Entscheidungsstichwort (Thema)

Verweisbarkeit eines gelernten Dachdeckers. Alter des Versicherten

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein Facharbeiter kann auf Tätigkeiten mit kürzerer Ausbildung (früher: Anlernberufe) oder auch auf Tätigkeiten verwiesen werden, die keine festgelegte Ausbildung voraussetzen, wobei letztere sich aus der unteren Gruppe durch besondere Merkmale (betriebliche Bedeutung, besondere Anforderungen wie zB technisches Verständnis, Überblick, besondere Verantwortung) hervorheben müssen. Da Arbeiter mit Überwachungs- und Kontrolltätigkeiten entsprechend ihrer in aller Regel auch hohen tariflichen Einstufung oder tatsächlichen Entlohnung im Betrieb eine (mindestens) ebenso angesehene Stellung einnehmen wie Facharbeiter mit hergebrachter Ausbildung, ist Verweisung auf solche Tätigkeiten gegeben.

Einem Versicherten "im Alter des Klägers" (geboren im Jahre 1928) ist grundsätzlich die Umstellung auf eine neue Tätigkeit zuzumuten.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 05.06.1975; Aktenzeichen L 3 J 37/75)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 23.01.1975; Aktenzeichen S 9 J 59/74)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. Juni 1975 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit beanspruchen kann.

Der 1928 geborene Kläger war nach einer 1945 beendeten Lehre bis 1973 als Dachdeckergeselle beschäftigt. Seitdem kann er wegen der Folgeerscheinungen nach zweimaliger Meniskusoperation am rechten Knie keine mit Absturzgefahr verbundenen Tätigkeiten mehr verrichten; er ist jedoch imstande, leichte bis mittelschwere Arbeiten im Sitzen, Stehen und Gehen vollschichtig zu leisten. Seinen im August 1973 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18. Januar 1974 ab, da keine Berufsunfähigkeit bestehe.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verpflichtet, von September 1973 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 23. Januar 1975). Das Landessozialgericht (LSG) hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 5. Juni 1975): Für die Zeit bis 18. Juni 1974 sei schon wegen des dem Kläger gewährten Heilverfahrens ein Rentenanspruch ausgeschlossen. Im übrigen habe das SG zu Unrecht Berufsunfähigkeit bejaht. Zwar könne der Kläger seinen bisherigen Beruf im Sinne des § 1246 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) als Dachdecker nicht mehr ausüben; nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) seien jedoch auch Versicherte mit anerkanntem Lehrberuf auf eine ganze Anzahl ungelernter Tätigkeiten verweisbar, wie Revisions-, Überwachungs-, Kontroll-, Meßwart-, Verwieger- und Schalttafeltätigkeiten. Zu solchen Arbeiten reiche das Leistungsvermögen des Klägers aus.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision stellt der Kläger seine Verweisbarkeit auf die vom LSG angegebenen Tätigkeiten in Frage, weil sich diese weder vom sozialen Prestige noch von der tariflichen Einstufung her aus dem Kreis sonstiger ungelernter Arbeiten hervorhöben. Auch habe er durch langjährige Ausübung nur des erlernten Berufs einen Besitzstand erlangt, aufgrund dessen ihm die Umstellung auf eine neue, geringwertigere Tätigkeit nicht zumutbar sei. Hierbei biete sich als Kriterium der Fünfzehnjahreszeitraum für die Unkündbarkeit im öffentlichen Dienst unter Berücksichtigung des Lebensalters an.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet. Mit Recht hat das LSG entschieden, daß dem Kläger keine Versichertenrente zusteht, weil er nicht berufsunfähig ist.

Fest steht, daß im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO der "bisherige Beruf" des Klägers der erlernte und ausschließlich ausgeübte Dachdeckerberuf ist. Ebenso hat das LSG für das Revisionsgericht bindend festgestellt (§ 163 SGG), daß der Kläger aus gesundheitlichen Gründen als Dachdecker nicht mehr arbeiten kann. Gleichwohl besteht keine Berufsunfähigkeit, weil der Kläger mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen andere Tätigkeiten ausüben kann, für die er die erforderlichen Fähigkeiten besitzt, die ihm aber auch - vom bisherigen Beruf her gesehen - (sozial) zumutbar sind (sog. Verweisungstätigkeiten, § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO). Nach der Rechtsprechung des BSG besteht die Möglichkeit, einen Facharbeiter wie den Kläger, der früher zur Gruppe der Lehrberufe gehörte und jetzt den Berufen mit längerer Ausbildungszeit zuzuordnen ist, auf Tätigkeiten mit kürzerer Ausbildung (früher: Anlernberufe) oder auch auf Tätigkeiten zu verweisen, die keine festgelegte Ausbildung voraussetzen. Allerdings müssen sich diese "ungelernten" Tätigkeiten neben entsprechendem Tariflohn oder tatsächlichem Entgelt aus der unteren Gruppe durch besondere Merkmale hervorheben - etwa aufgrund ihrer betrieblichen Bedeutung, wegen besonderer Anforderungen (technisches Verständnis, Überblick, besondere Verantwortung) oder auch dadurch, daß eine nicht nur ganz kurze Einweisung genügt (vgl. ua SozR Nrn. 103, 104 und 107 zu § 1246 RVO; SozR 2200 § 1246 Nr. 4). Dies folgt mittelbar aus § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO. Wenn danach nicht nur Dauer und Umfang der Ausbildung für den Kreis der Verweisungstätigkeiten zu berücksichtigen sind, sondern neben dem bisherigen Beruf auch die besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit, kann andererseits nicht außer acht bleiben, ob eine Verweisungstätigkeit besondere, nicht auf dem allgemeinen Ausbildungsstand beruhende Anforderungen stellt. Indiz für eine solchermaßen aus der unteren Gruppe herausragende Tätigkeit wird in der Regel die tarifliche Einstufung sein (vgl. SozR Nr. 103 zu § 1246 RVO).

Das Berufungsgericht hat in Anlehnung an SozR Nr. 107 zu § 1246 RVO dargelegt, an welche Beschäftigungen in erster Linie zu denken sei; es hat dem Kläger vor allem eine Überwachungs- und Kontrolltätigkeit angesonnen. Dem von der Revision dagegen erhobenen Einwand, es handele sich hierbei um untergeordnete Hilfsarbeiten, kann nicht gefolgt werden. In SozR Nr. 107 zu § 1246 RVO ist ausgeführt, daß Arbeiter, die solche Tätigkeiten verrichten, im Betrieb eine (mindestens) ebenso angesehene Stellung einnehmen wie Facharbeiter mit hergebrachter Ausbildung, was in aller Regel auch durch eine entsprechend hohe tarifliche Einstufung oder tatsächliche Entlohnung zum Ausdruck kommt. Das hängt damit zusammen, daß im Zuge fortschreitender Mechanisierung und Automation des Produktionsprozesses es in der Industrie nicht mehr so sehr auf rein handwerkliche Fertigkeiten ankommt, sondern technisches Verständnis, Reaktions- und Konzentrationsvermögen, Übersicht und Ausdauer neben Verantwortungsbewußtsein und Zuverlässigkeit in den Vordergrund gerückt sind. Die bloße Behauptung des Klägers, die vorbezeichneten Tätigkeiten seien untergeordnete Hilfsarbeiten, kann daher die Feststellungen des LSG nicht erschüttern.

Der Senat hat noch erwogen, ob die langjährige Ausübung nur des erlernten Berufs für sich allein die Verweisbarkeit auf andere Tätigkeiten ausschließen oder einschränken kann. In der Rechtsprechung ist schon mehrfach ausgesprochen worden, ein Versicherter müsse um so sicherer in seinem durch Ausbildung und Beruf erreichten sozialen Besitzstand geschützt werden, je länger er diesen gehalten habe (SozR Nrn. 102, 106 zu § 1246 RVO; Nr. 6 zu § 45 RKG). In diese Überlegungen, die sich im Rahmen des § 1246 Abs. 2 RVO halten, läßt sich entgegen der Meinung des Klägers der für die Unkündbarkeit im öffentlichen Dienst maßgebliche Fünfzehnjahreszeitraum wegen des ganz anderen Zusammenhangs, im dem er steht, nicht einbeziehen. Nach der Ansicht des Senats kann das Zusammentreffen von qualifizierter Berufsausbildung, langjähriger Berufsausübung bei stetigem, gradlinigem Berufsweg und vorgerücktem Lebensalter von ausschlaggebender Bedeutung für die Beurteilung der Berufs(un)fähigkeit sein. Es bedarf keiner näheren Bestimmung, von welchem Lebensalter man hierbei auszugehen hat; denn einem Versicherten im Alter des Klägers ist grundsätzlich die Umstellung auf eine neue Tätigkeit zuzumuten. Je nach den Besonderheiten des Einzelfalles kann auch an berufsfördernde Maßnahmen gedacht werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651347

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