Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 30.11.1992; Aktenzeichen L 2 I 205/91)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. November 1992 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Umstritten ist die Zulässigkeit der Berufung des Klägers. Es geht dabei um die Frage, ob gegen eine Fristsäumnis, die auf die Wahl einer falschen Telefaxnummer durch eine Angestellte des Klägervertreters zurückzuführen war, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.

Die Beklagte hatte durch Bescheid vom 12. April 1989 einen Rentenantrag des Klägers abgelehnt. Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1990, Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Mainz vom 7. Januar 1992). Das Urteil des SG ist den Bevollmächtigten des Klägers nach der Bestätigung auf dem Empfangsbekenntnis am 28. Februar 1992 zugestellt worden.

Die Berufungsschrift wurde am 30. März 1992 gefertigt und an das Landessozialgericht (LSG) adressiert. Sie sollte dorthin per Telefax übermittelt werden. Infolge einer Nummernverwechslung ging die Berufungsschrift jedoch bei der Staatsanwaltschaft Mainz ein und zwar um 18.05 Uhr desselben Tages. Von dort wurde sie am 31. März 1992 ebenfalls per Telefax an das LSG weitergeleitet. Dieses hat den Bevollmächtigten des Klägers darauf hingewiesen, daß die Berufungsschrift nach Ablauf der Berufungsfrist eingegangen sei. Hierzu trug der Bevollmächtigte des Klägers vor, das Telefax sei deshalb bei der Staatsanwaltschaft und nicht beim LSG eingegangen, weil die ausführende Mitarbeiterin irrtümlich die falsche Nummer (141821 anstatt 141567) gewählt habe. Die Mitarbeiterin befinde sich im zweiten Lehrjahr und sei ständig mit der Zustellung von Telefaxen betraut gewesen. Dazu sei ihr eine gesonderte Liste mit den Telefaxnummern der Mainzer Gerichte und der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt worden. An einem sogenannten Display könne abgelesen werden, ob die herausgesuchte Telefaxnummer auch tatsächlich gewählt wurde oder ein Eingabefehler vorliege. Die vom Klägervertreter eingereichte Liste enthielt auf einem Blatt von DINA 4-Format fünf verschiedene Telefaxnummern; sie hatte (nach Inhalt und Raumaufteilung) folgende Gestalt:

Amtsgericht u. Landgericht Mainz 141 947 Arbeitsgericht u. Landesarbeitsgericht Mainz 141 567 Sozialgericht und Landessozialgericht Mainz 141 567 Staatsanwaltschaft Mainz 141 821 Verwaltungsgericht Mainz 141 821 Dazu trägt der Klägervertreter weiter vor, bisher sei kein Fall von Fehlleitung aufgetreten. Eine Überwachung erfolge stichprobenartig. Eine Überprüfung dieser Absendung sei nicht möglich gewesen, da sich um 18.05 Uhr keiner der Bevollmächtigten mehr im Büro befunden habe.

Das LSG hat durch Urteil vom 30. November 1992 die Berufung des Klägers wegen Fristversäumnis als unzulässig verworfen und zur Begründung ausgeführt, die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht erfüllt. Die Bevollmächtigten des Klägers hätten die erhöhten Sorgfaltspflichten verletzt, die bestehen, wenn – wie hier – eine Berufung erst am letzten Tag der Berufungsfrist eingelegt wird. In solchen Fällen sei eine Kontrolle der Absendung des Telefaxes erforderlich. Eine Pflichtverletzung durch die Staatsanwaltschaft scheide aus, weil das Telefax erst nach Büroschluß eingegangen sei. Die Staatsanwaltschaft sei nicht verpflichtet gewesen, dafür Sorge zu tragen, daß auch dann noch fehlgeleitete Eingänge per Telefax unverzüglich weitergeleitet würden.

Hiergegen richtet sich die vom Senat zugelassene Revision des Klägers, mit der er die Verletzung des § 67 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) rügt. Er trägt dazu vor, das LSG sei von der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21. Dezember 1981 – 5a RKn 8/81 – (Breithaupt 1982, 1010) abgewichen. Die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dürften nicht überspannt werden. Dies aber habe das LSG getan, so daß das Grundrecht auf rechtliches Gehör aus Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) verletzt worden sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. November 1992 (L 2 I 56/92), das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 7. Januar 1992 (S 4 J 282/90) sowie den Bescheid vom 12. April 1989 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 1990 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Das LSG geht zwar zutreffend davon aus, daß der Kläger die Berufungsfrist versäumt hat. Es durfte die Berufung jedoch nicht als unzulässig verwerfen, weil die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und damit für den Erlaß eines Sachurteils gegeben waren.

Der Kläger hat die Berufungsfrist versäumt, weil die Berufungsschrift erst am 31. März 1992 beim LSG eingegangen ist. Das Urteil des SG war den Klägervertretern laut Empfangsbekenntnis am 28. Februar 1992 zugestellt worden. Die Monatsfrist für die Einlegung der Berufung (§ 151 Abs 1 SGG) endete dementsprechend gem § 64 Abs 2 Satz 1 SGG grundsätzlich mit dem Tage des gleichen Datums im März; das wäre der 28. März 1992 gewesen. Da dieser jedoch ein Sonnabend, der Folgetag ein Sonntag, war, endete die Berufungsfrist im vorliegenden Fall am 30. März 1992.

Gegen die Versäumung der Berufungsfrist war jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Nach § 67 SGG, der nach § 153 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend gilt, ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn ein Prozeßbeteiligter ohne sein Verschulden gehindert war, die gesetzliche Frist für die Einlegung der Berufung einzuhalten. Im vorliegenden Fall beruhte die Fristversäumnis darauf, daß eine Angestellte der Anwälte des Klägers die ordnungsgemäß adressierte Berufungsschrift infolge einer Verwechslung der Telefaxnummern an die Staatsanwaltschaft übermittelt hat. Es handelt sich unter Beachtung der besonderen Umstände des Falles um einen Vorgang, für den allein die Angestellte ein Verschulden trifft, nicht aber die Bevollmächtigten des Klägers oder den Kläger. Der Kläger hat jedoch nur für das Verschulden seiner Bevollmächtigten, nicht aber für das Verschulden von Kanzleiangestellten einzustehen (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl § 67 RdZiff 3a mwN). In der Wahl des Übermittlungsweges – hier Telefax – liegt kein Verschulden. Der erkennende Senat hat bereits ausführlich dazu Stellung genommen, daß gegen eine Übermittlung durch Telefax keine Bedenken bestehen, dieser Übermittlungsweg auch kurz vor Fristablauf gewählt werden kann und eine Verweisung auf andere Übermittlungswege (die ebenfalls sämtlich mit Risiken belastet sind) grundsätzlich nicht berechtigt ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 7).

Richtig ist allerdings, daß die Übermittlung am letzten Tag und insbesondere in den letzten Stunden der Berufungsfrist erhöhte Sorgfaltspflichten auslöst. Das LSG hat aber insoweit die Anforderungen überspannt (vgl dazu allgemein BSGE 38, 248, 260 mwN). Verfahrensvorschriften sind nicht Selbstzweck, sondern dienen der Wahrung der materiellen Rechte der Prozeßbeteiligten. Im Zweifel sind sie so auszulegen, daß eine Entscheidung über die materielle Rechtslage nicht verhindert, sondern ermöglicht wird (vgl BSG SozR 3-1500 § 67 Nrn 1 und 7). Danach reicht es aus, wenn der Bevollmächtigte des Klägers diejenige Sorgfalt hat walten lassen, die einem gewissenhaften Rechtsanwalt bei Wahrung von Rechtsmittelfristen vernünftigerweise zuzumuten ist.

Soweit das LSG seine Entscheidung darauf stützt, daß der Klägervertreter es versäumt habe, die Richtigkeit der gewählten Telefaxnummer zu überprüfen, geht es über diese Grenzen hinaus und setzt sich zudem in Widerspruch zu gefestigter Rechtsprechung. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat bereits mehrfach entschieden, daß ein Rechtsanwalt nicht verpflichtet ist, die richtige Absendung fristwahrender Schriftstücke selbst zu kontrollieren (vgl zB BGH 28. Oktober 1993 VII ZB 22/93 – NJW 1994, 329, betrifft Telefax; BGH 10. März 1993 VIII ZB 1/93, VersR 1994, 75, betrifft postalische Angaben auf einem Schriftsatz). Der Rechtsanwalt hat lediglich die erforderlichen organisatorischen Vorkehrungen zu treffen, die gebotenen Weisungen zu erteilen und zuverlässiges Personal für diese Aufgaben auszuwählen. Diesen Anforderungen hat der Klägervertreter genügt. Dabei kann hier dahinstehen, ob im allgemeinen verlangt werden muß, daß der Rechtsanwalt zur Vermeidung von Tipp- und Verwechslungsfehlern sein Personal anweist, nach Absendung eines Telefaxes die im Sinne des Protokolls ausgedruckte Telefaxnummer noch einmal mit der Faxnummernliste oder dem Briefkopf eines Bezugsschreibens zu vergleichen (s zu den Anforderungen an die Kontrolle vollständiger Übermittlung BGH 24. März 1993 XII ZB 12/93, NJW 1993, 1655; BGH 16. September 1993 V ZB 33/93, NJW 1993, 3140). Im vorliegenden Fall war eine solche Weisung jedenfalls nicht zu verlangen. Eingabefehler wurden bereits auf dem Display offenbar, so daß schon vor Absendung unmittelbar während der Eingabe durch Hin- und Herschauen die Richtigkeit garantiert werden konnte. Dieser nahezu selbstverständliche Vorgang bedurfte bei zuverlässigem Personal keiner zusätzlichen Anweisung.

Zur Vermeidung der hier aktuell gewordenen Verwechslungsgefahr war im Büro der Klägervertreter bereits durch eine übersichtliche, auf wenige mit breitem Abstand aufgeführte Nummern beschränkte Liste Rechnung getragen worden, die Verwechslungen so gut wie ausschloß. Es ist zwar nicht fernliegend, daß beim Heraussuchen von Nummern aus einer enger bedruckten, viele Nummern umfassenden Liste Fehler entstehen, indem Zeilen verwechselt werden. Dies war aber bei der Liste, die den Angestellten der Klägervertreter zur Verfügung stand, nicht zu erwarten. Von jeder einigermaßen zuverlässigen Bürokraft konnte erwartet werden, daß sie einen einfachen überschaubaren Vorgang wie das Ablesen aus dieser außerordentlich übersichtlichen Liste ohne Verwechslungsfehler bewältigt. Bei einer so fernliegenden Gefahr wäre die Forderung nach weiteren Weisungen eine deutliche Überspannung (vgl auch BVerwG 26. April 1988 Buchholz 310 § 60 VwGO Nr 155; BGH 6. Oktober 1988 NJW 1989, 589) zumal, wenn – wie hier -die Bürokraft bereits durch längere fehlerfreie Arbeit ihre Zuverlässigkeit bewiesen hat und sich die Vorkehrungen als ausreichend erwiesen haben.

Da somit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren war und deshalb die Berufung als zulässig anzusehen ist, muß nunmehr in der Sache entschieden werden. Hierfür fehlen die erforderlichen Feststellungen; der erkennende Senat kann diese auch nicht nachholen (§ 163 SGG). Das Urteil des LSG war daher aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173127

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