Rz. 621

Die Verwirkung des Unterhaltsanspruchs des minderjährigen Kindes kann sich jedoch aus § 242 ergeben, sofern Zeit- und Umstandsmoment erfüllt sind.[821] Wenn der Unterhaltsschuldner sich nach einer gewissen Zeit aufgrund besonderer hinzutretender Umstände davon ausgehen durfte/musste, dass der Unterhaltsgläubiger ihn nicht mehr auf Zahlung in Anspruch nehmen werde, kann er dem Unterhaltsanspruch die von Amts wegen zu beachtende Einwendung der Verwirkung entgegenhalten.[822]

 

Rz. 622

Ausgangspunkt ist der (Unterhalts-)Schuldnerschutz, dem bei Unterhaltsrückständen von mehr als einem Jahr besondere Bedeutung zukommt. Daneben ist davon auszugehen, dass der Unterhaltsgläubiger auf die Unterhaltsleistung, die schließlich seinen Lebensbedarf decken soll, aufgrund bestehender Bedürftigkeit dermaßen angewiesen ist, dass er die Durchsetzung seiner Unterhaltsansprüche ohne großes Zuwarten betreibt. Die Frage der Verjährung, insbesondere dass diese während der Minderjährigkeit des Unterhaltsgläubigers nach § 207 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a gehemmt ist, spielt im Rahmen der Verwirkung keine Rolle.

 

Rz. 623

 

Praxistipp

Die Verwirkung beseitigt die anspruchsbegründende Wirkung einer Inverzugsetzung oder Rechtshängigkeit und kann darüber hinaus auch bereits titulierte Ansprüche erfassen,[823] die auf einen öffentlich-rechtlichen Träger übergegangen sind.[824]

 

Rz. 624

Ob die Titulierung des Unterhaltsanspruchs, aber Unterlassen der Zwangsvollstreckung durch den Gläubiger zu einer größeren Schutzwürdigkeit des Schuldners[825] oder dieses Vorgehen des Gläubigers dem Schuldner verdeutlicht, dass die Ansprüche verfolgt werden,[826] ist am konkreten Einzelfall zu entscheiden.

[821] Eschenbruch/Maaß, Kap. 2 Rn 457.
[822] BGH FamRZ 1988, 370; OLG Düsseldorf FamRZ 1989, 776.
[823] BGH FamRZ 1999, 1422; OLG Oldenburg. FamRZ 2012, 148; OLG Schleswig FamRZ 2001, 1707.

(1) Das Zeitmoment

 

Rz. 625

Es können nur fällige Unterhaltsansprüche verwirkt werden. Diese müssen ein Jahr und länger zurückliegen.[827]

 

Rz. 626

 

Praxistipp

Werden Unterhaltsansprüche, deren Fälligkeit ein Jahr und mehr zurück liegt, vom Gläubiger nicht zeitnah geltend gemacht, ist jedenfalls die Möglichkeit der Verwirkung zu prüfen.

 

Rz. 627

Grundsätzlich können auch bereits titulierte Unterhaltsansprüche – unabhängig von der Verjährung – verwirken.[828] Das diesbezügliche Zeitmoment umfasst in der Rechtsprechung jedoch die weite Spanne von einem[829] über vier[830] bis zu sieben[831] Jahren. Unter Umständen ist das Zeitmoment bereits nach einem Jahr erfüllt.[832]

 

Rz. 628

 

Praxistipp

Besteht hinsichtlich der Unterhaltsansprüche Beistandschaft des Jugendamts, muss sich das unterhaltsberechtige Kind dessen Verhalten in der Unterhaltsauseinandersetzung zurechnen lassen.[833]

[830] OLG Stuttgart FamRZ 1999, 859; OLG Karlsruhe FamRZ 1993, 1456.
[831] OLG Frankfurt a.M. FamRZ 1999, 1163.
[833] OLG Hamm NZFam 2014, 759 m. Anm. Kemper.

(2) Das Umstandsmoment

 

Rz. 629

Bei der Prüfung des Umstandsmoments ist darauf abzustellen, ob sich der Unterhaltsschuldner darauf verlassen und mithin seine Ausgaben- und Lebensplanung darauf einrichten durfte, dass er vom Unterhaltsschuldner nicht mehr auf Zahlung in Anspruch genommen werde.

 

Rz. 630

Die Abwägung muss vor dem Hintergrund erfolgen, dass die Unterhaltszahlung den Lebensbedarf des Unterhaltsgläubigers decken soll, der Unterhaltsschuldner also bedürftig und auf die Unterhaltszahlung angewiesen ist. Im Besonderen gilt dies für Unterhaltszahlbeträge, die dem Mindestunterhalt entsprechen oder darunter liegen. Sofern Unterhaltsansprüche im Bereich des Mindestunterhalts oder darunter, während des Zeitraums von einem Jahr nicht verfolgt werden, kann sich m.E. der Schuldner darauf einstellen, dass er hinsichtlich dieser Rückstände nicht mehr in Anspruch genommen werde, da der Unterhaltsgläubiger den Anschein fehlender Bedürftigkeit erweckt.

 

Rz. 631

 

Praxistipp

Es ist jedenfalls Sache des Unterhaltsschuldners, zu den Umstandsmomenten vorzutragen.

 

Rz. 632

Der Unterhaltsgläubiger kann den Eintritt der Verwirkung hindern, indem er den Schuldner regelmäßig und ernsthaft zur Zahlung auffordert,[834] die Ansprüche rechtshängig macht, wobei Stufenantrag nur dann genügt, wenn der Rechtstreit nach Erledigung der jeweiligen Stufen vom Antragsteller zeitnah weiterbetrieben wird,[835] oder bei bereits erfolgter Titulierung der Ansprüche regelmäßig Vollstreckungsversuche unternimmt.[836]

 

Rz. 633

M. E. ist das Umstandsmoment bei Untätigkeit des Unterhaltsgläubigers – in Zusammenschau mit dem Zeitmoment – über den Zeitraum eines Jahres hinweg erfüllt. In der familiengerichtlichen Praxis wird oftmals ein "Mehr" im Sachverhalt verlangt, damit sich der Unterhaltsschuldner darauf verlassen können soll, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden. Damit w...

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