Digitalisierung: Leitplanken für Cloud und Crowd schaffen

Wohin geht die Reise in der digitalisierten Arbeitswelt? Das erforschen sechs Verbundpartner, die nun einen ersten Bericht über die „Herausforderung Cloud und Crowd“ gaben. Sie sind sich einig: Der Fokus muss sich auf Konzepte richten, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen.

„Der digitale Umbruch war lange eine Worthülse“, startet Verbundkoordinator Professor Andreas Boes seinen Vortrag über Vorreiterunternehmen der Digitalisierung und fährt fort: „Jetzt lichtet sich der Nebel. Die Cloud ist die Basis des digitalen Umbruchs.“

Nach über 100 Interviews und Recherchen bei 67 Experten erklärt das Vorstandsmitglied des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) München die Cloud als transparenten Raum, der erst durch die Aktivität der Menschen lebendig wird und Bedeutung erhält. Boes sieht in dieser Wolke die Basis, die datengetriebene Geschäftsmodelle erst möglich macht.

Folgen der Digitalisierung für die Menschen im Fokus

Doch nicht IT-Infrastruktur, Speicherplatz, Rechenleistung oder Anwendungssoftware werden in dem Verbundprojekt untersucht, sondern die Mensch-Maschine-Beziehung, die Wirkung der Transformation in der Wirtschaft auf die Arbeits- und Sozialsysteme - auch mit Blick auf die Folgen für Wohlstand und Demokratie. „Wir dürfen die Cloud nicht den Informatikern überlassen“, fordert Boes energisch. „Wir müssen gestaltend in den Umbruch eingreifen.“

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Dem stimmen seine Projektpartner zu. Auch, wenn sie im Detail unterschiedliche Aspekte präsentieren. Kooperationspartner sind neben dem ISF die Universität Kassel, die Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), die Gewerkschaften IG Metall und Verdi sowie die Berater für Agilität und Softwareentwicklung Andrena Objects. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Projekt aus Mitteln des Programms „Innovationen für die Produktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen“. Insgesamt ist das Verbundprojekt „Herausforderung Cloud und Crowd – Neue Organisationskonzepte für Dienstleistungen nachhaltig gestalten“ auf drei Jahre angelegt.

Digitalisierung bei SAP und Bosch

Im Münchener Literaturhaus hörten nun rund 200 Teilnehmer aus Hochschulen und Unternehmen, Gewerkschaften und Kirchen die ersten Zwischenergebnisse. Den Auftakt aber machten zwei Praktiker: Eva Zauke, bei SAP Managerin für das Internet der Dinge, und der Geschäftsführer der Bosch Software Innovations GmbH Rainer Kallenbach beschreiben, was heute schon Geschäfts- und Arbeitsrealität ist. SAP setzt auf „Cloud First“, um seine Kunden dabei zu unterstützen, ihr gewohntes Geschäftsmodell durch die digitale Transformation komplett umzustellen.

Zauke mahnt eine offenere Fehlerkultur an: „Obwohl man eine tolle Idee hat, kann man scheitern, aber aus den Rückschlägen kann man lernen.“ Nicht Neugründungen wie die Zimmerplattform Airbnb sind ihre Beispiele sondern Produktionsfirmen im Wandel: Nissan verkauft nicht Autos sondern Mobilität, Hilti nicht Bohrer sondern Bohrlöcher. Bosch nennt seine Leitversion „Connected World“. Spargelfelder mit Wärmesensoren oder die vernetzte Parkplatzsuche sind für Kallenbach keine ferne Zukunftsmusik mehr. Doch wer solche Lösungen entwickeln will, müsse, so der Ingenieur, vor allem die Arbeitsweise und Führungskultur verändern. 

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Selbstorganisation, kleine Teams, höheres Tempo sind die Schlagwörter, mit denen sich die traditionell hierarchische Bosch-Welt konfrontiert sieht. Da geht es dem schwäbisch-internationalen Konzern wie allen Unternehmen, die es in die Zukunftswelt der digitalen Dienstleistungen zieht.

Crowdworker tauschen sich nicht genug aus

Um die neuen Formen und Arbeitsbeziehungen geht es auf dem Kongress in Werkstattgesprächen und auf dem Podium. Die LMU und Verdi haben 800 Solo-Selbstständige befragt, von denen die Hälfte ihre Dienstleistungen hauptberuflich anbieten. Etwa fünf Prozent akquirierten ihre Aufträge bereits auf Internetplattformen. Ihre Unzufriedenheit war hoch. „Vieles passt nicht in die bekannte Arbeitslogik, man muss erst die Plattformlogiken verstehen“, benennt LMU-Professor Hans J. Pongratz ein Problem – und will die Rahmenbedingungen durch Arbeitszeit- und Urheberrechtsgesetz, Tarifverträge und Allgemeine Geschäftsbedingungen weiter untersuchen. Da der Mangel an Austausch zwischen Online-Arbeitern so gering ist, scheinen ihm Selbsthilfemodelle wie Genossenschaften bedenkenswert.

Mehr Regelungsleitplanken für Crowd Worker gefordert

Auch das Team um den Kasseler Professor Marco Leimeister untersucht Crowd-Working-Plattformen – und zwar die 32, die ihren physischen Standort in Deutschland haben. In Tiefeninterviews mit den Geschäftsführern oder Vorständen von bisher 14 Plattformen wurden die Governance- und Steuerungsmechanismen eruiert, die Verzahnung externer und interner Crowds sowie das Potenzial für komplexe Fragestellungen, die mit Hilfe der Crowd gelöst werden können.

Für alle Unternehmen ist die Crowd-Fähigkeit von Aufgaben eine entscheidende Frage: Welches Wissen benötigt der Auftraggeber, welche Prozesslogik steckt hinter der Herausgabe von Information und der Einholung von Ideen? Mit der steigenden Flexibilität werden Menschen erreicht, die bisher nicht am regulären Arbeitsmarkt teilnehmen, gleichzeitig gehen traditionelle Beschäftigungsformen zurück. Leimeister hält deshalb Regelungsleitplanken für wichtig: „Die Regulierung muss die Ortsungebundenheit überwinden, damit sie wirken kann.“ Nicht der Standort des Crowdworkers müsse die Basis für sozialverträgliche Vereinbarungen sein, sondern der des Bestellers.

Agilität erfordert lebenslange Lernbereitschaft 

Unter den Arbeitsformen der digitalen Welt gilt Agilität als Favorit. Die schnelle Anpassung an immer neue Aufgaben und Aufträge erfordern flexible und schlanke, innovative und kundenorientierte, mitarbeiterkompetenzorientierte und technologisch gestützte Organisationen. Denn die Projekte und Prozesse sind nicht stabil sondern fluid.

Das Unternehmen Andrena setzt genau dort an: Wenn sich Teams nämlich selbst organisieren, müssen sie die Werkzeuge und Methoden erlernen. Wenn Führung abgelöst wird durch Selbstorganisation, bedarf das einer Qualifizierungsoffensive. Das beinahe altmodisch klingende Postulat der lebenslangen Lernbereitschaft kriegt bei den Softwareentwicklern und Agilitätsberatern neuen Drive.

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Mindestlohn für Crowdworker in der Debatte

Ausschnitte produktionsnaher Dienstleistungsfelder und die Kundenschnittstelle in cloudbasierten Wertschöpfungssystemen werden von den Gewerkschaftsteams untersucht. IG-Metall-Bereichsleiterin Vanessa Barth: „Wir kartographieren gerade die Cloud.“ Für das IG-Metall-Vorstandsteam spielen neben Haftungsrisiken – etwa bei Autos aus 3-D-Bausätzen – das Risiko der globalen Unterbietungskonkurrenz sowie die Untergrabung sozialer Schutz- und Mitbestimmungsrechte eine Rolle. Auch die gesetzliche Sozialversicherung droht zu erodieren, weil Crowdworker sich weder absichern wie Arbeitnehmer noch wie Selbstständige aus der alten Welt, etwa Rechtsanwälte oder Ärzte.

Diskutiert wird die Einführung eines Mindestlohns für die Arbeit auf digitalen Plattformen, die Betrachtung von Aufgabenvergabe an digitale Plattformen als Betriebsänderung im Sinne des Betriebsverfassungsgesetz, die Anwendung des Tarifvertragsgesetzes, in dessen § 12a der Status arbeitnehmerähnlicher Selbstständiger definiert wird, oder die Nutzung des Heimarbeitsgesetzes. Auch das Recht für Gewerkschaften, Plattform-Beschäftigte etwa durch den Zugang zu E-Mail-Verteilern anzusprechen, ist ein Vorschlag, der die schwebenden Zustände der digitalen Arbeitswelt sozial verträglich organisieren soll.

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Verdi beschäftigt sich mit Arbeitnehmern in Callcentern, in denen die Standardisierung und die Übernahme bestimmter Aufgaben durch Software-Roboter Einsparpotenzial birgt und zugleich digitale Kundenkanäle vom Textchat über SMS bis zu Facebook, Blogs und Foren die Arbeit verdichtet und technisiert.

Den Widerspruch zwischen Dequalifizierung durch teilautomatisierte Prozesse und die Streichung von Mischarbeitsplätzen auf der einen Seite und hochwertigem individualisiertem Kundenservice auf der anderen beobachtet das Gute-Arbeit-Team in Unternehmen, die zeitgemäße IT-Rahmenregeln schaffen, um die Arbeitsbedingungen beschäftigtenorientiert zu gestalten.

Tarifverträge versus Angst vor Überregulierung

So unstrittig es unter den sechs Projektpartnern ist, dass soziale Sicherungssysteme der digitalen Wirtschaftswelt angepasst werden müssen, so klar ist auch, dass die einen wie der Leiter Innovation und Gute Arbeit bei Verdi, Karl-Heinz Brandl, mit Tarifarbeit gegen die Spaltungsprozess in der Gesellschaft angehen und Pilottarifverträge favorisieren. Und das andere wie Professor Marco Leimeister eine Überregulierung fürchten. Zwei Jahre dauert das Verbundprojekt noch an. Wie nah sich die Positionen bis dahin kommen werden, bleibt spannend.   


Für den Terminkalender

Die Projektpartner haben in München bereits ihren nächsten Zwischenbericht angekündigt. Die Universität Kassel wird die „Cloud und Crowd“-Konferenz am 25.4.2018 in den Räumen der IG Metall Hauptverwaltung in Frankfurt organisieren.


Weitere Infos: Personalmagazin, Ausgabe 10/2016.

Schlagworte zum Thema:  Digitalisierung, Agilität, Mindestlohn, Tarifvertrag