Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsdokumentation. konkrete Bezeichnung. Ausbildungsberuf

 

Orientierungssatz

1. Nicht in jedem Einzelfall einer Verweisungstätigkeit muß eine individuelle Sachaufklärung über deren Anforderungen durchgeführt werden. Wesentlich ist jedoch, daß die konkret bezeichnete Verweisungstätigkeit mit ihrem typischen Arbeitsinhalt nachprüfbar angegeben wird. Zu diesem Zweck kann auch ein Erfahrungswissen eingesetzt werden, das sich aus der Beobachtung des Arbeitslebens herausgebildet hat. Solche allgemeinen Erfahrungen können sich in einer Berufsdokumentation widerspiegeln und für den konkreten Fall nutzbar gemacht werden.

2. Die pauschale Verweisung auf einzelne Tarifgruppen des öffentlichen Dienstes genügt nicht; aus einer Tarifgruppe muß zumindest eine nicht nur vereinzelt vorkommende Tätigkeit herausgegriffen und darüber Feststellungen getroffen werden, ob der Versicherte den dort gestellten Anforderungen gewachsen ist.

3. Eine Tätigkeit im Baugewerbe entspricht qualitativ einem sonstigen Ausbildungsberuf in der Regel erst dann, wenn ihre Ausübung eine Absolvierung der ersten Ausbildungsstufe voraussetzt.

4. Ein Facharbeiter (hier: Maurer) darf nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die qualitativ einem Ausbildungsberuf entsprechen. Qualitätsmerkmale, die die Vergleichbarkeit einer Tätigkeit mit einem Ausbildungsberuf rechtfertigen, können außer berufsspezifischen Kenntnissen und Fertigkeiten auch besondere Anforderungen an fachliches Können oder ein Verantwortungsbereich sein, der über die ordnungsgemäße Erledigung der übertragenen Arbeiten deutlich hinausgeht, zB weil damit die Verantwortung für die Arbeit anderer verbunden ist. Ob eine Tätigkeit einem Ausbildungsberuf in diesem Sinne entspricht, muß nach den genannten Grundsätzen aufgrund des üblichen bzw typischen Arbeitsinhalts oder, sofern ein Versicherter einen Arbeitsplatz innehat, der individuellen Bewertung dieser Tätigkeit im Tatsächlichen geprüft und festgestellt werden.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 128

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 15.01.1979; Aktenzeichen L 2 J 48/78)

SG Koblenz (Entscheidung vom 21.02.1978; Aktenzeichen S 1 J 556/77)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit.

Der im Jahre 1938 geborene Kläger hat das Maurerhandwerk erlernt und bis Februar 1975 ausgeübt. Im Anschluß daran war er überwiegend arbeitsunfähig erkrankt. Seit April 1977 ist er arbeitslos und bezieht Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung.

Den im März 1977 gestellten Antrag auf Versichertenrente lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 9. September 1977 ab. Sie stützte sich auf die ärztliche Beurteilung des Leistungsvermögens des Klägers, wonach dieser noch leichte Tätigkeiten vorwiegend im Gehen zu ebener Erde und in geschlossenen Räumen vollschichtig verrichten könne.

Klage und Berufung blieben ohne Erfolg. In seinem Urteil vom 15. Januar 1979 führte das Landessozialgericht (LSG) aus, der Kläger könne im Rahmen seines Berufes noch Nachbesserungs- und Reparaturarbeiten eines Maurers in Wohnungen, als Hausmeister bei Wohnungsgesellschaften sowie leichtere Tätigkeiten in der Reparaturabteilung eines Baugeschäftes unter Beibehaltung des Facharbeiterlohnes verrichten. Weiter könne der Kläger als Maurer auf Tätigkeiten eines Bauhofaufsehers, eines einfachen Bauführers, eines Lagerverwalters auf Großbaustellen, eines Werkzeugausgebers und Magazinverwalters, in einem Fertigbetonteilewerk, das Elemente und Binder für Fertighäuser und Werkshallen herstellt sowie bei einer Prüfstelle für die eigene Überwachung von Betonenderzeugnissen und als Hilfskontrolleur bei Bauämtern zumutbar verwiesen werden. Als berufsfremde Verweisungstätigkeiten kämen für den Kläger als gelernten Facharbeiter aber auch Beschäftigungen im öffentlichen Dienst nach den Vergütungsgruppen IX und VIII des Bundesangestelltentarifvertrages wie auch der Lohngruppen II und III des Tarifvertrages für Arbeiter in Betracht. Der allgemeine Arbeitsmarkt der Bundesrepublik sei dem Kläger nicht verschlossen.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, das LSG habe nicht festgestellt, ob der Kläger den Anforderungen der in Erwägung gezogenen Verweisungstätigkeiten überhaupt gewachsen sei. Darüber hinaus habe das LSG ihn auf Tätigkeiten verwiesen, die ihm subjektiv nicht zuzumuten seien. Das LSG habe Verweisungstätigkeiten aus der Berufsdokumentation des LSG Nordrhein-Westfalen entnommen. Diese Dokumentation hätte es nicht als Beweismittel verwerten dürfen, weil die Beteiligten nicht vorher darauf aufmerksam gemacht worden seien. Deswegen sei der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt. Hinsichtlich der Verweisung auf Tätigkeiten des öffentlichen Dienstes reichten die vom LSG getroffenen Feststellungen nicht zur Nachprüfung dahin aus, ob der Kläger hierfür auch geeignet sei. Auf Tätigkeiten der Lohngruppen II und III könne ein Facharbeiter schon deshalb nicht verwiesen werden, weil es sich hierbei nicht um sonstige Ausbildungsberufe handele.

Der Kläger beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der

Beklagten vom 9. September 1977 aufzuheben und die

Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. März 1977

Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte stellt keinen Antrag.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen zur Klärung des Vorliegens von Berufsunfähigkeit iS des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht aus.

Hinsichtlich der in Betracht gezogenen berufsnahen Verweisungstätigkeiten im Baugewerbe hat das LSG zwar aufgrund der Berufsdokumentation des LSG Nordrhein-Westfalen die Tätigkeiten im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (so zuletzt Urteil des erkennenden Senats vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 83/79 - mwN) hinreichend konkret bezeichnet. Es ist nicht zu beanstanden, wenn nicht in jedem Einzelfall einer Verweisungstätigkeit eine individuelle Sachaufklärung über deren Anforderungen durchgeführt wird. Wesentlich ist jedoch, daß die konkret bezeichnete Verweisungstätigkeit mit ihrem typischen Arbeitsinhalt nachprüfbar angegeben wird. Zu diesem Zweck kann auch ein Erfahrungswissen eingesetzt werden, das sich aus der Beobachtung des Arbeitslebens herausgebildet hat. Solche allgemeinen Erfahrungen können sich in einer Berufsdokumentation, wie sie das LSG benutzt hat, widerspiegeln und für den konkreten Fall nutzbar gemacht werden.

Indessen handelt es sich bei diesem Erfahrungswissen um die Kenntnis von Tatsachen, die zu Beweiszwecken in das Verfahren eingeführt werden. Auf sie darf nach § 128 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Urteil nur gestützt werden, wenn die Beteiligten vorher Gelegenheit hatten, sich dazu zu äußern. Vor ihrer Verwertung zur Entscheidung muß eine Berufsdokumentation den Beteiligten bekanntgegeben werden. Der Senat braucht im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden, ob es dabei genügt, wenn das Gericht den Beteiligten durch einen Hinweis die Möglichkeit eröffnet, diese Dokumentation einzusehen und auszuwerten oder ob dazu konkretere Maßnahmen erforderlich sind, denn im vorliegenden Fall ist überhaupt kein Hinweis erfolgt. Insoweit greift die Rüge des Klägers, daß er keine Gelegenheit zur Äußerung hatte, durch.

Das LSG durfte sich zudem nicht damit begnügen, lediglich die Tätigkeiten aus der berufskundlichen Dokumentation in seinem Urteil wiederzugeben. Selbst eine derartige typisierende Wiedergabe muß erkennen lassen, welche Anforderungen an das Leistungsvermögen sowie an die Kenntnisse und Fähigkeiten des Versicherten gestellt werden, dem die Tätigkeit zugemutet wird (BSG aaO). Den Ausführungen des LSG ist nur zu entnehmen, daß die von ihm aufgeführten Tätigkeiten üblicherweise von ausgebildeten Maurern ausgeübt werden. Dies läßt allenfalls den Schluß zu, daß der Kläger als gelernter Maurer zur Ausübung dieser Tätigkeiten fachlich geeignet sein könnte. Ebenso wesentlich ist aber die weitere Frage, ob der Kläger nach seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen in der Lage ist, eine dieser Tätigkeiten auszuüben. Insoweit hat das LSG keine Feststellung getroffen. Es ist nicht auszuschließen, daß das Leistungsvermögen des Klägers nicht ausreicht, auch nur bei einer der vom LSG genannten Tätigkeiten die üblicherweise anfallenden Arbeiten auszuführen. Das LSG wird demnach noch Feststellungen dazu zu treffen haben, ob und inwieweit der Gesundheitszustand des Klägers die Ausübung einer der ihm zugemuteten Verweisungstätigkeiten erlaubt. Hierbei kann allerdings das LSG seine Feststellungen auf eine Verweisungstätigkeit beschränken (vgl BSG Urteil vom 28. Juni 1979 - 4 RJ 70/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 45), sofern diese Tätigkeit im Arbeitsleben nicht nur ganz vereinzelt vorkommt.

Auch hinsichtlich der Verweisungen auf Tätigkeiten im öffentlichen Dienst hat das LSG keine Feststellungen getroffen, für welche Tätigkeiten sich der Kläger nach seinem Gesundheitszustand wie auch nach seinem Wissen und Können eignet. Vielmehr hat das LSG pauschal auf einzelne Tarifgruppen verwiesen. Wenn das LSG den Kläger auf Tätigkeiten im öffentlichen Dienst verweisen will, so muß es aus einer Tarifgruppe zumindest eine nicht nur vereinzelt vorkommende Tätigkeit herausgreifen und Feststellungen darüber treffen, ob der Kläger den dort gestellten Anforderungen gewachsen ist.

Bei der sozialen Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit iS des § 1246 Abs 2 RVO wird das LSG zu beachten haben, daß der Kläger als Facharbeiter nur auf Tätigkeiten verwiesen werden darf, die qualitativ einem Ausbildungsberuf entsprechen (vgl Urteile des BSG vom 12. November 1980 - 1 RJ 104/79 -; vom 28. November 1980 - 5 RJ 50/80 - und vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 35/80 -). Ausbildungsberufe sind in § 25 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) gesetzlich geregelt und in dem Verzeichnis vom 28. Juli 1980 (Beilage Nr 41/80 zum Bundesanzeiger Nr 193 vom 15. Oktober 1980) abschließend aufgeführt. Ein Ausbildungsberuf im Baugewerbe liegt erst dann vor, wenn bei der in diesem Bereich herrschenden Stufenausbildung mindestens die erste Stufe erfolgreich absolviert wurde. Eine Tätigkeit im Baugewerbe entspricht demnach qualitativ einem sonstigen Ausbildungsberuf in der Regel erst dann, wenn ihre Ausübung eine Absolvierung der ersten Ausbildungsstufe voraussetzt.

Allerdings kann ein Versicherter auch auf ungelernte Tätigkeiten zumutbar verwiesen werden, sofern sich diese deutlich aus dem Kreis der einfachen Hilfsarbeiten herausheben. Hierfür ist die tarifliche Einstufung im Regelfall wichtiges Indiz, weil in der Einstufung zuverlässig zum Ausdruck kommt, welchen Wert die am Berufsleben teilnehmenden Bevölkerungskreise über die Tarifparteien einer bestimmten Berufstätigkeit zumessen (vgl BSG Urteil vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 35/80 -). Von Bedeutung ist allerdings, daß die tarifliche Einstufung wegen der Qualität der Arbeitsanforderungen und nicht etwa wegen etwaiger Nachteile oder Erschwernisse einem Anlernberuf (Ausbildungsberuf) entspricht (vgl Urteil vom 28. November 1980 - 5 RJ 50/80 -). Zur Begründung der Zumutbarkeit genügt nicht eine innerbetriebliche Zweckausbildung, mit der nur betriebsspezifische Fachkenntnisse vermittelt werden (BSG Urteil vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 35/80 -). Qualitätsmerkmale, die die Vergleichbarkeit einer Tätigkeit mit einem Ausbildungsberuf rechtfertigen, können außer berufsspezifischen Kenntnissen und Fertigkeiten auch besondere Anforderungen an fachliches Können oder ein Verantwortungsbereich sein, der über die ordnungsgemäße Erledigung der übertragenen Arbeiten deutlich hinausgeht, zB weil damit beispielsweise die Verantwortung für die Arbeit anderer verbunden ist. Ob eine Tätigkeit einem Ausbildungsberuf in diesem Sinne entspricht, muß nach den genannten Grundsätzen aufgrund des üblichen bzw typischen Arbeitsinhaltes oder, sofern ein Versicherter einen Arbeitsplatz innehat, der individuellen Bewertung dieser Tätigkeit im Tatsächlichen geprüft und festgestellt werden. Diese Prüfung wird das LSG noch nachzuholen und die entsprechenden Feststellungen zu treffen haben.

Nach alldem war der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Über die Kosten wird das LSG zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658751

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