Entscheidungsstichwort (Thema)

Verweisung eines Facharbeiters (hier: Maurer auf Pförtnertätigkeit

 

Orientierungssatz

1. Die tarifliche Einstufung ist wichtiges Indiz für die Zumutbarkeit im Rahmen des § 1246 Abs 2 RVO, doch gilt dies dann nicht, wenn die Einstufung auf Gründen beruht, die mit der Qualität des Arbeitsinhalts nicht in Zusammenhang stehen (vgl BSG 1980-12-03 4 RJ 35/80).

2. Sind für eine Tätigkeit nur einzelne, wenige Arbeitsplätze existent, seien sie frei oder besetzt, kann ein Versicherter im allgemeinen nicht darauf verwiesen werden. Die gleiche rechtliche Folgerung ist auch dann zu ziehen, wenn zumutbare Arbeitsplätze, obzwar in ausreichender Anzahl vorhanden, nur Betriebsangehörige unter besonderen, für Betriebsfremde nicht üblichen Arbeitsbedingungen vorbehalten bleiben und deshalb dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht offenstehen.

3. Hinsichtlich der Lohnhöhe kann aus dem Gesetz eine Grenze allenfalls dahin gezogen werden, daß die übliche Entlohnung in der Verweisungstätigkeit nicht geringer sein darf als die Hälfte der üblichen Entlohnung im bisherigen Beruf eines Versicherten.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 03.06.1980; Aktenzeichen L 13 J 122/78)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 30.03.1978; Aktenzeichen S 6 J 262/76)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit.

Der 1931 geborene Kläger hat den Beruf eines Maurers erlernt und während seines Arbeitslebens im wesentlichen ausgeübt. Zuletzt war er bis 1976 mit Stuck- und Putzarbeiten beschäftigt; er hat eine dreijährige Lehre absolviert.

Den im März 1976 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 17. Mai 1976 ab. Die hiergegen erhobene Klage blieb ohne Erfolg. Das Sozialgericht verwies den Kläger in seinem Urteil vom 30. März 1978 auf Tätigkeiten als Verwieger, Lagerhallenaufseher, Baulagerverwalter, Materialausgeber, Kontrolleur und Prüfer, Hausmeister, Messungsgehilfe oder Apparatewärter. Die Berufung des Klägers wurde durch Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen vom 3. Juni 1980 zurückgewiesen mit der Begründung, nach seinem Gesundheitszustand könne der Kläger seinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben; eine Verweisung des Klägers auf die im sozialgerichtlichen Urteil genannten Tätigkeiten komme ebenfalls nicht in Betracht, doch sei der Kläger noch in der Lage, die Tätigkeit eines Pförtners nach der Lohngruppe V MTL II und der Vergütungsgruppe VIII BAT auszuüben. Diese Tätigkeiten entsprächen nach ihrer tariflichen Einstufung einem Ausbildungsberuf und erforderten nur eine Einarbeitungszeit von höchstens drei Monaten.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision trägt der Kläger vor, hinsichtlich der Beurteilung seiner geistigen Leistungsfähigkeit habe das LSG die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten. Es hätte den Sachverhalt in dieser Richtung weiter aufklären müssen. Weiterhin habe das LSG die von ihm in Betracht gezogenen Verweisungstätigkeiten nicht hinreichend konkretisiert, insbesondere nicht unter dem Gesichtspunkt, ob der Kläger ihren Anforderungen gewachsen sei. Schließlich seien diese Verweisungstätigkeiten dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zugänglich und im Vergleich zum bisherigen Beruf des Klägers auch zu niedrig entlohnt.

Der Kläger beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid

der Beklagten vom 17. Mai 1976 aufzuheben und die

Beklagte zu verurteilen, Versichertenrente wegen

Erwerbsunfähigkeit hilfsweise wegen

Berufsunfähigkeit in gesetzlicher Höhe ab 1. April 1976

zu gewähren,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung

und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen zur Klärung des Vorliegens von Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit (§ 1246 Abs 2, § 1247 Abs 2 Reichsversicherungsordnung -RVO-) nicht aus.

Nach den unangefochtenen und damit bindenden Feststellungen des LSG kann der Kläger seinen bisherigen Beruf als Maurer und Putzer nicht mehr ausüben. Im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (so zuletzt die Urteile des erkennenden Senats vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 35/80 -; vom 14. Mai 1981 - 4 RJ 41/80 -) hat das LSG den Kläger als Facharbeiter auf Ausbildungsberufe oder Tätigkeiten, die wegen ihrer tariflichen Einstufung einem Ausbildungsberuf vergleichbar sind, verwiesen. In diesem Rahmen hat es als dem Kläger zumutbare Tätigkeit die eines Pförtners der Lohngruppe V MTL II bzw der Vergütungsgruppe VIII BAT konkret bezeichnet. Diese Tätigkeit gehört nach ihrer tariflichen Einstufung zur Gruppe der sonstigen Ausbildungsberufe (Anlernberufe).

Die Feststellungen des LSG zum Restleistungsvermögen des Klägers in medizinischer Hinsicht begegnen ebenfalls keinen Bedenken. Insoweit ist der Revision des Klägers nicht zu folgen. Aus den ärztlichen Gutachten konnte das LSG den Schluß ziehen, daß das geistige Leistungsvermögen des Klägers nicht eingeschränkt ist. Demzufolge brauchte sich das LSG auch nicht gedrängt zu führen, den Sachverhalt in medizinischer Hinsicht weiter aufzuklären.

Indessen fehlen ausreichende Feststellungen des LSG dazu, ob und inwieweit der Kläger in der Lage ist, die in Betracht gezogene Pförtnertätigkeit ordnungsgemäß zu verrichten. Hierzu gehört insbesondere die Prüfung der Frage, ob der Kläger über die bei einem Pförtner vorauszusetzenden Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt. Wenn auch beim Kläger das geistige Leistungsvermögen aus medizinischer Sicht nicht eingeschränkt zu sein braucht, so ergibt sich allein daraus noch nicht, ob er auch die entsprechenden Kenntnisse zur Ausübung der Verweisungstätigkeit besitzt.

Hinsichtlich der erforderlichen Kenntnisse stellt das LSG lediglich fest, daß die Einarbeitung in der Regel durch Arbeitskollegen erfolgt und erfahrungsgemäß eine Woche dauert, wobei besondere geistige Anforderungen an den Stelleninhaber nicht gestellt werden. Bei dieser Sachlage drängt sich die Frage auf, ob die Tätigkeit, die tariflich einem Ausbildungsberuf gleichgestellt ist, möglicherweise nur deshalb eine kurze Einarbeitungszeit erfordert, weil bei den Stelleninhabern einschlägige Vorkenntnisse, zB zur Betriebsorganisation oder aber aus einer früheren Pförtnertätigkeit, vorausgesetzt werden. Solche Voraussetzungen erfüllt der Kläger aber nicht, zumindest hat insoweit das LSG keine Feststellungen getroffen. Das LSG wird also zunächst zu prüfen haben, ob die von ihm festgestellte Einarbeitungszeit für jeden Betriebsfremden gilt oder an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist. Sollte allerdings die Pförtnertätigkeit im Hinblick auf die geistigen Anforderungen und die kurze Einarbeitungszeit auch vom Kläger ausgeübt werden können, so könnte auch die Frage eine Rolle spielen, warum sie tariflich wie ein Ausbildungsberuf bewertet wird. Zwar ist die tarifliche Einstufung wichtiges Indiz für die Zumutbarkeit im Rahmen des § 1246 Abs 2 RVO, doch gilt dies dann nicht, wenn die Einstufung auf Gründen beruht, die mit der Qualität des Arbeitsinhalts nicht in Zusammenhang stehen (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 35/80 -). Wenn etwa die Pförtnertätigkeit keine besonderen Vorkenntnisse erfordert, aber mit einem besonderen, über die ordnungsgemäße Erledigung der übertragenen Aufgaben deutlich hinausgehenden Verantwortungsbereich verbunden wäre, handelte es sich um einen Arbeitsinhalt, der die Gleichstellung mit einem Ausbildungsberuf und damit die Zumutbarkeit für einen Facharbeiter rechtfertigen könnte. Beruht hingegen die tarifliche Einstufung nur darauf, soziale Besitzstände von Betriebsangehörigen aufrechtzuerhalten, die auf derartige Stellen umgesetzt werden, könnte eine andere Betrachtung geboten sein.

In diesem Zusammenhang kann auch von Bedeutung sein, ob die vom LSG in Betracht gezogenen Pförtnertätigkeiten wegen der damit verbundenen besonderen Anforderungen nur an Arbeitskräfte des gleichen Betriebes aufgrund ihrer bisherigen Tätigkeit vergeben werden. Hinsichtlich des Erfordernisses einer genügenden Anzahl von Arbeitsplätzen ist dem LSG im Prinzip darin zu folgen, daß die Bezeichnung einer zumutbaren Verweisungstätigkeit genügt, während das Risiko der Vermittlung eines solchen Arbeitsplatzes nicht der Rentenversicherung, sondern der Arbeitslosenversicherung zur Last fällt. Indessen gilt dieses Prinzip nicht uneingeschränkt. Wenn für eine Tätigkeit nur einzelne, wenige Arbeitsplätze existieren, seien sie frei oder besetzt, kann ein Versicherter im allgemeinen nicht darauf verwiesen werden. Die gleiche rechtliche Folgerung wird allerdings auch dann zu ziehen sein, wenn zumutbare Arbeitsplätze, obzwar in ausreichender Anzahl vorhanden, nur Betriebsangehörigen unter besonderen, für Betriebsfremde nicht üblichen Arbeitsbedingungen vorbehalten bleiben und deshalb dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht offenstehen. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, ist im Rahmen der Sachaufklärung zu ermitteln.

Sollte das LSG nach erneuter Sachaufklärung zu dem Ergebnis kommen, daß die Voraussetzungen für die Verweisung des Klägers auf die in Betracht gezogenen Pförtnertätigkeiten vorliegen, dann stehen die Struktur der dort geltenden Tarife wie auch die Entlohnung einer Verweisung nicht entgegen. Insoweit wäre dann dem Begehren des Klägers nicht zu folgen. Unabhängig von Tarifstruktur und Lohnhöhe kann ein Facharbeiter stets auf Tätigkeiten verwiesen werden, die in dem jeweiligen Wirtschaftsbereich einem Ausbildungsberuf entsprechen. Das Kriterium für die Verweisbarkeit ist die Qualität der Verweisungstätigkeit als Ausbildungsberuf, wofür die tarifliche Bewertung ein wichtiges Indiz ist. Eine darüber hinausgehende Bedeutung kann dem Tarifvertrag nicht beigelegt werden. Hinsichtlich der Lohnhöhe kann aus dem Gesetz eine Grenze allenfalls dahin gezogen werden, daß die übliche Entlohnung in der Verweisungstätigkeit nicht geringer sein darf als die Hälfte der üblichen Entlohnung im bisherigen Beruf eines Versicherten. Eine derartige Lohndifferenz ist im vorliegenden Fall nicht erkennbar.

Nach alledem war auf die Revision des Klägers das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Über die Kosten wird das LSG zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659200

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