Entscheidungsstichwort (Thema)

Sachverständigenbeweis als Grundlage des Urteils. Überprüfung des Gutachteninhalts. Qualifikation des Sachverständigen als Kriterium zur Beurteilung des Gutachtens

 

Leitsatz (amtlich)

Zum Einfluß, den die Dauer einer Berufstätigkeit auf Erwerb und Festigung einer - im Rahmen des RVO § 1246 Abs 2 zu berücksichtigenden - sozialen Stellung hat (Fortführung von BSG 1962-07-05 5 RKn 18/61 = BSGE 17, 191, 194 und BSG 1972-05-25 11 RA 124/71 = SozR Nr 102 zu § 1246 RVO).

 

Leitsatz (redaktionell)

Gutachten namhafter Hochschulärzte verdienen nicht ohne weiteres und in jedem Fall den Vorzug gegenüber Expertisen von privaten oder beamteten Ärzten.

Das Gericht muß vielmehr auf den Inhalt und den Grad der Begründetheit der Gutachten eingehen.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-13

 

Tenor

Die Revision des Klägers wird zurückgewiesen.

Auf die Revision der Beklagten hin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. März 1972 aufgehoben, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 18. Juli 1969 bis 30. September 1969 zu gewähren. Insoweit wird der Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger - 1939 geboren - leidet an den Folgen eines Becken- und Oberschenkelhalsbruches, den er bei einem Verkehrsunfall erlitt. Sein rechtes Hüftgelenk ist erheblich deformiert, das rechte Bein verkürzt und muskelgeschwächt. Er vermag, nachdem sich seine körperliche Verfassung stabilisiert hat, nach ärztlicher Einschätzung nur noch sitzende Tätigkeiten in geschlossenen Räumen, wenn auch ganztätig, zu verrichten, sofern damit keine Rumpfdreh- oder Beugebewegungen sowie ein Stehen und Gehen von mehr als maximal einer Stunde verbunden sind.

Wegen dieses Zustandes mußte er seine letzte - fast fünf Jahre lang ausgeübte - Tätigkeit als Baggerführer aufgeben. Seit dem 17. September 1969 versieht er Pförtnerdienst in einem Krankenhaus. Er hat hierbei Auskünfte zu erteilen, Orts- und Ferngespräche zu vermitteln und Telefongebühren abzurechnen.

Die Beklagte lehnte die Bewilligung der Versichertenrente ab, weil sie den Kläger, dem sie bis zum 17. Juli 1969 ein Heilverfahren gewährt hatte, in der Zeit danach weder für berufs- noch erwerbsunfähig hielt (Bescheid vom 13. Januar 1970).

Das Sozialgericht (SG) Köln hat durch Urteil vom 4. Mai 1971 die Klage abgewiesen; das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat mit Urteil vom 15. März 1972 die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 18. Juli 1969 bis 30. September 1969 zu gewähren; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Von Mitte September 1969 an sei der Kläger - so hat das Berufungsgericht ausgeführt - nicht mehr berufsunfähig. Die zu dieser Zeit aufgenommene Beschäftigung als Pförtner komme der gesundheitlichen Situation des Klägers weitgehend entgegen. Mit ihr sei für ihn auch kein sozialer Abstieg verbunden. Als Baggerführer hätte der Kläger einen tariflichen Stundenlohn von 7,59 DM erzielt; als Pförtner habe er 4,18 DM verdient. Baggerführer oder Baggermaschinisten seien zwar Facharbeiter, die nach einer mit einer Prüfung abgeschlossenen Schlosserlehre von 3 1/2 Jahren noch eine zusätzliche Spezialeinweisung von ein und sogar zwei Jahren hinter sich zu bringen hätten. Eine solche Qualifikation besitze der Kläger aber nicht. Eine Lehre habe er nicht durchgemacht. Er sei lediglich Hilfsschlosser, Kranfahrer, Lastwagenfahrer und Gießereiarbeiter gewesen. In den letzten Jahren habe er allerdings Baggerführerarbeiten selbständig ausgeführt und das Gerät eigenverantwortlich bedient sowie ohne fremde Anleitung gepflegt. Deshalb bezeichne ihn sein früherer Arbeitgeber auch als angelernten Baggerführer. Damit habe er aber keine Position erreicht, von der aus er nicht auf die Pförtnertätigkeit verwiesen werden könne. - Dagegen stützte das LSG die Feststellung, daß der Kläger noch nach Abschluß des Heilverfahrens am 17. Juli 1969 bis Mitte September 1969 außerstande gewesen sei, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, auf das seines Erachtens überzeugende Gutachten des Prof. Dr. T Die Rente stehe dem Kläger ferner nicht nur bis zur Mitte des Monats September 1969 sondern für den vollen Monat zu. Das ergebe sich aus den Vorschriften über die Einstellung und Entziehung der Rente. Davon dürften auch Renten für bereits abgelaufene Zeiten nicht ausgenommen werden. - Das LSG hat die Revision zugelassen.

Beide Beteiligten haben Revision eingelegt.

Der Kläger meint, er müsse einem Baggerführer, mindestens aber einem Baggermaschinisten gleicherachtet werden. Beide stünden auf der sozialen Stufenleiter noch über dem gelernten Arbeiter. Er - der Kläger - habe den höheren Posten mit seinen hohen Anforderungen an Konzentration, Reaktionsschnelligkeit, Augenmaß, technischem Verständnis und nervlicher Belastung tatsächlich ausgefüllt und sei dafür auch voll entlohnt worden. Auf diese Realität und nicht auf abgelegte Prüfungen müsse abgestellt werden. Demgegenüber übe er jetzt als "Portier" einfachste ungelernte Funktionen aus.

Die Beklagte erhebt Bedenken gegen die Feststellungen in dem Berufungsurteil, daß der Kläger bis zum 17. September 1969 - dem Tag, bevor er die Arbeit als Pförtner aufnahm - erwerbsunfähig gewesen sei. Dagegen macht sie geltend, daß der Sachverständige Prof. Dr. T, auf dessen Gutachten das Berufungsgericht seine Feststellungen stütze, für diese Zeitangabe keine Begründung liefere, sich insofern sogar widerspreche. Prof. Dr. T habe nämlich selbst erklärt, daß er gegenüber den früher von Dr. L erhobenen Befunden keine wesentlichen Änderungen habe erkennen können. Dr. L habe aber, so führt die Beklagte aus, bereits im März 1969 mitgeteilt, der Kläger sei wieder in der Lage, ganztägig und mit gewisser Regelmäßigkeit sitzend zu arbeiten. - Des weiteren wendet sich die Beklagte gegen ihre Verurteilung zur Zahlung der Rente für den ganzen Monat September 1969. Sie ist der Ansicht, daß eine Leistung, wenn überhaupt, nur bis 17. September verlangt werden könne, weil zumindest vom 18. September an die Erwerbsunfähigkeit entfallen sei. Für die Bewilligung einer Zeitrente könnten die Vorschriften, welche den Wegfall oder die Entziehung der Rente nur zum Monatsende erlaubten, nicht angewendet werden.

Beide Beteiligte beantragen, das Berufungsurteil aufzuheben. Der Kläger beantragt außerdem, die Beklagte zur Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit über den 1. Oktober 1969 hinaus zu verurteilen. Die Beklagte beantragt zusätzlich, die Klage abzuweisen.

Die Revision des Klägers ist unbegründet.

Die Entscheidung des LSG, daß der Kläger nicht berufsunfähig (§ 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) sei, ist nicht zu beanstanden. Das Berufungsgericht ist zu dieser Beurteilung nach Abwägung aller - sich von der Sache her anbietender - Kriterien gelangt. Es hat im besonderen in Betracht gezogen, daß der Kläger eine Tätigkeit ausgeübt hat, die nicht nur abwechslungsreich war, sondern auch technisches Fachwissen und Können voraussetzte und mit einem hohen Maß von Unabhängigkeit und geforderter Eigeninitiative verbunden war. Andererseits hat sich das LSG zutreffend davon leiten lassen, daß der Kläger die Position des "angelernten Baggerführers" nur relativ kurze Zeit innegehabt hat. Für das Berufungsgericht war ausschlaggebend, daß der Kläger diese Funktion insgesamt nicht einmal für die gleiche Zeit ausgefüllt hat, die man von einem Facharbeiter an Lehr- und Einarbeitungszeiten fordert, bevor man ihm die formale Qualifikation als Baggerführer zuerkennt. Dieser Gedanke erscheint schon deshalb als richtig, weil der Erwerb offizieller Befähigungsnachweise nach planmäßig zurückgelegter Aus- und Vorbildung eher als ein bloß innerbetrieblicher Aufstieg den Besitz von solchen theoretischen Kenntnissen und praktischen Fertigkeiten erwarten läßt, die sich weiter ausbauen lassen, die auch eine Anpassung an technische Entwicklungen eröffnen und eine größere konjunkturunabhängige Berufssicherheit verleihen. Diese Sicherheit ist aber ein bedeutsamer Faktor für die soziale Stellung, die ein Arbeitnehmer einnimmt.

Von diesem sozialen Status wird die Zumutbarkeit eines unfreiwilligen Berufswechsels wesentlich mitbeeinflußt. Hierfür ist ferner erheblich, wie lange jemand in einem Beruf gearbeitet hat und ob er noch in einem anpassungsfähigen Lebensalter steht. Für den gelernten Arbeiter hat das Bundessozialgericht - BSG - (BSG 17, 191, 194) angenommen, daß der durch Ausbildung und Berufsweg erreichte soziale Besitzstand sich erst allmählich im Laufe der Zeit bilde und festige; dieser Besitzstand sei um so sicherer geschützt, je gleichbleibender und je länger ihn der Versicherte gehalten habe (ebenso BSG Urteil vom 25. Mai 1972 - 11 RA 124/71 -).

Der ältere berufserfahrene Mensch wird durch den Verlust seines Berufs, in dem er seine Zufriedenheit gefunden hatte, stärker betroffen als ein jüngerer Arbeiter. Von letzterem wird das Ansinnen einer beruflichen Umstellung weniger schmerzlich als eine "Entwurzelung" empfunden. Was aber für Facharbeiter in jüngeren und auch noch mittleren Jahren gilt, ist selbstverständlich erst recht für solche gleichaltrigen Arbeiter maßgebend, die ohne die an sich vorgeschriebenen Ausbildungsgänge und Prüfungen noch erst verhältnismäßig kurz in eine vergleichbare Aufgabenstellung hineingewachsen sind.

Auf diese Umstände hat das LSG im Falle des Klägers, der bei Aufnahme seiner Pförtnertätigkeit 30 Jahre alt war, zu Recht Bedacht genommen. Es muß dem Kläger überlassen bleiben, ob er bei der nunmehr ausgeübten - ihm zumutbaren - Erwerbstätigkeit bleiben will oder ob er sich auf einen anderen Beruf umschulen läßt. Für die jetzt zu beantwortende Frage seiner Berufsunfähigkeit ist sein Verhalten jedenfalls unerheblich.

Die aus § 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hergeleitete Verfahrensrüge der Beklagten greift durch. Das Berufungsgericht stützt seine Überzeugung, daß der Kläger noch bis September 1969 erwerbsunfähig gewesen sei, auf das Gutachten des Prof. Dr. T. Zur Erläuterung dafür, daß es diesem Gutachten den Vorzug vor anderen Sachverständigengutachten gegeben hat, hat es sich mit der Erklärung begnügt, diese Stellungnahme rühre von einem erfahrenen Fachgelehrten auf dem Gebiete der Orthopädie her; ihr komme größerer Beweiswert als dem Gutachten eines Internisten und dem Entlassungsbericht der Rheumaklinik Aachen zu. Diese Ausführungen des Berufungsgerichts lassen nicht erkenne, daß es die teilweise einander widersprechenden Gutachten einer selbständigen, eigenverantwortlichen Prüfung unterzogen hat. Dazu hätte gehört, daß das Gericht die widersprechenden Stellungnahmen mit den betreffenden Sachverständigen oder wenigstens mit Prof. Dr. T erörterte. Das Berufungsgericht durfte nicht, wie dies geschehen ist, die größere Überzeugungskraft eines der nebeneinandergestellten Gutachten einfach von der Fachqualität seines Verfassers abhängig machen. Es mußte primär auf den Inhalt und den Grad der Begründetheit der Gutachten eingehen. Dazu bestand um so mehr Anlaß, als die hier von Prof. Dr. T eingeholte Äußerung nicht eigentlich dem Spezialwissen des Facharztes vorbehalten war und die anderen Sachverständigen im Gegensatz zu ihm ihre Beurteilung unmittelbar auf Untersuchungen und Behandlungen zu der in Betracht kommenden Zeit zurückführen konnten. Der sonach verbleibende Widerspruch wird auszuräumen oder genauer zu erläutern sein. Erst dann wird sich der Berufungsrichter für seine Beweiswürdigung auf hinreichende sachliche Gründe beziehen können.

Damit die Beweisaufnahme in der angegebenen Richtung nachgeholt werden kann, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Zu der von der Beklagten aufgeworfenen Frage, ob die Rente - wenn überhaupt - für den vollen Monat September 1969 zuzusprechen war, ist im gegenwärtigen Rechtszuge eine Entscheidung nicht zu treffen. Das LSG wird sich erforderlichenfalls mit dem diesbezüglichen Vorbringen der Beklagten auseinander zu setzen haben.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Berufungsgericht vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669546

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