Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesamtbetriebsvereinbarung über Mehrarbeitsvergütung. Tarifvorrang. Wiedereinsetzung – Fristenkontrolle, Anwaltsverschulden. Prozeßrecht

 

Orientierungssatz

  • Ein Rechtsanwalt darf das Empfangsbekenntnis über eine Urteilszustellung nicht unterzeichnen und zurückgeben, ohne daß in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und vermerkt ist, daß sie im Fristenkalender notiert wurde.
  • Wird die Notierung einer Rechtsmittelfrist nur durch mündliche Anweisung des Rechtsanwalts veranlaßt, müssen in der Kanzlei ausreichende organisatorische Vorkehrungen dagegen getroffen sein, daß die Anweisung in Vergessenheit gerät und die konkrete Fristeintragung unterbleibt.
  • Werden dem Rechtsanwalt die Handakten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozeßhandlung vorgelegt, muß er spätestens bei Beginn der Sachbearbeitung eigenverantwortlich die laufenden Fristen überprüfen.
  • Zur Schlüssigkeit eines Gesuchs um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gehört es, daß der Antragsteller einen Verfahrensablauf vorträgt, der ein Verschulden seines Prozeßbevollmächtigten zweifelsfrei ausschließt.
 

Normenkette

ZPO §§ 233-234

 

Verfahrensgang

LAG Hamm (Urteil vom 27.09.2001; Aktenzeichen 8 Sa 453/01)

ArbG Dortmund (Urteil vom 25.10.2000; Aktenzeichen 9 (4) Ca 2204/00)

 

Tenor

 

Tatbestand

I. Die Parteien streiten über die Höhe einer tariflichen Sonderzahlung für das Jahr 1999. Gestützt auf die Regelungen in einer Gesamtbetriebsvereinbarung aus dem Jahre 1996 hat der Kläger die Auffassung vertreten, bei der Bestimmung des für die Berechnung maßgeblichen Monatseinkommens sei auch eine Mehrarbeitsvergütung zu berücksichtigen. Demgegenüber hat die Beklagte die Gesamtbetriebsvereinbarung wegen des Vorrangs des einschlägigen Tarifvertrags gemäß § 77 Abs. 3 BetrVG für unwirksam gehalten. Zudem habe sie die Gesamtbetriebsvereinbarung wirksam gekündigt; diese wirke auch nicht nach.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts wurde den Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 28. Dezember 2001 zugestellt. Gegen das Urteil hat der Kläger mit einem am 1. Februar 2002 – einem Freitag – beim Bundesarbeitsgericht eingegangenen Anwaltsschriftsatz Revision eingelegt und diese innerhalb des folgenden Monats begründet. Am 4. Juni 2002 erhielt der Kläger die gerichtliche Mitteilung, daß die Revision nach Ablauf der Monatsfrist eingelegt wurde. Mit Telefaxschreiben vom 17. Juni 2002 hat er beantragt, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Zur Begründung hat er unter Vorlage eidesstattlicher Versicherungen vorgebracht, die Fristversäumnis beruhe auf dem Verschulden einer bei seinem Prozeßbevollmächtigten beschäftigten, regelmäßig kontrollierten und bislang zuverlässig und beanstandungsfrei tätigen Rechtsanwalts- und Notarsgehilfin.

 

Entscheidungsgründe

II. Der gemäß §§ 234, 236 ZPO zulässige Antrag ist nicht begründet. Nach § 233 ZPO ist einer Partei ua. hinsichtlich der Einhaltung einer Notfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn sie ohne ihr Verschulden verhindert war, die Frist zu wahren. Wegen § 85 Abs. 2 ZPO steht das Verschulden ihres Prozeßbevollmächtigten dem Verschulden der Partei gleich. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers, Rechtsanwalt W…, hat es an der zur Fristwahrung erforderlichen Sorgfalt fehlen lassen.

  • Die Kanzlei, in der Rechtsanwalt W… tätig ist, unterhielt je ein Büro in B… und D…. Ging in einem der Büros Post ein, die zu einem im anderen Büro bearbeiteten Vorgang gehörte, wurde diese nach Anbringung eines Eingangsstempels dorthin weitergeleitet. War der Eingang durch Empfangsbekenntnis zu bestätigen, wurde die Post zuvor einem im Eingangsbüro tätigen Rechtsanwalt vorgelegt. Dieser unterzeichnete das Empfangsbekenntnis und veranlaßte gegebenenfalls Eintragungen im Fristenkalender. Nach Eingang der Post im Bearbeiterbüro erhielt diese dort einen zweiten Eingangsstempel. Anschließend wurde sie dem zuständigen Rechtsanwalt vorgelegt. Gegebenenfalls ließ auch dieser Fristen im Fristenkalender notieren. Die Fristberechnung fand dabei stets durch den Rechtsanwalt selbst statt. Nach Fristnotierung im Bearbeiterbüro wurde dies dem Eingangsbüro mitgeteilt. Dort wurde sodann die betreffende Frist gelöscht. Die weitere Fristüberwachung übernahm das Bearbeiterbüro. Die Überwachung fand in der Weise statt, daß alle Fristsachen im Fristenkalender mit Vor- und Hauptfrist eingetragen wurden. Die Hauptfrist wurde zudem auf der Innenseite des Handaktenbogens vermerkt. Bei Ablauf der Vorfrist wurde die Sache dem bearbeitenden Rechtsanwalt vorgelegt. Dabei wurde sie mit einem roten Zettel mit dem Hinweis “genaue Fristenkontrolle” versehen. Der Zettel enthielt unter anderem die Art der Frist und ihr genaues Ablaufdatum. Am Morgen des Fristablaufs wurde die Erledigung überprüft und die Sache gegebenfalls noch einmal mit besonderem Hinweis vorgelegt.
  • Nach dem eidesstattlich versicherten Vorbringen des Klägers hat eine im B… er Büro bisher zuverlässig und beanstandungsfrei tätige Rechtsanwalts- und Notarsgehilfin das am 28. Dezember 2001 zugestellte und von ihr mit einem Eingangsstempel versehene Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm an das Büro D… weitergeleitet, ohne es zuvor einem Rechtsanwalt zur Fristenberechnung vorgelegt zu haben. Dem anwesenden Rechtsanwalt hatte sie nur das Empfangsbekenntnis zur Unterschrift vorgelegt. Das Urteil ging im D… er Büro am 2. oder 3. Januar 2002 ein und erhielt dort einen zweiten Eingangsstempel. Die in diesem Büro mit den Fristennotierungen betraute, darüber regelmäßig belehrte und nach Maßgabe von Stichproben ebenfalls zuverlässig und beanstandungsfrei arbeitende Mitarbeiterin legte die Sache Rechtsanwalt W… vor. Nach dem Vortrag des Klägers verfügte dieser, es solle als Datum des Fristablaufs für die Revision der 28. Januar 2002 notiert werden. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen habe die betreffende Mitarbeiterin nicht dieses Datum, sondern den 4. Februar 2002 als Tag des Fristablaufs und den 28. Januar 2002 als Vorfrist notiert. Am 28. Januar 2002 wurde die Akte Rechtsanwalt W… mit dem üblichen Fristenzettel vorgelegt.
  • Aus diesem Vorbringen wird ein dreifaches Rechtsanwaltsverschulden ersichtlich.

    • Der in B… tätige Rechtsanwalt hätte das Empfangsbekenntnis nicht unterzeichnen dürfen, ohne zugleich für eine Fristennotierung zu sorgen. Da es für den Fristbeginn im Falle einer Zustellung nach § 212a ZPO aF darauf ankommt, wann der Rechtsanwalt das Empfangsbekenntnis unterzeichnet hat, bedarf es darüber eines besonderen Vermerks (BGH 16. April 1996 – VI ZR 362/95 – AP ZPO 1977 § 233 Nr. 49). Um zu gewährleisten, daß ein solcher Vermerk angefertigt wird und das maßgebliche Datum zutreffend wiedergibt, darf ein Rechtsanwalt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Empfangsbekenntnis über eine Urteilszustellung nur unterzeichnen und zurückgeben, wenn in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und vermerkt ist, daß sie im Fristenkalender notiert wurde (BGH 5. November 2002 – VI ZR 399/01 –; 26. März 1996 – VI ZB 1 + 2/96 – BGHR ZPO § 233 – Empfangsbekenntnis 2; 30. November 1994 – XII ZB 197/94 – BGHR ZPO § 233 – Empfangsbekenntnis 1 mwN). Dieses Sorgfaltsgebot hat der in B… mit der Sache befaßte Rechtsanwalt verletzt, als er am 28. Dezember 2001 das Empfangsbekenntnis unterzeichnet und zurückgegeben hat, ohne zuvor die Notierung der Revisionsfrist auch nur verfügt zu haben.
    • Es kann dahinstehen, ob sich dieses Verschulden auf die Versäumung der Frist ausgewirkt hat, weil andernfalls bei dem vorgesehenen Fristenabgleich zwischen den Büros – wenn es ihn gegeben hat – die unterschiedlichen Fristenden bemerkt worden wären. Rechtsanwalt W… hat im D… er Büro die Revisionsfrist richtig auf den 28. Januar 2002 berechnet und verfügt, diese zu notieren. Dadurch ist die Sorgfaltswidrigkeit des als erster mit der Sache befaßten Anwalts – jedenfalls zunächst – ausgeglichen worden. Hätte die dafür zuständige Rechtsanwalts- und Notarsgehilfin diese Verfügung korrekt ausgeführt, wäre die Revisionsfrist gewahrt worden.

      Die tatsächliche Nichtbeachtung der Frist hat aber erneut nicht nur die Gehilfin, sondern auch ein Rechtsanwalt zu vertreten. Der Kläger hat nicht vorgetragen, in welcher Weise Rechtsanwalt W… die Notierung der Revisionsfrist verfügte, ob schriftlich, etwa durch Anweisung in der Handakte, auf einem losen Zettel oä. oder mündlich. Diese Unklarheit geht im Rahmen des Wiedereinsetzungsgesuchs zu seinen Lasten. Zur Schlüssigkeit eines solchen Gesuchs gehört es, daß der Antragsteller einen Verfahrensablauf vorträgt, der ein Verschulden seines Prozeßbevollmächtigten zweifelsfrei ausschließt (BGH 21. Februar 1983 – VIII ZR 343/81 – VersR 1983, 401). Hatte Rechtsanwalt W… die Gehilfin lediglich mündlich angewiesen, den 28. Januar 2002 als Revisionsfrist zu notieren, so durfte er sich zwar grundsätzlich darauf verlassen, daß eine fachlich ausgebildete, zuverlässig arbeitende Anwaltsgehilfin seiner mündlich erteilten Anweisung zur Eintragung der von ihm selbst berechneten Frist nachkommen werde. Wird aber ein so wichtiger Vorgang wie die Notierung einer Rechtsmittelfrist nur durch mündliche Anweisung veranlaßt, müssen in der Kanzlei ausreichende organisatorische Vorkehrungen dagegen getroffen sein, daß die Anweisung in Vergessenheit gerät und die konkrete Fristeintragung unterbleibt (BAG 27. Oktober 1994 – 2 AZB 28/94 – BAGE 78, 184 mwN; BGH 5. November 2002 – VI ZR 399/01 –; 17. September 2002 – VI ZR 419/01 – NJW 2002, 3782). Es muß dann durch eine allgemeine Anweisung gewährleistet sein, daß die Eintragung sofort erfolgt und nicht wegen anderer Aufgaben zurückgestellt wird (BAG 27. September 1995 – 4 AZN 473/95 – AP ZPO 1977 § 233 Nr. 43 = EzA ZPO § 233 Nr. 35; 27. Oktober 1994 – 2 AZB 28/94 –; BGH 30. März 1983 – VIII ZB 11/83 – VersR 1983, 660). Im Streitfall gilt dies insbesondere deshalb, weil das Berufungsurteil mit zwei Eingangsstempeln versehen war, offenbar ohne daß diese sich äußerlich nach prozessualer Maßgeblichkeit und lediglich bürointerner Bedeutung unterschieden hätten. Damit war mit einer nur mündlich erteilten und deshalb möglicherweise nicht mehr genau erinnerlichen Weisung eine erhebliche Irritations- und Verwechslungsgefahr verbunden. Zu entsprechenden besonderen oder allgemeinen Büroanweisungen, die diesen mit der Anbringung von zwei Eingangsstempeln entstehenden Gefahren begegnen sollten, hat der Kläger nichts vorgetragen. Schon deshalb ist ein für die Fristversäumnis ursächliches (Organisations-) Verschulden seiner Prozeßbevollmächtigten nicht auszuschließen.

    • Rechtsanwalt W… trifft ein weiteres Verschulden. Ihm wurde die Handakte am 28. Januar 2002 und damit noch innerhalb der an diesem Tag ablaufenden Revisionsfrist zum Zwecke der Erstellung der Revisionsschrift vorgelegt. Auf der Akte war auf die Vorlage aus Fristgründen in der üblichen Weise ausdrücklich hingewiesen worden. Gleichwohl hat Rechtsanwalt W… , wie der Kläger ausdrücklich vorgetragen hat, die laufende Frist nicht selbst kontrolliert, weil es sich um einen “alltäglichen Vorgang” gehandelt habe. Dies ist sorgfaltswidrig. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts hat der Rechtsanwalt, dem die Handakten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozeßhandlung vorgelegt werden, eigenverantwortlich den Fristablauf zu überprüfen (BGH 16. März 2000 – VII ZR 320/99 – nv.; 20. August 1998 – VII ZB 4/98 – nv.; 14. Januar 1997 – VI ZB 24/96 – NJW 1997, 1311 mwN; 18. Dezember 1980 – III ZB 30/80 – VersR 1981, 282; BAG 20. März 1974 – 5 AZB 3/74 – AP ZPO § 519 Nr. 28 = EzA ZPO § 519 Nr. 1; 12. Dezember 1996 – 2 AZR 838/95 – nv.). Bei der Fristenkontrolle in diesem Stadium handelt es sich um die gebotene Feststellung einer gesetzlichen Voraussetzung für die Zulässigkeit der beabsichtigten Prozeßhandlung; sie gehört zum eigenen Aufgabenbereich des Rechtsanwalts. Von dieser eigenverantwortlich wahrzunehmenden Aufgabe kann sich der Anwalt selbst durch genaue Organisationsanweisungen nicht entlasten (BGH 18. Dezember 1980 – III ZB 30/80 – aaO; 20. Dezember 1984 – III ZB 28/84 – VersR 1985, 269; 12. November 1986 – IVb ZB 119/86 – VersR 1987, 485; 17. Juni 1999 – IX ZB 32/99 – NJW 1999, 2680; 23. November 2000 – IX ZB 83/00 – NJW 2001, 1578). Es kann dahinstehen, ob diese Prüfung auch bei Vorlage der Handakte wegen Ablaufs einer Vorfrist sofort zu erfolgen hat. Die Vorfrist hat den Sinn, einem Rechtsanwalt bis zum Ablauf der Hauptfrist einen gewissen zeitlichen Spielraum jedenfalls für die eigentliche Sachbearbeitung zu sichern (vgl. BGH 9. März 1999 – VI ZB 3/99 – NJW 1999, 2048; 12. August 1997 – VI ZB 13/97 – NJW 1997, 3243). Nach dem Vorbringen des Klägers kann aber nicht ausgeschlossen werden, daß Rechtsanwalt Wende die Sachbearbeitung noch am 28. Januar 2002 aufnahm, ohne dabei die laufende Frist erneut zu kontrollieren. Hätte er dies getan, hätte er entweder die Abweichung des Fristendes von seiner vorhergehenden Verfügung festgestellt, wenn diese schriftlich erfolgt und in der Handakte vermerkt war, oder er hätte die Frist mangels schriftlichen Vermerks neu berechnet und auf diese Weise ihren bevorstehenden Ablauf festgestellt.

      Wenn Rechtsanwalt W… dagegen die Sachbearbeitung erst nach dem 28. Januar 2002 aufgenommen haben sollte und wenn es auch nicht erforderlich war, jedenfalls die Fristen schon bei Vorlage der Handakte zu prüfen, so wäre der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bereits unzulässig. Rechtsanwalt W… hätte dann bei der gebotenen Fristenkontrolle auffallen müssen, daß die Hauptfrist bereits verstrichen war, und er hätte gemäß § 234 ZPO binnen zwei Wochen Wiedereinsetzung beantragen müssen.

 

Unterschriften

Wissmann, Linsenmaier, Kreft

 

Fundstellen

Haufe-Index 893423

NJW 2003, 1269

JR 2005, 44

NZA 2003, 397

EzA

KammerForum 2003, 278

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