Rz. 396
In der Regel ist bei allen Formen der Pflichtwidrigkeiten – auch bei Störungen im Vertrauensbereich – vor Ausspruch einer ordentlichen oder außerordentlichen Kündigung eine Abmahnung erforderlich (BAG, Urteil v. 29.6.2017, 2 AZR 302/16[1]). Eine Abmahnung ist vor allem dann notwendig, wenn es um ein steuerbares Verhalten des Arbeitnehmers geht und eine Wiederherstellung des Vertrauens erwartet werden kann (BAG, Urteil v. 9.6.2011, 2 AZR 381/10[2]; BAG, Urteil v. 12.5.2010, 2 AZR 845/08[3]). Die von der früheren Rechtsprechung vorgenommene Differenzierung nach verschiedenen Störbereichen ist aufgegeben (BAG, Urteil v. 4.6.1997, 2 AZR 526/96[4]).
Rz. 397
Die Abmahnung ist nur dann ein geeignetes Mittel, wenn sie zu einem Erfolg führen kann. Sie kann daher vor allem in 2 Fallgestaltungen entbehrlich sein: Gibt der Arbeitnehmer trotz Kenntnis der Pflichtwidrigkeit zu erkennen, dass er sich (künftig) nicht vertragsgetreu verhalten will, ist die Abmahnung erfolglos. Handelt es sich ferner um eine schwere Pflichtverletzung, deren Rechtswidrigkeit dem Arbeitnehmer ohne weiteres erkennbar ist und bei der eine Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist, ist eine Abmahnung ebenfalls nicht erforderlich (BAG, Urteil v. 23.6.2009, 2 AZR 283/08[5]).
Rz. 398
Nachfolgend finden sich Rechtsprechungsbeispiele, bei denen die Erteilung einer Abmahnung entbehrlich war:
- Diebstahl oder Unterschlagung von Eigentum des Arbeitgebers – auch geringwertiger Sachen –, welches sich in der Obhut des Arbeitnehmers befindet, wodurch das Vertrauensverhältnis der Parteien objektiv erheblich belastet wird (BAG, Urteil v. 12.8.1999, 2 AZR 923/98[6]; BAG 21.6.2012, 2 AZR 153/11: Entwendung von Zigarettenpackungen aus dem Warenbestand[7]). Eine Abmahnung ist dagegen dann erforderlich, wenn der Arbeitnehmer mit vertretbaren Gründen, etwa aufgrund einer unklaren Regelung oder Anweisung annehmen konnte, sein – objektiv strafbares – Verhalten sei nicht vertragswidrig oder werde vom Arbeitgeber nicht als kündigungsrelevant angesehen, z. B. weil nach langjähriger störungsfreier Beschäftigung eine vergleichsweise geringfügige wirtschaftliche Schädigung des Arbeitgebers erfolgt ist (BAG, Urteil v. 10.6.2010, 2 AZR 541/09 "Fall Emmely": Unrechtmäßiges Einlösen aufgefundener Leergutbons im Wert von insgesamt 1,30 EUR[8]).
- Arbeitszeitmanipulation (BAG, Urteil v. 9.6.2011, 2 AZR 381/10[9]; BAG, Urteil v. 24.11.2005, 2 AZR 39/05[10])
- Hartnäckige und uneinsichtige Arbeitsverweigerung (BAG, Urteil v. 16.3.2000, 2 AZR 75/99[11]: über 2 Monate andauerndes unentschuldigtes Fehlen; BAG, Urteil v. 18.5.1994, 2 AZR 626/93[12]; BAG, Urteil v. 28.6.2018, 2 AZR 436/17[13])
- Missbrauch des Bereitschaftsdienstzimmers zu privaten Zwecken unter Ausnutzung der Stellung als Arzt und Überschreitung der zu Patienten zu wahrenden Distanz durch Durchführung des Geschlechtsverkehrs (BAG, Urteil v. 18.10.1990, 2 AZR 157/90[14])
- Private exzessive Nutzung des Internets während der Arbeitszeit (BAG, Urteil v. 7.7.2005, 2 AZR 581/04[15]; BAG, Urteil v. 31.5.2007, 2 AZR 200/06[16])
- Verstoß gegen ein Wettbewerbsverbot während eines bestehenden Arbeitsverhältnisses (BAG, Urteil v. 25.4.1991, 2 AZR 624/90[17]; BAG, Urteil v. 16.8.1990, 2 AZR 113/90[18])
- Vortäuschen einer Arbeitsunfähigkeit oder genesungswidriges Verhalten (BAG, Urteil v. 2.3.2006, 2 AZR 53/05[19]: Skiurlaub mit Verletzungsfolgen während einer mit Konzentrationsschwäche verbundenen Erkrankung; BAG, Urteil v. 26.8.1993, 2 AZR 154/93[20]; schichtweises Nachgehen einer Vollzeitbeschäftigung während einer Krankheit)
- Androhung einer künftigen Erkrankung für den Fall der Nichtgewährung von Erholungsurlaub ohne Krankheitsanzeichen zum Zeitpunkt der Ankündigung (BAG, Urteil v. 5.11.1992, 2 AZR 147/92[21])
- Vortäuschen von Geldauszahlungen an Kunden durch einen Bankangestellten, um die Beträge zu eigenen Zwecken zu verwenden (BAG, Urteil v. 3.7.2003, 2 AZR 327/02[22])
- Schmiergeldannahme (BAG, Urteil v. 26.3.2004, 2 AZR 245/04[23]; BAG, Urteil v. 21.6.2001, 2 AZR 30/00[24])
- Ausübung einer Nebentätigkeit während einer ärztlich attestierten Arbeitsunfähigkeit (BAG, Urteil v. 26.8.1993, 2 AZR 154/93[25]; BAG, Urteil v. 3.4.2008, 2 AZR 965/06[26])
- Sexuelle Belästigung anderer Mitarbeiter (BAG, Beschluss v. 9.1.1986, 2 ABR 24/85[27])
- Stalking (BAG, Urteil v. 19.4.2012, 2 AZR 258/11[28])
- Mehrfache grob fahrlässige Pflichtverletzung mit erheblicher Schadensfolge (BAG, Urteil v. 4.7.1991, 2 AZR 79/91[29]: Wiederholte rechtsgrundlose Bewilligung eines insgesamt nicht unerheblichen Geldbetrags unter Überschreitung der Befugnisse)
- Antisemitische Äußerungen (BAG, Urteil v. 5.11.1992, 2 AZR 287/92[30])
- Tätlichkeiten unter Arbeitskollegen (BAG, Urteil v. 31.3.1993, 2 AZR 492/92[31]; BAG, Urteil v. 12.3.1987, 2 AZR 176/86[32]; BAG, Urteil v. 18.9.2008, 2 AZR 1039/06[33])
Rz. 399
Für die Warnwirkung der Abmahnung ist es nicht erforderlich, dass es sich um identische Pflichtverletzungen handelt. Es reicht aus, d...
Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Personal Office Platin. Sie wollen mehr?
Jetzt kostenlos 4 Wochen testen
Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen