Rz. 451

Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Kündigung ist auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung abzustellen. Treten also nach Zugang der Kündigung neue Tatsachen auf, die einen eigenständigen Kündigungsgrund bilden, können sie zur Rechtfertigung der bereits ausgesprochenen Kündigung grds. nicht herangezogen werden. Soll eine Kündigung auf Tatsachen gestützt werden, die nach ihrem Ausspruch eingetreten sind, muss ggf. eine neue Kündigung ausgesprochen werden. Allerdings können nach der st. Rspr. des Bundesarbeitsgerichts und der h. M. in der Literatur Kündigungsgründe, die dem Kündigenden bei Ausspruch der Kündigung noch nicht bekannt waren, dann nachgeschoben werden, wenn sie bereits vor Ausspruch der Kündigung entstanden sind (BAG, Urteil v. 6.9.2007, 2 AZR 264/06[1]; BAG, Urteil v. 4.6.1997, 2 AZR 362/96[2]). Beschränkungen ergeben sich formell allerdings ggf. aus Mitbestimmungsrechten, wenn z. B. der Betriebsrat zu den nachgeschobenen Gründen nicht angehört wurde, oder prozessual durch die Vorschriften über die Zurückweisung verspäteten Vorbringens (§§ 61a, 67 ArbGG).

Der Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung ist auch maßgeblich für die Interessenabwägung. Nachträglich eingetretene Umstände können für die gerichtliche Beurteilung im Rahmen der Interessenabwägung insoweit von Bedeutung sein, wie sie die Vorgänge, die zur Kündigung geführt haben, in einem neuen Licht erscheinen lassen. Dazu müssen zwischen den neuen Vorgängen und den alten Gründen so enge innere Beziehungen bestehen, dass jene nicht außer Acht gelassen werden können, ohne dass ein einheitlicher Lebensvorgang zerrissen würde (BAG, Urteil v. 10.6.2010, 2 AZR 541/09[3]).

 

Rz. 452

Die Wirksamkeit einer Kündigung hängt nicht von der späteren strafrechtlichen Würdigung eines den Sachverhalt begründenden Verhaltens ab. Bei der Verdachtskündigung liegt der Grund in der Beeinträchtigung des für das Arbeitsverhältnis erforderlichen Vertrauens durch den Verdacht (BAG, Urteil v. 21.6.1995, 2 AZR 735/94[4]). Der Arbeitgeber darf den Fort- und Ausgang des Strafverfahrens abwarten und abhängig davon in dessen Verlauf zu einem nicht willkürlich gewählten Zeitpunkt kündigen. Für die Wahl des Zeitpunkts bedarf es eines sachlichen Grundes. Wenn der Kündigungsberechtigte neue Tatsachen erfahren oder neue Beweismittel erlangt hat und nunmehr ausreichend Erkenntnisse für eine Kündigung zu haben glaubt, kann er dies zum Anlass für den Ausspruch einer – neuerlichen – Kündigung nehmen (BAG, Urteil v. 22.11.2012, 2 AZR 732/11[5]). Wird nach Ausspruch einer auf den Verdacht einer strafbaren Handlung des Arbeitnehmers gestützten Kündigung das wegen der vorgeworfenen Straftat eingeleitete Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO eingestellt, steht das der Wirksamkeit einer Verdachtskündigung nicht entgegen. Geht die Staatsanwaltschaft bei einem bestimmten Verfahrensstand davon aus, die Straftat sei bei dem verdächtigen Arbeitnehmer jedenfalls nicht beweisbar, hindert dies den Arbeitgeber nicht, im Arbeitsgerichtsverfahren den Beweis für eine vollendete Straftat oder zumindest einen entsprechenden Tatverdacht zu führen.

 

Beispiel

Durch eine verdeckte Videokamera wurde die in einem Krankenhaus reinigende Arbeitnehmerin bei der Entnahme eines Kartons mit Windeln gefilmt. Die Arbeitnehmerin bestritt den Diebstahl. Im Laufe des Kündigungsschutzprozesses wegen der daraufhin erfolgten Verdachtskündigung stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren ein. Die Wirksamkeit der Verdachtskündigung hängt davon allerdings nicht ab, da die Einstellung nicht mit einem "Freispruch wegen erwiesener Unschuld" zu vergleichen ist (BAG, Urteil v. 20.8.1997, 2 AZR 620/96[6]).

 

Rz. 453

Auch bei der Tatkündigung ist die strafrechtliche Würdigung nicht entscheidend. Der Kündigung wegen begangener Straftat steht nicht einmal entgegen, dass das Strafverfahren die vom Arbeitgeber erwartete Klärung des Sachverhalts nicht erbracht hat und z. B. ohne Urteilsspruch eine Einstellung gegen Zahlung eines Geldbetrags erfolgt ist (BAG, Urteil v. 12.12.1984, 7 AZR 575/83[7]).

 

Rz. 454

Wird die Kündigung vom Arbeitgeber zunächst nur mit dem Verdacht eines pflichtwidrigen Handelns begründet, steht jedoch nach Überzeugung des Gerichts – z. B. aufgrund einer erfolgten Beweisaufnahme – die Pflichtwidrigkeit fest, so lässt dies die Wirksamkeit der Kündigung aus materiell-rechtlichen Gründen unberührt. Das Gericht ist – auch ohne ausdrückliche Berufung des Arbeitgebers auf diesen Gesichtspunkt – nicht gehindert, die nachgewiesene Pflichtwidrigkeit als Kündigungsgrund anzuerkennen (BAG, Urteil v. 3.7.2003, 2 AZR 437/02[8]; BAG, Urteil v. 6.12.2001, 2 AZR 496/00[9]).

[1] AP BGB § 626 Nr. 208.
[2] AP BGB § 626 Nachschieben von Kündigungsgründen Nr. 5.
[3] AP BGB § 626 Nr. 229.
[4] RzK I 8c Nr. 37.
[5] AP BGB § 626 Nr. 241.
[6] AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 27.
[7] AP BGB § 626 Ausschlussfrist Nr. 19.
[8] AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 38.
[9] AP BGB § 626 Verdacht strafbare...

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