Entscheidungsstichwort (Thema)

Amalgam. Richtlinien. Disziplinarmaßnahme. Therapiefreiheit. besondere Therapierichtung. Naturheilkunde. Schulmedizin. Außenseitermethode. Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Beratung des Patienten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Vertragszahnarzt, der nach Beratung eines Patienten auf dessen Wunsch Kunststoff anstelle von Amalgam als Füllungsmaterial auch in einem Regelfall verwendet, kann nicht wegen eines Verstoßes gegen die Richtlinien disziplinarisch bestraft werden.

2. Das in den Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche kassenzahnärztliche Versorgung enthaltene Gebot, als Füllungsmaterial im Seitenzahnbereich in der Regel Amalgam zu verwenden, ist rechtswidrig, soweit es auch den Fall betrifft, daß der Versicherte nach ordnungsgemäßer Beratung Amalgam ablehnt.

 

Normenkette

SGB V § 81 Abs. 5, § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, § 2 Abs. 1 Sätze 2-3, § 12 Abs. 1; RVO § 368m Abs. 4, § 368p Abs. 1; GG Art. 1-2, 5, 12

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 26.06.1991; Aktenzeichen L 7 Ka 22/90)

SG Berlin (Urteil vom 04.04.1990; Aktenzeichen S 71 Ka 65/89)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 26. Juni 1991, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. April 1990 und der Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 1989 aufgehoben.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

 

Tatbestand

I

Der Kläger wendet sich gegen Disziplinarmaßnahmen, die der Verfahrensausschuß der beklagten Kassenzahnärztlichen Vereinigung (KZÄV) gegen ihn verhängt hat.

Der Kläger ist Arzt und Zahnarzt und nimmt seit Dezember 1984 an der kassenzahnärztlichen Versorgung teil. Er hat seit dem Bestehen seiner Praxis kein Amalgam als Füllungsmaterial verwandt, was er im Rahmen eines Verfahrens vor dem RVO-Prüfungsausschuß einräumte. Der Verfahrensausschuß der beklagten KZÄV eröffnete daraufhin gegen den Kläger auf Antrag des Vorstandes ein Disziplinarverfahren. Der Kläger rechtfertigte sich damit, er habe sich mit der Naturheilkunde befaßt; für ihn sei die Verwendung von Amalgam ein ethisches Problem; das im Amalgam enthaltene Quecksilber belaste den Körper; der hypokratische Eid verpflichte die Ärzte, ihren Patienten kein Gift zu verabreichen; als erprobtes Füllungsmaterial sehe er auch das von ihm verwendete Kunststoffmaterial an. Mit Beschluß vom 22. Mai 1989 wurden dem Kläger ein Verweis erteilt und eine Geldbuße in Höhe von 500,– DM sowie die Verfahrenskosten auferlegt. Die Maßnahmen wurden im wesentlichen damit begründet, daß der Kläger sich mit der pauschalen und undifferenzierten Ablehnung des Füllungsmaterials Amalgam in Widerspruch gesetzt habe zu Abschnitt B II Ziffer 4 der Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen (KKn) für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche kassenzahnärztliche Versorgung (RL) idF vom 16. September 1981 (BAnz 1981 Nr. 192 Seite 11), wonach bei Molaren und Prämolaren in der Regel Amalgam als Füllungsmaterial angezeigt sei. Zwar sei die Verwendung von Amalgam in der zahnmedizinischen Literatur wegen einer möglichen toxischen Belastung des Körpers durch Quecksilber nicht unumstritten; trotzdem sei in der zahnmedizinischen Wissenschaft ganz überwiegend anerkannt, daß auf eine Verwendung von Amalgam als Füllungsmaterial für den größten Teil der Fälle nicht verzichtet werden könne. Eine ernstzunehmende Gesundheitsgefährdung durch die Verwendung von Amalgamfüllungen sei bislang nicht erwiesen.

Das Sozialgericht (SG) hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 4. April 1990), das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 26. Juni 1991). Nach Auffassung des LSG findet der angefochtene Beschluß in § 12 Abs. 1 der Satzung der Beklagten iVm § 368m Abs. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF eine ausreichende Rechtsgrundlage. Der Kläger habe mit seiner generellen Weigerung, Amalgam als Füllungsmaterial im Seitenzahnbereich zu verwenden, gegen die RVO und gegen verbindliche Richtlinien verstoßen. Die vom Kläger vorgebrachten Gründe könnten sein Vorgehen nicht rechtfertigen. Es sei nicht zu beanstanden, daß die Bundesausschüsse in den Richtlinien die Verwendung von Amalgam im Regelfall vorgeschrieben hätten. Auch nach Auffassung des Bundesgesundheitsamtes gebe es keinen wissenschaftlich begründeten Beweis für eine Gefährdung der Gesundheit durch das Legen oder Entfernen von Amalgamfüllungen. Den Bedenken des Klägers werde auch dadurch in ausreichender Weise Rechnung getragen, daß in begründeten Ausnahmefällen andere Füllungsmaterialien verwendet werden dürften.

Mit der vom Senat zugelassen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von Art. 4 Grundgesetz (GG) und §§ 182 Abs. 2, 368e, 368p Abs. 1 RVO. Er könne im Rahmen der kassenzahnärztlichen Versorgung nicht zur Verwendung von Amalgam gezwungen werden, weil er dies mit seinem ärztlichen Gewissen nicht vereinbaren könne. Die Verbindlichkeit der bereits 1981 aufgestellten Richtlinie sei schon deshalb zweifelhaft, weil zwischenzeitlich die Diskussion um die Schädlichkeit von Amalgam zugenommen habe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 26. Juni 1991, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. April 1990 und den Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 1989 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist begründet. Die Disziplinarmaßnahme ist rechtswidrig und war daher aufzuheben.

1.) Die beklagte KZÄV ist die richtige Beklagte, Sie hat die Entscheidung über die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen einem besonderen Ausschuß übertragen. Dieser ist selbst nicht beteiligungsfähig und wurde mangels entsprechender Anhaltspunkte nicht im eigenen Namen, sondern im Namen der KZÄV tätig. In solchen Fällen ist die Klage gegen die Körperschaft zu richten (so bereits: BSG SozR Nr. 3 zu § 368m RVO; im Ergebnis ebenso: BSG SozR 3-2500 § 81 Nr. 1; BSGE 66, 20 = SozR 1300 § 16 Nr. 1). Dem steht nicht entgegen, daß die bei der KZÄV errichteten gemischt besetzten Ausschüsse im eigenen Namen entscheiden, so daß die Anfechtungsklage gegen den Ausschuß zu richten ist (zu den Prüfungs- und Beschwerdeausschüssen im Primärkassenbereich: BSG SozR Nr. 15 zu § 70 SGG; BSG Urteil vom 30. Mai 1969 – 6 RKa 3/68 – USK 6960; zu Zulassungs- und Berufungsausschüssen: BSGE 6, 278; BSG SozR Nr. 16 zu § 70 SGG; BSG Urteil vom 19. Oktober 1971 – 6 RKa 22/68 – USK 71180; Urteil vom 29. Oktober 1986 – 6 RKa 32/86 – MedR 1987, 254; SozR 1500 § 96 Nr. 32; BSGE 66, 6 = SozR 2200 § 368a Nr. 24; zum Prothetik-Einigungsausschuß: BSG SozR 1500 § 70 Nr. 3). Denn nach § 70 Nr. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind die bei der K(Z)ÄV errichteten Einrichtungen nur beteiligungsfähig, wenn sie gemischt besetzt sind. Nur gemischt besetzte Gremien gehören zu den in § 51 Abs. 2 Satz 1 SGG genannten „gemeinsamen” Entscheidungsgremien der Ärzte (Zahnärzte) und KKn, auf die § 70 SGG verweist.

2.) Ein Vorverfahren war nicht erforderlich. Der angefochtene Beschluß vom 22. Mai 1989 ist mit seiner schriftlichen Bekanntgabe am 23. Mai 1989 als Verwaltungsakt existent geworden. Er war nach dem ab 1. Januar 1989 geltenden Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) ohne Vorverfahren mit der Klage anfechtbar (§ 81 Abs. 5 Satz 3 SGB V). Auch die vom Ausschuß angewandte Satzung der Beklagten aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des SGB V sieht in Übereinstimmung mit dem damals geltenden § 368n Abs. 6 RVO kein Vorverfahren vor (BSGE 59, 172, 173 = SozR 2200 § 368 Nr. 9). Es bedarf daher keiner Entscheidung, ob § 81 Abs. 5 Satz 3 SGB V entgegenstehendes Satzungsrecht geändert hat.

3.) Der Senat geht mit dem LSG davon aus, daß ein Verstoß gegen die vom Bundesausschuß der Zahnärzte und KKn 1981 erlassenen RL, soweit diese nicht gegen höherrangiges Recht verstoßen, auch nach dem Inkrafttreten des SGB V (am 1. Januar 1989) im angefochtenen Bescheid mit einer Disziplinarstrafe belegt werden durfte und daß der Kläger mit seinem Verhalten gegen Abschnitt B II Ziffer 4 der RL verstoßen hat. Gleichwohl erweist sich der Disziplinarbescheid als rechtswidrig, weil, worauf später einzugehen ist, die RL entgegen der Auffassung des LSG gegen höherrangiges Recht verstoßen, soweit sie die dem Kläger angelastete Behandlungsweise verbieten.

Die angefochtene Disziplinarmaßnahme wurde gegen den Kläger im Mai 1989 und damit nach dem Inkrafttreten des SGB V verhängt, weil er seit Beginn seiner Tätigkeit im Dezember 1984 bis zum Erlaß des Disziplinarbeschlusses vom 14. März 1989 im Seitenzahnbereich Kunststoffüllungen gelegt hat. Es handelt sich um ein Dauerverhalten, das teilweise in die Zeit vor und teilweise in die Zeit nach dem Inkrafttreten des SGB V am 1. Januar 1989 fällt.

Das Dauerverhalten verstieß von seinem Beginn bis zur Entscheidung des Senats gegen die RL. Der Verstoß durfte während des gesamten Zeitraums nach der Satzung der Beklagten mit einer Disziplinarstrafe belegt werden. Die hierfür maßgebenden Vorschriften der RL und der Satzung sind zwar aufgrund von Vorschriften der RVO erlassen worden, die mit dem 1. Januar 1989 außer Kraft getreten sind. Sie sind gleichwohl auch auf die Zeit nach dem 1. Januar 1989 weiter anzuwenden. Das Außerkrafttreten der gesetzlichen Grundlage hat grundsätzlich nicht zur Folge, daß auch die zuvor aufgrund der Ermächtigung erlassenen untergesetzlichen Vorschriften außer Kraft treten (BSGE 53, 133, 136 = SozR 2200 § 560 Nr. 10; BSGE 18, 65, 68 = SozR Nr. 35 zu § 165 RVO). Untergesetzliche Normen treten nur dann außer Kraft, wenn sie ihrem Inhalt nach mit einem späteren Gesetz nicht mehr in Einklang stehen (BVerwG vom 6. Oktober 1989 – 4 C 11/86 – Buchholz 406.11 § 144 BBauG Nr. 1 = NJW 1990, 849). Hiernach sind die anzuwendenden Vorschriften der Satzung und der RL nicht außer Kraft getreten, weil auch das SGB V zum Erlaß entsprechender Vorschriften ermächtigt.

Nach § 12 Abs. 1 der Satzung der Beklagten idF des 11. Nachtrages vom 21. Dezember 1984 kann die Vereinigung gegenüber ihren Mitgliedern, die gegen Richtlinien verstoßen, gemäß § 368m Abs. 4 RVO Verwarnung, Verweis, Geldbuße bis zu 20.000,– DM oder die Anordnung des Ruhens der Zulassung bis zu 6 Monaten verhängen. Nach § 81 Abs. 5 SGB V müssen die Satzungen der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen – K(Z)ÄVen – die Voraussetzungen und das Verfahren zur Verhängung von Maßnahmen gegen Mitglieder bestimmen, die ihre kassen- oder vertragsärztlichen Pflichten (ab 1. Januar 1993 nur noch „vertragsärztlichen”) nicht oder nicht ordnungsgemäß erfüllen. Als Maßnahmen können je nach der Schwere der Verfehlung vorgesehen werden: Verwarnung, Verweis, Geldbuße oder die Anordnung des Ruhens der Zulassung bis zu zwei Jahren; das Höchstmaß der Geldbußen kann bis zu 20.000,– DM betragen. Dieser gesetzlichen Vorgabe entsprach § 12 Abs. 1 der Satzung der Beklagten, insbesondere soweit diese Regelung die Verhängung disziplinarischer Maßnahmen bei Verstößen gegen die für die Mitglieder der Beklagten verbindlichen vertraglichen Bestimmungen und Richtlinien vorsah. Die Verhängung disziplinarischer Maßnahmen gegen einen Vertrags(zahn)arzt, der sich generell weigert, bei der Behandlung von Kassenpatienten die Richtlinien der Bundesausschüsse zu beachten, war und ist danach grundsätzlich zulässig.

Die anzuwendende Ziffer B II Nr. 4 der RL idF vom 16. September 1981 (BAnz 1981 Nr. 192 Seite 11) ist vom Bundesausschuß der Zahnärzte und KKn gemäß § 368p Abs. 1 RVO aF beschlossen worden. Auch diese Ermächtigung ist im Grundsatz in das SGB V übernommen worden. Schon deswegen kann die Fortgeltung der RL nicht zweifelhaft sein. Gemäß § 92 Abs. 1 SGB V beschließen die Bundesausschüsse (§ 91 SGB V) die zur Sicherung der (zahn)ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten. Nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB V sollen sie ua insbesondere für die zahnärztliche Behandlung Richtlinien beschließen. Die Bundesausschüsse sollen – ausgehend vom allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§§ 12, 70 Abs. 1, 72 Abs. 2 SGB V) – den Leistungsumfang der medizinischen Versorgung konkretisieren.

Der Kläger hat sich von Dezember 1984 bis zum Erlaß des Disziplinarbescheides generell geweigert, Amalgam als Füllungsmaterial im Seitenzahnbereich zu verwenden, Dieses nach den Feststellungen des LSG im Disziplinarbescheid zutreffend festgestellte Verhalten verstößt gegen Ziffer B II Nr. 4 RL. Nach dieser Vorschrift sollen im Rahmen der konservierenden Behandlung die üblichen und erprobten plastischen Füllungsmaterialien verwendet werden. „Bei Molaren und Prämolaren (dh im Seitenzahnbereich) ist in der Regel Amalgam als Füllungsmaterial angezeigt”. Die Richtlinien schreiben damit die Verwendung von Amalgam im Seitenzahnbereich nicht schlechthin verbindlich vor; sie ordnen aber verbindlich an, daß dieses Füllungsmaterial im Seitenzahnbereich im Regelfall zu verwenden ist und der Einsatz anderer Füllungsmaterialien nur beim Vorliegen besonderer, vom Regelfall abweichender Umstände zulässig ist (vgl. zur Verbindlichkeit von Richtlinien BSG Urteil vom 16. Juni 1993 – 14a RKa 4/92 –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Der Kläger hat demgegenüber die Verwendung anderer Füllungsmaterialien im Seitenzahnbereich gerade nicht auf Ausnahmefälle, etwa Patienten mit einer Amalgamunverträglichkeit, beschränkt, sondern generell alle Patienten mit Kunststoffüllungen versorgt.

4.) Die angeführte Bestimmung der RL ist indes unwirksam, soweit sie die Verwendung von Kunststoff im Seitenzahnbereich auch für den Fall ausschließt, daß der Versicherte nach ordnungsgemäßer Beratung Amalgam ablehnt und daß die vom Zahnarzt gelegten Kunststoffüllungen eine ausreichende Haltbarkeit aufweisen, wie dies der Kläger unter Beschreibung seiner Arbeitsweise behauptet hat. Die Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und KKn sind für die von den Gesamtverträgen erfaßten Beteiligten nur mit dem für jede gesetzesnachrangige Norm geltenden Vorbehalt verbindlich, daß sie nicht gegen zwingendes höherrangiges Recht verstoßen (BSGE 52, 70, 73 = SozR 2200 § 182 Nr. 72; BSGE 38, 35, 38 = SozR 2200 § 368p Nr. 1), Richtlinien dürfen den Anspruch des Versicherten auf eine notwendige und zweckmäßige ärztliche Behandlung in den Grenzen des Wirtschaftlichkeitsgebots nicht einschränken (BSGE 63, 163, 165 = SozR 2200 § 386p Nr. 2). Sie müssen dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und der Therapiefreiheit des Arztes, soweit sie in höherrangigem Recht gewährleistet werden, Rechnung tragen. Die hierzu vom LSG vertretene Auffassung, ein Verstoß gegen höherrangiges Recht scheide schon deswegen aus, weil der Kläger nicht verpflichtet werde, Amalgam gegen sein ärztliches Gewissen ausnahmslos zu verwenden, wird den gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Grundlagen der ärztlichen Behandlungsfreiheit (Therapiefreiheit), die hier jeweils in Verbindung mit dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten anzusprechen ist, nicht gerecht.

Das BSG hatte sich wiederholt mit der Abgrenzung des Sachleistungsprinzips in den Grenzen des Wirtschaftlichkeitsgebots zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten und zur Behandlungsfreiheit des Arztes (Therapiefreiheit) zu befassen. Es hat zur Zulässigkeit von sog Außenseitermethoden unter der Geltung der RVO entschieden: Wenn anerkannte Behandlungsmöglichkeiten fehlten oder im Einzelfall ungeeignet seien (dem Versicherten mithin innerhalb der sogenannten Schutzmedizin nicht zu helfen war), müsse der behandelnde Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst bei seinen nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffenden Therapieentscheidungen auch solche Behandlungsmaßnahmen in Erwägung ziehen, deren Wirksamkeit (noch) nicht gesichert ist, aber nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft für möglich gehalten werden muß (BSGE 63, 102, 103 = SozR 2200 § 368e Nr. 11; BSGE 64, 255, 257 = SozR 2200 § 182 Nr. 114; BSGE 70, 24, 26 = SozR 3-2500 § 12 Nr. 2; SozR 3-2500 § 13 Nr. 2; vgl. hierzu auch BSG SozR 3-2200 § 182 Nrn 13 und 15 sowie BGH Urteil vom 23. Juni 1993 – IV ZR 135/92 – NJW 1993, 2369). Das Sachleistungsprinzip vermag nach der Rechtsprechung auch im Versorgungsrecht das Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht einzuschränken, solange sich der Berechtigte für eine bestimmte vertretbare, wenn auch nicht allgemein praktizierte Behandlungsmethode entscheidet (zur Brustoperation: BSGE 65, 56 = SozR 3100 § 18 Nr. 11; vgl. auch BSG SozR 3100 § 11 Nr. 13 S 12). Zur arztbezogenen Wirtschaftlichkeitsprüfung im statistischen Vergleich wurde entschieden, daß die Therapiefreiheit unterschiedliche Behandlungsweisen in den Grenzen der normalen Streuung rechtfertige (BSG SozR 2200 § 368n Nr. 49), daß aber eine weit überhöht abgerechnete Behandlungsart vom Grundsatz der Therapiefreiheit nicht gerechtfertigt werde (BSG SozR 3-2500 § 106 Nr. 15; vgl. hierzu auch BSGE 71, 90, 92 = SozR 3-2500 § 106 Nr. 13); die Therapiefreiheit könne dadurch beeinträchtigt werden, daß sich der Prüfbescheid auf die bloße Wiedergabe einzelner Bema-Positionen beschränke, bei denen eine Überschreitung vorliege (BSGE 69, 138, 144 = SozR 3-2500 § 106 Nr. 6). Im Streit um die Verordnungsfähigkeit eines Arzneimittels wurde entschieden, die Arzneimittelrichtlinien (AMR) stünden insoweit unter dem Vorbehalt des Gesetzes, als sie den Anspruch des Versicherten nicht verkürzen und die Therapiefreiheit des Arztes (Hinweis auf § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB V) nicht unangemessen beeinträchtigen dürften (BSG Urteil vom 1. Oktober 1990 – 6 RKa 3/90 – USK 90107 = SGb 1992, 200). Näher hat sich das BSG bisher nicht mit den Fragen befaßt, in welchen Grenzen untergesetzliche Normen den Grundsatz der Therapiefreiheit einschränken dürfen und aus welchen Rechtsgrundlagen dies abzuleiten ist.

Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist durch das Persönlichkeitsrecht in Verbindung mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 1 und 2 GG) gewährleistet, die Therapiefreiheit durch die Berufs- und Wissenschaftsfreiheit (Art. 12 und 5 GG). Im Bereich der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung können Patient und (Zahn)arzt die geeignet erscheinende Therapie allerdings nicht ohne Einschränkung frei wählen. Die Funktionsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung, die als Gemeinwohlaufgabe ebenfalls verfassungsrechtlichen Rang beanspruchen kann (BVerfGE 68, 193, 218; 70, 1, 26, 30; 77, 84, 107; BVerfG SozR 3-2500 § 311 Nr. 1), setzt eine Begrenzung des Leistungsrahmens nach dem Maßstab der Wirtschaftlichkeit voraus. Zwischen Wirtschaftlichkeitsgebot und (zahn)ärztlicher Therapiefreiheit besteht zwangsläufig eine Antinomie, die Einschränkungen der Therapiefreiheit rechtfertigen kann (BSGE 63, 163, 165). Dies kann auch durch Richtlinien geschehen, soweit sie den gesetzlichen Vorgaben Rechnung tragen und sich im Rahmen der Verfassung halten.

Im Grundsatz kann die Therapiefreiheit (in Verbindung mit dem Selbstbestimmungsrecht) einen Anspruch auf eine bestimmte Behandlungsweise (in Form der Sachleistung oder der Kostenerstattung) nur nach Maßgabe der von den Bundesausschüssen der Ärzte (Zahnärzte) und KKn beschlossenen Richtlinien, hier insbesondere nach den streitigen RL, auslösen. Es besteht jedoch eine Wechselwirkung. Ähnlich wie die Meinungsfreiheit nur in den Grenzen der allgemeinen Gesetze gewährleistet ist (Art. 5 Abs. 1 GG) wobei die allgemeinen Gesetze umgekehrt den Wert der Meinungsfreiheit berücksichtigen müssen (BVerfGE 62, 230, 244; 7, 198), besteht die Therapiefreiheit nur in den Grenzen der RL, wobei diese die verfassungsrechtliche Grundlage der Therapiefreiheit und deren Ausformung in anderen höherrangigen Rechtsvorschriften angemessen berücksichtigen müssen.

Im vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere die Ausformung der Therapiefreiheit in § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB V heranzuziehen. Die Stellung dieser Vorschrift im SGB V im Ersten Kapitel – Allgemeine Vorschriften – zeigt, daß sie sowohl für den im Dritten Kapitel geregelten Leistungsanspruch des Versicherten als auch für das im Vierten Kapitel geregelte Leistungserbringungsrecht, das Grundlage der RL ist. Geltung beansprucht.

Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB V sind Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besonderen Therapierichtungen vom Leistungsangebot der Krankenversicherung nicht ausgeschlossen. Nach dem anschließenden Satz 3 haben Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen. Zu den besonderen Therapierichtungen rechnet insbesondere die Naturheilkunde. Nicht zu den besonderen Therapierichtungen gehört die Außenseitermethode, die mit dem Begriff „Exote” gekennzeichnet werden kann. Für die hier zu treffende Entscheidung genügt die Abgrenzung nach den angeführten Beispielen. Eine genauere begriffliche Definition der besonderen Therapierichtung einerseits und der Außenseitermethode andererseits ist nicht erforderlich. Schon das Beispiel der Naturheilkunde zeigt, daß Satz 3 nicht allein den Maßstab der Schulmedizin für die Beurteilung der Wirksamkeit und der Wirtschaftlichkeit gelten läßt. Bei einer Auslegung von Satz 3 allein im Sinne der Schulmedizin bliebe für die Naturheilkunde kein Anwendungsbereich. Das würde die Gewährleistung der besonderen Therapierichtungen wieder aufheben (Zuck, NJW 1991, 2933, 2935). Der maßgebende allgemeine Standard kann deshalb nur „therapie-immanent” (Zuck, aaO) ermittelt werden. Satz 3 ist deswegen im Hinblick auf Satz 2 dahin auszulegen, daß als Maßstab sowohl der Denkansatz der Schulmedizin als auch der der besonderen Therapierichtungen heranzuziehen ist. Damit kommt es im Verhältnis zu besonderen Therapierichtungen nicht darauf an, ob deren Denkansatz objektiv richtig oder falsch ist. Diese Frage soll und kann nach der Vorstellung des Gesetzgebers von den Entscheidungsinstanzen der Krankenversicherung nicht entschieden werden. Diese müssen bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit davon ausgehen, daß der Denkansatz der besonderen Therapierichtungen richtig sein kann. Im Hinblick auf die Zusammenstellung der Arzneimittelrichtlinien hat der Gesetzgeber dies ausdrücklich klargestellt. Nach § 92 Abs. 2 Satz 4 SGB V sind bei der Beurteilung von Arzneimitteln der besonderen Therapierichtungen auch Stellungnahmen von Vertretern dieser Therapierichtungen einzuholen. Behandlungsmethoden der besonderen Therapierichtungen sind von daher vom Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung dann nicht ausgeschlossen, wenn sie innerhalb der jeweiligen Therapierichtung anerkannt sind (Zuck. aaO; Estelmann/Eicher, SGb 1991, 247, 253; ähnlich: Hauck/Haines, SGB V. § 2 RdNr. 5). Damit wird der Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung nicht vom individuellen therapeutischen Ansatz des einzelnen Arztes abhängig gemacht. Eine Leistungspflicht der KK besteht vielmehr nur dann, wenn die Auffassung des Arztes unter Berücksichtigung der Grundauffassung der besonderen Therapierichtung vertretbar ist. Dies schließt eine Leistungspflicht bei nur vereinzelt vertretenen Außenseitermeinungen im Regelfall aus.

Bei der Auswahl der Therapierichtung treten an die Stelle einer hoheitlichen Entscheidung darüber, ob die Auffassung der Schulmedizin oder die der besonderen Therapierichtung „objektiv richtig” ist, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und die Therapiefreiheit des Arztes, so daß Patient und Arzt gemeinsam in eigener Verantwortung entscheiden können.

Der Heranziehung von § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB V steht nicht entgegen, daß die RL vor dessen Inkrafttreten erlassen wurden und auf ein Verhalten Anwendung finden, das überwiegend in die Zeit vor dem 1. Januar 1989 fällt. Denn die Therapiefreiheit war in dem vor dem 1. Januar 1989 geltenden Recht (RVO aF) zumindest in den nunmehr in § 2 SGB V festgelegten Grenzen geschützt. Entsprechend hat das BSG zu den Außenseitermethoden entschieden, aus dem SGB V ergäben sich im Vergleich mit den entsprechenden Vorschriften der RVO aF keine weitergehenden Leistungsverpflichtungen der gesetzlichen KKn; eher seien ihnen bei der Anwendung solcher Methoden engere Grenzen gesetzt, als sie die Rechtsprechung zur alten Rechtslage vorgesehen hatte (BSG SozR 3-2200 § 182 Nr. 13 mit Hinweis auf Schulin/Enderlein, ZSR 1990, 502 f; Biehl/Ortwein, SGb 1991, 529, 537 f; Schirmer in GK-SGB V, RdNrn 30 ff zu § 2 SGB V, Stand Februar 1991). Die Hervorhebung der „besonderen Therapierichtungen” in § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB V sollte lediglich klarstellen, daß die Ausrichtung der Gesundheitsleistungen am „allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse” (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) die Leistungen der besonderen Therapierichtungen nicht ausschließt; den besonderen Therapierichtungen sollte hingegen keine Sonderstellung eingeräumt werden. Allerdings sollte der besonderen Wirkungsweise der Mittel und Methoden der Naturheilkunde und der Vielfalt der therapeutischen Ansätze unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots und der Qualitätssicherung Rechnung getragen werden (vgl. den Ausschußbericht zum GRG/BT-Drucks 11/3480, S 49). In der Regierungsbegründung zu § 2 Abs. 1 SGB V, der den später durch den Ausschuß eingefügten Satz 2 noch nicht enthielt, heißt es hingegen, daß der „allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse” Leistungen ausschließe, die mit wissenschaftlich nicht anerkannten Methoden erbracht würden; neue Verfahren, die nicht ausreichend erprobt seien, oder Außenseitermethoden, die zwar bekannt seien, sich aber nicht bewährt hätten, lösten keine Leistungspflicht der KK aus (BT-Drucks 11/2237, S 157).

Die Ablehnung der Verwendung von Amalgam als Füllungsmaterial hat den Stellenwert einer besonderen Therapierichtung. Für diese Bewertung maßgebend ist eine Vergleichbarkeit der totalen Amalgamablehnung mit der Naturheilkunde. Sie kommt zum Ausdruck im naturheilkundlichen Ansatz der gegen Amalgam erhobenen Bedenken, im Umfang der aus dieser Sicht drohenden Gesundheitsschäden, in der Bedeutung, die die erhobenen Einwände in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung erlangt haben, und in der Oberzeugungskraft der Argumente.

Die vom Kläger gegen Amalgam im Hinblick auf die Giftigkeit des darin enthaltenen Quecksilbers erhobenen Bedenken haben in der Gedankenführung einen naturheilkundlichen Ansatz. Die Ausbildung des Klägers in Naturheilkunde weist ebenfalls auf die Bedeutung dieser Therapierichtung für seine Behandlungsweise hin.

Ein solche Beziehung zur Naturheilkunde ist zwar für die Bewertung der vollständigen Ablehnung von Amalgam als besondere Therapierichtung nicht erforderlich, da die Naturheilkunde nur ein Beispiel für den genannten Gesetzesbegriff darstellt. Sie ist gleichwohl ein Anzeichen für das Vorliegen einer besonderen Therapierichtung im Gegensatz zu den bloßen Außenseitermethoden.

Zum Umfang der durch Amalgam drohenden Gefahren wird auch von der Schulmedizin anerkannt, daß ernsthafte Gesundheitsschäden drohen, wenn das im Amalgam enthaltene Quecksilber vollständig oder in erheblichem Umfang in die Blutbahn gelangen würde. Es geht also nicht nur um Unannehmlichkeiten, sondern um schwerwiegende Folgen für die Gesundheit. Soweit die Verwendung von Amalgam als Füllungsmaterial im Seitenzahnbereich im wissenschaftlichen zahnmedizinischen Schrifttum durchweg als gesundheitlich unbedenklich angesehen wird, wird lediglich die Möglichkeit verneint, daß Quecksilber vom Organismus in schädlichen Mengen aufgenommen wird.

Zur Bedeutung, die einer vollständigen Ablehnung des Amalgam in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zukommt, ist zunächst festzustellen, daß der Bundesausschuß in Übereinstimmung mit dem Bundesgesundheitsamt und der überwiegenden Lehrauffassung Amalgam im Regelfall als geeigneten Füllstoff ansieht. Hierzu ist indes hervorzuheben, daß die vom Amalgam möglicherweise ausgehenden Gefahren auch nach der zahnmedizinischen Lehrmeinung noch nicht abschließend geklärt sind. Nur so erklärt sich die Empfehlung, Amalgam nicht bei Schwangeren und Kindern sowie bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion zu verwenden (so das Bundesgesundheitsamt, in: Amalgame in der zahnärztlichen Therapie, S 10). Die Auffassung von Vertretern der Naturheilkunde („Amalgam, Gift im Mund”, in: Der Naturarzt 12/1986, S 11 f), es verbiete sich, die Gesamtbelastung des Organismus mit Quecksilber, die schon durch Nahrung, Wasser und Luft verursacht werde, noch zusätzlich durch die Verwendung von Amalgam als Zahnfüllungsmaterial zu erhöhen, erscheint von daher nachvollziehbar. Besonderes Gewicht erhalten diese Bedenken auch dadurch, daß selbst die Bundesregierung angesichts der von Amalgam möglicherweise ausgehenden Gefahren annimmt, daß der Arzt bei der Wahl zwischen Amalgam und Kunststoff als Zahnfüllungsmaterial auch im Seitenzahnbereich in seiner Therapieentscheidung frei sei (Stellungnahme der Bundesregierung auf Anfragen der Abgeordneten Dr. Otto, BT-Drucks 12/4405, S 20). In diesem Sinne hat auch die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) Stellung genommen. Deren Stellungnahme hat das SG mit der Begründung beiseite geschoben, daß nicht die KZBV, sondern der Bundesausschuß das für die Beurteilung von Amalgam allein zuständige Organ sei. Die Frage der Zuständigkeit hat jedoch für die Beurteilung, ob die gegen Amalgam erhobenen Bedenken nach dem Gewicht der Gegenstimmen die Bedeutung einer besonderen Therapierichtung haben, keine ausschlaggebende Bedeutung. Die Feststellung des LSG, Amalgam sei eindeutig nicht giftig, besagt nur, daß dies nach Auffassung der Schulmedizin der Fall sei. Das LSG hat dies durch die Bezugnahme auf den Beitrag von Ott (Zahnärztliche Mitteilungen 1990, 1494) deutlich gemacht. Diese Feststellung steht einer Wertung der totalen Amalgamablehnung als Ausdruck einer besonderen Therapierichtung nicht entgegen. Auf die gegen diese Feststellung erhobenen Verfahrensrügen kommt es daher nicht an.

Die totale Ablehnung von Amalgam erscheint unter Berücksichtigung der Schulmedizin einerseits und der Naturheilkunde andererseits nicht abwegig. Hierzu ist auch darauf hinzuweisen, daß Amalgam aus Zahnarztpraxen mit erheblichem Aufwand als Sondermüll entsorgt werden muß. Es mag sein, daß Amalgam im normalen Hausmüll eine Gefahr, im Zahn eingelagert aber keine Gefahr darstellt. Zweifel an einer solchen Aussage können jedoch nicht als unvernünftig iS einer Außenseitermeinung bezeichnet werden.

Das Gebot, Amalgam zu verwenden, enthält das Verbot, Kunststoff zu verwenden. Der Senat hat deshalb geprüft, ob ein Verbot von Kunststoff nicht unabhängig von der Auseinandersetzung um Amalgam gerechtfertigt ist. Die RL schließen indes für den Fall, daß Amalgam im Einzelfall aus dem in den RL genannten besonderen Gründen nicht in Frage kommt, die Verwendung von Kunststoff nicht aus. Die in den RL zum Amalgam im Seitenzahnbereich getroffene Regelung ist deswegen rechtswidrig und damit unwirksam.

Aus der Unwirksamkeit der in den RL zum Amalgam im Seitenzahnbereich getroffenen Regelung folgt nicht, daß der von der Naturheilkunde ausgehende Zahnarzt bei der Wahl eines Füllungsmaterials im Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung keinerlei Bindungen unterliegt. Den allgemein geltenden Grenzen der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung unterliegen auch die besonderen Therapierichtungen (vgl. BT-Drucks 11/3480, S 49). Hierzu zählt außer dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten insbesondere das Wirtschaftlichkeitsgebot, wonach die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten ergibt sich im Rahmen der konservierenden zahnärztlichen Behandlung bei Füllungen im Seitenzahnbereich eine besondere Beratungspflicht des Zahnarztes. Angesichts der im zahnmedizinischen Schrifttum eindeutig vertretenen – und auch vom Kläger nicht bestrittenen – Auffassung, daß Amalgamfüllungen im Seitenzahnbereich wegen der überlegenen Materialeigenschaften im Durchschnitt eine erheblich höhere Haltbarkeitsdauer als Kunststoffüllungen haben, muß er den Patienten auf mögliche Folgen der Verwendung von Kunststoff hinweisen. Hierzu zählen nach Darstellungen im zahnmedizinischen Schrifttum insbesondere Kariesläsionen an den Kunststoffüllrändern, die häufigere, für den Patienten uU schmerzhafte Behandlungen zur Folge haben und womöglich wegen eines schnelleren Abbauprozesses der Zähne vorzeitig zur Notwendigkeit einer prothetischen Versorgung führen. Wegen dieser Risiken ist auch der naturheilkundlich orientierte Zahnarzt trotz seines von der Schulmedizin abweichenden Therapieansatzes verpflichtet, den Patienten darüber zu belehren, daß Amalgamfüllungen nach dem Erkenntnisstand der zahnmedizinischen Wissenschaft in der Regel nicht mit gesundheitlichen Gefahren verbunden sind. Erst wenn der Versicherte sich nach der dann von ihm vorzunehmenden Risikoabwägung für die Verwendung von Kunststoffüllungen entscheidet, darf der Zahnarzt von der Verwendung von Amalgam absehen. Andernfalls könnte er sich zudem dem Vorwurf der strafbaren Körperverletzung wegen fehlender Einwilligung ausgesetzt sehen (zur Bedeutung umfassender Aufklärung als Voraussetzung rechtfertigender Einwilligung beim Heileingriff vgl. BGHR StGB § 223 Abs. 1 Heileingriff; BGH NJW 1978, 1206).

Das an den Vertragszahnarzt gerichtete Verbot, unwirtschaftliche Leistungen zu erbringen (§§ 12 Abs. 1 Satz 2, 70 Abs. 1 Satz 2 SGB V) und seine Verpflichtung, eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten sicherzustellen, haben Auswirkungen auf den bei der Legung von Kunststoffüllungen einzuhaltenden Qualitätsstandard. Bei der Verarbeitung von Kunststoffüllungen hat der Zahnarzt besondere Sorgfalt aufzuwenden, um der Haltbarkeit von Amalgam-Füllungen zumindest nahezukommen.

Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung einen Verstoß der RL gegen die Therapiefreiheit mit der Begründung verneint, das Amalgamgebot sei dahin auszulegen, daß auch ohne medizinische Indikation allein der beharrliche Wunsch des Patienten die Verwendung von Kunststoff begründen könne, soweit dies bei entgegenwirkenden Aufklärungsbemühungen des Zahnarztes der Ausnahmefall bleibe. Von diesem Ansatz, der im Disziplinarbescheid nicht zum Ausdruck kommt, wird dem Kläger vorgeworfen, daß er seinen Patienten nicht zu Amalgam geraten habe. Der Senat braucht hierauf nicht näher einzugehen, weil dem eine unrichtige Auslegung der RL zugrunde liegt. Die Formulierung „In der Regel” läßt nur medizinisch begründbare Ausnahmen zu.

Die von der Beklagten verhängten Disziplinarmaßnahmen waren aufzuheben, weil der Verfahrensausschuß der Beklagten bei seinem Beschluß von der uneingeschränkten Geltung der hier maßgebenden Richtlinie auch für Vertreter der besonderen Therapierichtungen ausgegangen ist. Zwar steht die Auswahl und Verhängung von Disziplinarmaßnahmen grundsätzlich im Ermessen der Beklagten; ihre Entscheidungen unterliegen insoweit gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG nur einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung (BSGE 62, 127, 129). Der Disziplinarbeschluß ist jedoch immer aufzuheben, wenn der Ausschuß von unzutreffenden rechtlichen Voraussetzungen ausgegangen ist. Das Gericht hat nicht zu prüfen, ob die verhängte Disziplinarmaßnahme zulässig gewesen wäre, wenn die zutreffende Rechtslage zugrunde gelegt worden wäre. Von daher bedurfte die Frage, ob der Kläger seine Patienten bei der Verwendung von Kunststoff als Füllungsmaterial ausreichend beraten hat, keiner weiteren Sachaufklärung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 66

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