zu verrichten. Damit könne er in seinem Beruf als Facharbeiter im Isolierhandwerk nicht mehr arbeiten. Dennoch sei er nicht berufsunfähig, weil er sich auf die Tätigkeit eines sogenannten gehobenen Pförtners im öffentlichen Dienst verweisen lassen müsse. Es kämen zumindest solche Tätigkeiten von Pförtnern der Lohngruppe V nach dem Tarifvertrag über das Lohngruppenverzeichnis zum Manteltarifvertrag der Arbeiter der Länder vom 11. Juli 1966 (MTL II) in Betracht, die in nicht unerheblichem Umfang mit schriftlichen Arbeiten beschäftigt seien oder im Fernsprechvermittlungsdienst mehr als einen Amtsanschluß zu bedienen hätten. Dem Kläger sei aufgrund seiner Ausbildung als Facharbeiter zuzumuten, sich in weniger als 3 Monaten auf einem derartigen Arbeitsplatz einzuarbeiten. Für eine eingeschränkte Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit hätten die medizinischen Gutachten keinen Anhaltspunkt ergeben. Auch auf Tätigkeiten eines Galerie-, Museums- und Schloßaufsehers, die, wenn das Qualifikationsmerkmal der Erhebung von Eintrittsgeldern hinzukomme, sogar in Lohngruppe V eingestuft seien, könne der Kläger verwiesen werden.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Er meint, im Hinblick auf sein Lebensalter sei ihm die Verweisung auf eine andere Tätigkeit als den langjährig ausgeübten bisherigen Facharbeiterberuf nicht zumutbar. Zudem handele es sich bei gehobenen Pförtnertätigkeiten des öffentlichen Dienstes um Arbeitsplätze, zu denen Außenstehende so gut wie keinen Zugang hätten. Außerdem habe das LSG den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt; er - der Kläger - sei erstmals in den Gründen des angefochtenen Urteils mit der Feststellung überrascht worden, sich binnen 3 Monaten die Fähigkeiten eines in Lohngruppe V MTL II eingestuften Pförtners oder Aufsehers aneignen zu können.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen

Landessozialgerichts vom 10. Juni 1980 sowie

des Sozialgerichts Kiel vom 8. August 1978

aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung

ihres Bescheides vom 18. Oktober 1977 zu

verurteilen, ihm Versichertenrente wegen

Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden muß. Die - teils verfahrensfehlerhaft zustande gekommenen - Feststellungen des LSG reichen zur Beantwortung der Frage nach der Berufsunfähigkeit nicht aus.

Gemäß § 1246 Abs 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten beträgt. Nach Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm (subjektiv) unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Hiernach stehen die sogenannten Verweisungstätigkeiten in einer Wechselwirkung zum bisherigen Beruf (Hauptberuf). Von ihm aus bestimmt sich, welche Verweisungstätigkeiten als zumutbar in Betracht kommen.

Das LSG ist zutreffend, wenn auch ohne ausdrücklichen Hinweis in den Urteilsgründen, vom erlernten und bis zur Rentenantragstellung ausgeübten Facharbeiterberuf des Isolierers als dem bisherigen Beruf des Klägers ausgegangen. Es hat unwidersprochen und deshalb für den Senat bindend festgestellt, daß der Kläger kein Vorarbeiter mit Leitungsfunktion, sondern nur "normaler" Isolierer-Facharbeiter gewesen ist, des weiteren, daß er aus gesundheitlichen Gründen die Anforderungen dieses Berufs nicht mehr erfüllen kann.

Die Verweisbarkeit eines Facharbeiters unterliegt Beschränkungen. Diese gehen aber nicht so weit, wie der Kläger mit der Revision darlegen möchte. Die Verweisung eines Facharbeiters auf eine andere zumutbare Berufstätigkeit scheitert grundsätzlich weder am fortgeschrittenen Lebensalter noch an der langjährigen Ausübung des bisherigen Berufs noch an beiden zusammen. Zwar ist dem Kläger zuzugeben, daß die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), namentlich in früherer Zeit, Zusammenhänge zwischen langjähriger Ausübung des qualifizierten Berufs und vorgerücktem Lebensalter auf der einen Seite sowie Begrenzung der Verweisbarkeit andererseits angesprochen hat (vgl hierzu die vom Kläger erwähnten Urteile vom 25. Mai 1972 - 11 RA 124/71 = SozR Nr 102 zu § 1246 RVO und vom 31. Oktober 1972 - 4 RJ 165/72 = SozR aaO Nr 106, ferner Urteil vom 5. Juli 1962 - 5 RKn 18/61 = BSGE 17, 191, 194 = SozR RKG Nr 6 zu § 46 RKG; vgl auch Urteil des Senats vom 21. September 1977 - 4 RJ 101/76 = SozVers 1978, 111). Das BSG hat aber, soweit ersichtlich, nirgend entschieden, daß wegen der genannten Kriterien allein jegliche Verweisung auf eine andere Tätigkeit ausscheiden müßte. Auch der vorliegende Rechtsstreit gibt hierzu keine Veranlassung. Die Versicherungsfälle der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit knüpfen nicht an das Lebensalter und/oder die langjährige Ausübung des bisherigen Berufs an. Daß es in Ausnahmefällen - so etwa, wenn kurze Zeit vor Einsetzen des Altersruhegeldes wegen Vollendung des 65. Lebensjahres gesundheitliche Gründe zur Aufgabe des bisherigen Facharbeiterberufs zwingen - unzumutbar sein kann, dem Versicherten eine neue Berufstätigkeit anzusinnen, bedarf hier keiner näheren Erörterung. Denn beim Kläger handelt es sich um keinen solchen Ausnahmefall.

Dessen ungeachtet kann ein Facharbeiter (nur) auf Tätigkeiten eines angelernten Arbeiters verwiesen werden (zur Aufgabe der berufssystematischen Unterscheidung zwischen anerkanntem Lehr- und Anlernberuf im Zusammenhang mit dem von der Rechtsprechung des BSG erarbeiteten Mehrstufenschema, vgl Urteil des BSG vom 20. Januar 1976 - 5/12 RJ 132/75 = BSGE 41, 129, 132 f = SozR 2200 § 1246 Nr 11), wobei darunter allerdings nicht nur die - seltenen - Ausbildungsberufe zu verstehen sind, die eine Regelausbildungszeit von ein bis zwei Jahren voraussetzen, sondern auch Tätigkeiten, die eine echte betriebliche Ausbildung erfordern, sofern diese eindeutig das Stadium der bloßen Einweisung und Einarbeitung überschreitet (zB BSG, Urteil vom 30. März 1977 - 5 RJ 98/76 = BSGE 43, 243, 245 = SozR 2200 § 1246 Nr 16). Darüber hinaus gehören zum Verweisungsbereich bisheriger Facharbeiter unter bestimmten Voraussetzungen auch ungelernte Tätigkeiten, nämlich dann, wenn sie sich aufgrund besonderer Merkmale - etwa durch eine Vertrauensstellung oder besondere Verantwortung - aus dem Kreis anderer ungelernter Arbeiten deutlich herausheben. Das gilt jedenfalls für diejenigen Tätigkeiten, die wegen ihrer Qualität - nicht wegen mit ihnen verbundener Nachteile oder Erschwernisse - tariflich wie Ausbildungsberufe eingestuft sind (vgl zB BSG, Urteil vom 12. November 1980 - 1 RJ 104/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 69 und die dort zitierte Rechtsprechung sowie Urteil des erkennenden Senats vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 83/79 = SozR aaO Nr 72).

Diesen Erfordernissen genügen die vom Berufungsgericht genannten Pförtnertätigkeiten, die ohne Bewährungsaufstieg zur Lohngruppe V des MTL II gehören. Es sind dies Pförtner, die in nicht unerheblichem Umfang mit schriftlichen Arbeiten beschäftigt sind oder die im Fernsprechvermittlungsdienst mehr als einen Amtsanschluß zu bedienen haben (jetzt mit Wirkung vom 1. Januar 1981 MTL II idF des Änderungs-Tarifvertrags Nr 7 vom 7. September 1980 bei gleichem Regelungsinhalt Lohngruppe V Nr 4.29, Untergruppen a und b). Solche Tätigkeiten sind dem Kläger grundsätzlich zumutbar; denn sie stehen tariflich einem Ausbildungsberuf gleich. Dasselbe gilt für diejenigen - ebenfalls vom LSG erwähnten - Aufseher in Galerien, Museen und Schlössern, zu deren Tätigkeit das Erheben von Eintrittsgeld gehört und die deswegen in Lohngruppe V eingestuft sind (vgl MTL II idF vom 10. September 1980 unter Lohngruppe V zu 4. Nr 15).

Die vom Berufungsgericht ausgesprochene Verweisung ist jedoch verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Der Kläger hat schlüssig unter Bezug auf die Gerichtsakte, insbesondere die Verhandlungsniederschriften vom 13. November 1979 und 10. Juni 1980 vorgetragen, mit der Verweisung auf die "gehobenen" Pförtner- sowie Aufsehertätigkeiten der Lohngruppe V überrascht worden zu sein, so daß er sich nicht zu den insoweit dem angefochtenen Urteil zugrundeliegenden Tatsachen, vor allem zur Frage seiner körperlichen und geistigen Eignung sowie darüber, ob er genügend berufsspezifische Kenntnisse besitze oder innerhalb von 3 Monaten zu erwerben in der Lage sei, habe äußern können. Damit rügt der Kläger zutreffend eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, nämlich einen Verstoß gegen §§ 62, 128 Abs 2 SGG (vgl Urteile des BSG vom 30. April 1975 - 12 RJ 340/74 = SozR 1500 § 128 Nr 4 und vom 11. September 1980 - 1 RJ 122/79). Der Rechtsstreit ist daher an das LSG zurückzuverweisen. Das LSG wird dem Kläger Gelegenheit geben müssen, sich zu den bezeichneten Fragen zu äußern, und danach zu prüfen haben, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang sich eine weitere Sachaufklärung erforderlich macht.

Das LSG wird auch zu beachten haben, daß sich zumindest im Zusammenhang mit der Verweisung auf Aufsehertätigkeiten die Frage aufdrängt, ob überhaupt ein offener Arbeitsmarkt für derartige Tätigkeiten besteht. Zwar hat das BSG entschieden, daß die Bezeichnung nur einer zumutbaren Verweisungstätigkeit genüge, um das Risiko der Rentenversicherung auszuschalten; dieses Prinzip gilt aber nicht ausnahmslos. Sind für eine Tätigkeit überhaupt nur einzelne wenige - freie oder besetzte - Arbeitsplätze vorhanden, so kann ein Versicherter in aller Regel darauf nicht verwiesen werden (vgl Urteile des Senats vom 14. Mai 1981 - 4 RJ 125/79 - und vom 17. September 1981 - 4 RJ 101/80 -). Die erwähnten Aufsehertätigkeiten sind ohnehin aufgrund der Natur der Sache zahlenmäßig begrenzt. Hinzu kommt, daß Arbeitsplätze derjenigen Aufseher, die erst nach fünfjähriger Bewährung in der Lohngruppe V aufgestiegen sind, außer Betracht bleiben müssen, andererseits aber unbekannt ist, in welchem Verhältnis derartige "Aufstiegsplätze" zu denjenigen stehen, die mit dem Qualifikationsmerkmal "Erheben von Eintrittsgeld" sofort - ohne Bewährung - besetzt werden können. Falls erforderlich, müssen insofern zunächst die Gegebenheiten der Arbeitswirklichkeit untersucht werden, um danach beurteilen zu können, ob es einen offenen Arbeitsmarkt gibt.

Das LSG wird auch erneut über die Kosten zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660625

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