Entscheidungsstichwort (Thema)

Verbindlichkeit der Arzneimittelrichtlinien. Wirtschaftlichkeitsgebot. Erfahrungssätze

 

Leitsatz (amtlich)

Gegenüber einem Kassenarzt ist Nr 21h der Arzneimittelrichtlinien nicht in der Weise verbindlich, daß er gegen einen Regreß wegen Nichtbeachtung des in den Richtlinien bestimmten Verbots nicht einwenden könnte, seine Verordnung sei wirtschaftlich gewesen.

 

Orientierungssatz

1. Die Verbindlichkeit der Arzneimittelrichtlinien, soweit sie das Wirtschaftlichkeitsgebot konkretisieren, beruht darauf, daß sie Erfahrungssätze wiedergeben. Sie binden die Kassenärzte nicht, soweit der zugrundeliegende Erfahrungssatz nicht dem gegenwärtigen Kenntnisstand entspricht. Es ist Sache des Arztes, detailliert darzulegen, daß der den Richtlinien zugrundeliegende Erfahrungssatz nicht dem gegenwärtigen Erkenntnisstand entspricht.

2. Soweit die Richtlinien die Therapiefreiheit des Arztes einengen, sollen sie gewährleisten, daß die kassenärztliche Versorgung den Regeln der ärztlichen Kunst entspricht. Sie sollen diese Regeln konkretisieren, aber nicht verdrängen.

3. Ob ein Heilmittel nach Nr 21 Buchst h der AMRL von der kassenärztlichen Verordnung ausgeschlossen ist, kann als Gegenstand einer Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht im Widerspruch zu der in § 34 ÄBMV vorgegebenen Regelung durch Gesamtvertrag einer Kassenärztlichen Vereinigung übertragen werden.

4. Nach § 34 Abs 1 Buchst a ÄBMV ist vorgesehen, daß die der Kassenärztlichen Vereinigungen obliegende Prüfung der von den Ärzten ausgeführten Leistungen sowie der von ihnen vorgenommenen Verordnungen und ausgestellten Bescheinigungen den Zweck hat, die vom Arzt eingereichten Honoraranforderungen rechnerisch und gebührenordnungsmäßig zu prüfen und zu berichtigen. Dagegen ist die Entscheidung über die von den Krankenkassen gestellten Regreßforderungen wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise den Prüfungs- und Beschwerdeausschüssen übertragen. Auch sonstige Schäden der Krankenkasse werden von den Prüfungseinrichtungen festgesetzt.

 

Normenkette

AMRL Nr. 21 Buchst. h Fassung: 1978-06-19; BMV-Ä § 34; RVO § 368p Abs. 1 S. 1, §§ 368g, 368e; BMV-Ä § 34 Abs. 2, 1; RVO § 368n Abs. 5 Fassung: 1982-12-20

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 24.06.1987; Aktenzeichen L 1 Ka 989/85)

SG Karlsruhe (Entscheidung vom 12.12.1984; Aktenzeichen S 8 Ka 2221/82)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die vom Kläger vorgenommene Verordnung der Saftzubereitung Expectorans Solucampher unzulässig und die Beklagte deshalb zu einem Arzneimittelregreß berechtigt gewesen ist.

Der Kläger ist Arzt für Allgemeinmedizin und im Bereich der Beklagten zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen. Im Quartal II/1981 verordnete er in mehreren Fällen an Erwachsene Expectorans Solucampher zu Lasten der Allgemeinen Ortskrankenkasse B.         .

Auf Antrag des Beigeladenen zu 1) setzte die Beklagte deshalb gegen den Kläger einen Arzneimittelregreß wegen unzulässiger Verordnungsweise fest mit der Begründung, die Verordnung von Saftzubereitung an Erwachsene sei gemäß Nr 21h der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von Arzneimitteln in der kassenärztlichen Verordnung - Arzneimittelrichtlinien - verbindlich ausgeschlossen (Bescheide vom 1. April 1982 und 23. Juni 1982). Die dagegen gerichtete Klage ist abgewiesen, die zugelassene Berufung zurückgewiesen worden. Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Der Arzneimittelregreß sei formell und materiell rechtmäßig von der Beklagten festgesetzt worden. Für den Erlaß der Bescheide sei die Beklagte zuständig gewesen. Gemäß § 34 Abs 1 Buchst a des Bundesmantelvertrages-Ärzte über den allgemeinen Inhalt der Gesamtverträge - Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) - sei die Kassenärztliche Vereinigung für die gebührenordnungsgemäße Prüfung einer ärztlichen Honorarforderung zuständig. Dies schließe die Prüfung ein, ob eine geltend gemachte Leistung überhaupt abrechnungsfähig ist. Dementsprechend sei nicht zu beanstanden, daß die Beklagte und der Beigeladene zu 1) als Partner des Gesamtvertrages vom 3. August 1978 - Gesamtvertrag - in § 10 Abs 3 und 4 die Richtigstellung der Verordnungsweise der Beklagten übertragen haben, wenn ein Mittel nach den Richtlinien des Bundesausschusses nicht oder nur bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen zu Lasten der Krankenkasse verordnet werden darf. Die Beklagte habe auch zu Recht die Verordnung des Klägers berichtigt, denn diese sei wegen Verstoßes gegen die Arzneimittelrichtlinien unzulässig gewesen. Nr 21h Arzneimittelrichtlinien schließe für den Kläger verbindlich die Verordnungen von Saftzubereitungen an Erwachsene aus. Die Arzneimittelrichtlinien seien zwar keine Rechtsverordnung, ihre Verbindlichkeit erlangten sie jedoch im Wege der vertraglichen Einbeziehung in die von den Vertragspartnern gemäß § 368g Reichsversicherungsordnung (RVO) zu schließenden Verträge. Dazu gehöre auch der BMV-Ä, dessen § 28 Abs 1 regele, daß die Richtlinien von den Kassenärzten zu beachten seien. Gegen diese Regelung bestünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken, weil den Vertragspartnern des Bundesmantelvertrages im Rahmen ihrer Dispositionsfreiheit die Möglichkeit zustehe, den Richtlinien eine gegenüber den Zwangsmitgliedern verbindliche Wirkung zuzuweisen.

Die verbindliche Regelung in den Arzneimittelrichtlinien verstoße nicht gegen sonstiges höherrangiges Recht, denn diese hielten sich im Rahmen der Ermächtigung des § 368p RVO und seien auch nicht deshalb rechtswidrig, weil Nr 21h Arzneimittelrichtlinien einen generellen Verordnungsausschluß für Hustensaftpräparate vorsehe. Dem Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen sei beim Erlaß der Richtlinien ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Ausfüllung des Begriffs "Wirtschaftlichkeit" zugebilligt worden. Er habe sich im Rahmen dieser Beurteilungsermächtigung gehalten, als er für Hustensäfte wegen Unwirtschaftlichkeit die Abrechnungsfähigkeit versagt habe. Dies entspreche der Erkenntnis, daß entsprechende Trockenzubereitungen bei gleicher therapeutischer Wirksamkeit billiger als Saftzubereitung seien. Dem sei der Kläger nicht substantiiert entgegengetreten.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision macht der Kläger geltend, die Arzneimittelrichtlinien erhielten durch diesbezügliche Verweisungen in § 368p RVO, den Satzungsbestimmungen der Beklagten oder vertraglichen Regelungen wie § 28 BMV-Ä keine Verbindlichkeit gegenüber den Kassenärzten. Sie seien als eine Art Konkretisierung des Begriffs der Wirtschaftlichkeit in § 368e RVO anzuwenden. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff sei abweichend von der sozialgerichtlichen Rechtsprechung gerichtlich voll überprüfbar, denn er räume dem Bundesausschuß bei der Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs durch Richtlinien keine Beurteilungsermächtigung ein. Selbst wenn aber dem Bundesausschuß ein Beurteilungsspielraum bei der Ausfüllung des Wirtschaftlichkeitsbegriffs durch Richtlinien zustünde, so müsse wegen der damit verbundenen Begrenzung des gerichtlichen Rechtsschutzes gefordert werden, daß die betroffenen Ärzte und Hersteller vor Erlaß der Richtlinien gehört werden und der Sachverhalt besonders genau aufgeklärt werde. Beides sei vor Erlaß der Arzneimittelrichtlinien nicht geschehen, insbesondere sei die mangelnde Sachaufklärung des Bundesausschusses hinsichtlich des streitigen Verordnungsverbots für Saftzubereitungen zu rügen.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts Baden-Württemberg das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. Dezember 1984 abzuändern und den Bescheid der Abrechnungsstelle B.          der Beklagten vom 1. April 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 23. Juni 1982 insoweit aufzuheben, als im Quartal II/1981 ein Regreß auf die Verordnung von Expectorans Solucampher festgesetzt worden ist.

Die Beklagte und der Beigeladene zu 1) beantragen,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Verbindlichkeit der Arzneimittelrichtlinien ergebe sich aus § 28 Abs 1 BMV-Ä. Da es sich um eine vertragliche Einbeziehung der Arzneimittelrichtlinien handele, könnten die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen dynamische Gesetzesverweisungen nicht durchgreifen. Bedenken bestünden auch nicht deshalb, weil sich der Kassenarzt als Zwangsmitglied der Kassenärztlichen Vereinigung nicht den vertraglichen Bindungen entziehen könne. Der Kassenarzt unterwerfe sich mit der Zulassung zur kassenärztlichen Tätigkeit freiwillig der aus dem Mitgliedschaftsverhältnis erwachsenen Pflichten. Die Arzneimittelrichtlinien verstießen auch nicht gegen höherrangiges Recht. Sie seien nach ihrem primären Charakter Empfehlungen, die nicht strikt eingehalten werden müßten, und als solche von der Ermächtigung des § 368p RVO gedeckt. Bei der Ausfüllung des Begriffs der Wirtschaftlichkeit stehe dem Bundesausschuß ein gerichtlich nur begrenzt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu.

Der Beigeladene zu 1) hält die Arzneimittelrichtlinien ebenfalls für eine die Kassenärzte bindende Regelung des Bundesausschusses und hat dargelegt, die gerichtliche Überprüfbarkeit der Richtlinienregelung sei eingeschränkt, weil dem Bundesausschuß hinsichtlich der Ausfüllung des Wirtschaftlichkeitsbegriffs ein Beurteilungsspielraum einzuräumen sei.

Der Beigeladene zu 2) verweist auf die sowohl durch zulässige Verweisung auf das Satzungsrecht als auch das Vertragsrecht geregelte Verbindlichkeit der Arzneimittelrichtlinien für Kassenärzte. Sie seien eine inhaltliche Interpretation des Wirtschaftlichkeitsgebots und als solche als Hinweis für den Kassenarzt zu verstehen, das Wirtschaftlichkeitsgebot einzuhalten. Die Ausfüllung des Begriffs der Wirtschaftlichkeit durch die Richtlinien sei gerichtlich nur begrenzt überprüfbar.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig.

Für die Entscheidung über den streitigen Arzneimittelregreß ist die Beklagte formell nicht zuständig gewesen. Sie begründet ihre sachliche Zuständigkeit zur Prüfung der von dem Kläger vorgenommenen Verordnungsweise auf § 10 des zwischen ihr und dem Beigeladenen zu 1) geschlossenen Gesamtvertrages vom 3. August 1978. Danach entscheiden die Abrechnungsstellen der Beklagten über Anträge der Ortskrankenkassen auf rechnerische oder sachliche Berichtigung, die sich auf Verordnung von Mitteln beziehen, die nach den Richtlinien des Bundesausschusses nicht oder nur bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen zu Lasten der Krankenkasse verordnet werden dürfen. Diese vertragliche Regelung ist unwirksam, soweit sie die Verordnung von Saftzubereitungen (Nr 21h der Arzneimittelrichtlinien) betrifft.

Die gesamtvertraglich vereinbarte Zuständigkeitsregelung widerspricht insoweit den Vorschriften des BMV-Ä. § 34 Abs 1 Buchst a BMV-Ä sieht vor, daß die der Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) obliegende Prüfung der von den Ärzten ausgeführten Leistungen sowie der von ihnen vorgenommenen Verordnungen und ausgestellten Bescheinigungen den Zweck hat, die vom Arzt eingereichten Honorarforderungen rechnerisch und gebührenordnungsmäßig zu prüfen und zu berichtigen. Nach § 34 Abs 2 BMV-Ä erfolgt die Prüfung durch die KÄV. Dagegen ist die Entscheidung über die von den Krankenkassen gestellten Regreßforderungen wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise den Prüfungs- und Beschwerdeausschüssen übertragen (§ 368n Abs 5; § 34 Abs 2 iVm Abs 1 Buchst d BMV-Ä). Auch sonstige Schäden der Krankenkasse werden von den Prüfungseinrichtungen festgesetzt (§ 34 Abs 3 BMV-Ä). Die angefochtenen Bescheide enthalten die Entscheidung über eine Regreßforderung der Krankenkassen. Ihr liegt keine rechnerische oder gebührenordnungsmäßige Prüfung der vom Arzt eingereichten Honoraranforderungen zugrunde.

Soweit gesamtvertragliche Vereinbarungen der Bestimmung des § 34 BMV-Ä widersprechen, sind sie unwirksam. Durch den BMV-Ä hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung mit den Bundesverbänden der Krankenkassen den allgemeinen Inhalt der Gesamtverträge vereinbart (§ 368g Abs 3 RVO). Der streitige Gesamtvertrag enthält damit die Regelung des § 34 BMV-Ä und darf nichts dem Widersprechendes regeln, denn der BMV-Ä läßt keine Abweichungen von § 34 in den Gesamtverträgen zu.

Die Vereinbarung in § 10 des streitigen Gesamtvertrages ist schließlich auch nicht nach Sinn und Zweck der Zuständigkeitsregelung in § 34 BMV-Ä zulässig. Der Meinung des LSG, bei der Beanstandung der Verordnung von nicht verordnungsfähigen Medikamenten handele es sich um eine der gebührenordnungsmäßigen Prüfung gleichzusetzende sachliche Richtigstellung, ist jedenfalls im Fall von Saftzubereitungen, die ein Heilmittel sind, nicht zuzustimmen. Die Arzneimittelrichtlinien enthalten in der hier einschlägigen Nr 21h kein die Kassenärzte bindendes Verordnungsverbot, das es der Beklagten - ähnlich wie bei der gebührenordnungsmäßigen Prüfung - ermöglichen würde, stets ohne weitergehende Prüfung die Zulässigkeit der Verordnung aus den Richtlinien wie aus einer Ausschlußliste abzulesen.

Gegenüber dem Kassenarzt ist Nr 21h der Arzneimittelrichtlinien nicht in der Weise verbindlich, daß er gegen einen Regreß wegen Nichtbeachtung des in den Richtlinien bestimmten Verbots nicht einwenden könnte, seine Verordnung sei wirtschaftlich gewesen. Der Regreß wegen dieser Nichtbeachtung setzt vielmehr, zumindest wenn der Arzt - wie der Kläger - entsprechende Einwendungen erhoben hat, im Einzelfall eine Entscheidung über die Wirtschaftlichkeit der Verordnung voraus. Im Fall der Nr 21h der Arzneimittelrichtlinien in der hier maßgebenden Fassung vom 19. Juni 1978 (Beilage Nr 30/78 zum BAnz 1978 Nr 235) ist diese Entscheidung schon deshalb notwendig, weil die Arzneimittelrichtlinien bei den Saftzubereitungen selbst Ausnahmen zulassen. Als Kriterium für Ausnahmen kommt nur die Wirtschaftlichkeit der Verordnung im Einzelfall in Betracht.

Der Kläger hat zur Begründung seines Widerspruchs vorgebracht, es könne nicht der Sinn der Bestimmung der Nr 21h Arzneimittelrichtlinien sein, Saftzubereitungen zu verbieten, wenn gerade der Saft als Sirup ein wirksames Medikament sei. Damit hat der Kläger keine Ausnahme vom Verbot der Verordnung von Saftzubereitungen geltend gemacht, sondern sich gegen den generellen Ausschluß von Saftzubereitungen gewendet. Auch wegen dieses Einwands war aber jedenfalls die Zuständigkeit der Beklagten für den Regreßbescheid ausgeschlossen.

Das grundsätzliche Verbot der Verordnung von Saftzubereitungen macht zumindest bei entsprechenden Einwendungen des Arztes gegen einen darauf gestützten Regreß eine Entscheidung über die Wirtschaftlichkeit der einzelnen Verordnung erforderlich. Den Arzneimittelrichtlinien kommt keine Verbindlichkeit zu, die diese Entscheidung überflüssig machen würde.

Die Bundesausschüsse beschließen nach § 368p Abs 1 Satz 1 RVO die zur Sicherung der kassenärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Kranken, insbesondere ua über die Versorgung mit Arznei- und Heilmitteln. Verbindlichkeit entfalten die Richtlinien unmittelbar nur gegenüber der KÄV und den Verbänden der Krankenkassen, die in ihre Satzungen Bestimmungen aufnehmen müssen, nach denen die Richtlinien von ihren Mitgliedern beachtet werden sollen. Nach § 28 BMV-Ä sind die Richtlinien zu beachten. Der Senat hat in seinem Urteil vom 3. Juli 1974 - 6 RKa 22/73 - (BSGE 38, 35, 38 = SozR 2200 § 368p RVO Nr 1) aus dieser Vorschrift eine jedenfalls dem Wortlaut nach über § 368p Abs 3 RVO hinausgreifende Verbindlichkeit der Richtlinien hergeleitet. Ob diese Rechtsprechung aufrechtzuerhalten ist, muß im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. § 28 BMV-Ä begründet keine absolute und strikte Pflicht des Arztes, Verordnungsverbote in den Richtlinien wegen Unwirtschaftlichkeit einzuhalten.

Die Ermächtigung zu einer solchen Verbindlichkeit ergibt sich nicht aus § 368g Abs 1 RVO. Danach ist die kassenärztliche Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der Richtlinien gesamtvertraglich so zu regeln, daß eine wirtschaftliche Versorgung der Kranken gewährleistet ist. Die Bestimmung besagt entgegen der Meinung des Beigeladenen zu 1) nichts über eine Gleichrangigkeit von Gesetz und Arzneimittelrichtlinien.

Mit dem grundsätzlichen Verbot der Verordnung von Saftzubereitungen gemäß Nr 21h der Arzneimittelrichtlinien soll die wirtschaftliche Versorgung der Kranken gewährleistet werden. Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen ist gemäß § 368p Abs 1 zum Erlaß von Richtlinien in diesem Rahmen ermächtigt. Als Bestimmungen zur Durchführung der kassenärztlichen Versorgung konkretisieren sie das gesetzliche Wirtschaftlichkeitsgebot. Nach § 368e RVO darf der Kassenarzt keine unwirtschaftlichen Leistungen verordnen. Daraus rechtfertigt sich auch eine Einengung seiner Therapiefreiheit. Das Wirtschaftlichkeitsgebot gilt nicht nur im Leistungserbringungsrecht für die an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte. Nach den Bestimmungen der §§ 368e und 182 Abs 2 RVO begrenzt es auch den Anspruch des Versicherten auf Krankenpflege. Im Kassenarztrecht kann der Umfang der zu gewährenden Krankenpflege nicht anders sein als im Verhältnis der Versicherten zur Krankenkasse (BSGE 52, 134, 137 = SozR 2200 § 182 RVO Nr 76). Dem würde es widersprechen, wenn der Arzt eine Saftzubereitung nicht verordnen dürfte, obwohl der Versicherte darauf einen Anspruch hat. Die Arzneimittelrichtlinien sollen die Grundsätze über die Gewährung der Krankenpflege (§§ 182 Abs 2, 368e RVO) keinesfalls verdrängen (Urteil des 3. Senats des Bundessozialgerichts -BSG- vom 23. März 1988 - 3/8 RK 5/87 -). Zur Verbindlicherklärung von Richtlinien mit dem Ergebnis einer Einschränkung der Ansprüche des Versicherten wären die Vertragsparteien des Gesamtvertrages nicht ermächtigt.

Die im Verfahren erörterte Annahme eines Beurteilungsspielraums des Bundesausschusses könnte nicht die Ermächtigung begründen, eine strikte Verbindlichkeit der Richtlinien zu vereinbaren. Herleiten ließe sich dies nicht etwa daraus, daß bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung die Prüfungsinstanzen einen Beurteilungsspielraum haben. Dieser Beurteilungsspielraum steht ihnen im Rahmen der Überwachung der Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung bei der Entscheidung des Einzelfalls zu. Ihre Ermächtigung zur Entscheidung darüber, leiten die Prüfungsinstanzen aus dem Gesetz her.

Aus diesen Gründen kann das Verbot der Verordnung von Saftzubereitungen in Nr 21h der Arzneimittelrichtlinien für den Kassenarzt nicht verbindlich sein, soweit solche Zubereitungen wirtschaftlich sind. Es ist nur unter dem Vorbehalt wirksam, daß es nicht über den gesetzlichen Rahmen des Ausschlusses unwirtschaftlicher Leistungen hinausgeht. Mit diesem Ergebnis stimmt die Vorschrift des § 28 BMV-Ä insoweit überein, als die Richtlinien danach "zu beachten" sind. Die Pflicht der "Beachtung" schließt nicht aus, daß der Arzt unter Beachtung der Richtlinien im Einzelfall eine andere als die danach vorgegebene Entscheidung trifft. In Richtlinien sind auch schon nach ihrem Charakter keine strikten Gebote und Verbote zu erwarten. Die Verbindlichkeit der Arzneimittelrichtlinien, soweit sie das Wirtschaftlichkeitsgebot konkretisieren, beruht darauf, daß sie Erfahrungssätze wiedergeben. Der Bestimmung der Nr 21h der Arzneimittelrichtlinien liegt der Erfahrungssatz zugrunde, daß Saftzubereitungen nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand teurer sind als die in Zusammensetzung und Wirksamkeit vergleichbaren Präparate in fester Darreichungsform. Die Nr 21h Arzneimittelrichtlinien konkretisiert das Gebot notwendiger wirtschaftlicher Verordnungsweise dahingehend, daß Saftzubereitungen entweder in ihrer Wirksamkeit Präparaten in fester Darreichungsform nachstehen oder diesen gegenüber bei vergleichbarer Wirksamkeit unwirtschaftlich sind. Die Bestimmung der Nr 21h der Arzneimittelrichtlinien bindet aber die Kassenärzte nicht, soweit der zugrundeliegende Erfahrungssatz nicht dem gegenwärtigen Kenntnisstand entspricht (vgl dazu die Regelung in § 551 Abs 2 RVO). Im Regelfall kann allerdings der Ausschuß von den Richtlinien ausgehen, deren Beachtung dem Arzt aufgegeben ist. Es ist Sache des Arztes, detailliert darzulegen, daß der den Richtlinien zugrundeliegende Erfahrungssatz nicht dem gegenwärtigen Erkenntnisstand entspricht. Solange sich dies nicht nachweisen läßt, ist von den Richtlinien auszugehen. Dies rechtfertigt aber - zumindest wenn der Arzt Einwände gegen den Erfahrungssatz erhebt - nicht die Zuständigkeit der KÄV für die Entscheidung.

Aus diesen Gründen hat die Revision Erfolg. Der angefochtene Bescheid idF des Widerspruchsbescheides ist aufzuheben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193

 

Fundstellen

Haufe-Index 1653178

BSGE, 163

PharmaR 1989, 67

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