Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung. Organisationsverschulden des Anwalts

 

Leitsatz (amtlich)

  • Die mündliche Anweisung eines Rechtsanwalts an seine Gehilfin zur Eintragung einer von ihm berechneten Rechtsmittelbegründungsfrist genügt nur dann den an ihn zu stellenden Sorgfaltsanforderungen, wenn durch organisatorische Vorkehrungen gewährleistet ist, daß die Anweisung alsbald ausgeführt wird und nicht in Vergessenheit gerät. Nicht ausreichend ist, daß die Anwaltsgehilfin die Frist auf einem losen Zettel notiert, wenn die sofortige Eintragung der Frist nicht sichergestellt ist.
  • Der Rechtsanwalt muß ferner dafür Sorge tragen, daß die mit der Fristüberwachung betraute Anwaltsgehilfin eine Sache jedenfalls dann vorlegt, wenn die Frist objektiv oder nach Ansicht der Anwaltsgehilfin von Gerichtsferien beeinflußt sein könnte.
 

Normenkette

ZPO §§ 233, 236, 85, 519b; ArbGG § 66

 

Verfahrensgang

LAG Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 30.08.1994; Aktenzeichen 6 Sa 669/94)

ArbG Mainz (Urteil vom 05.04.1994; Aktenzeichen 8 Ca 1998/93)

 

Tenor

Die sofortige Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluß des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. August 1994 – 6 Sa 669/94 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

 

Tatbestand

I. Die Parteien streiten darum, ob das Arbeitsverhältnis durch eine außerordentliche Kündigung der Beklagten fristlos oder nur unter Einhaltung der vertraglich vereinbarten Kündigungsfrist von einem Monat zum Monatsende aufgelöst worden ist. Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegben. Ihre am 27. Juni 1994 beim Landesarbeitsgericht eingelegte Berufung hat die Beklagte am 15. August 1994 begründet und zugleich Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Begründungsfrist beantragt. Sie hat vorgetragen und glaubhaft gemacht, ihr Prozeßbevollmächtigter habe die geschulte, zuverlässige und regelmäßig auf sorgfältige und fehlerlose Führung des Fristenkalenders kontrollierte Rechtsanwaltsgehilfin S… angewiesen, die Berufungsbegründungsfrist für den 27. Juli 1994 zu notieren und wie üblich eine Vorfrist von einer Woche einzutragen. Aufgrund besonderer Arbeitsbelastung habe diese die Frist nicht sofort notiert und später bei der Eintragung in den Fristenkalender außer Acht gelassen, daß es sich um eine Arbeitssache handele, für die Gerichtsferien ohne Bedeutung seien. Erst durch ein am 1. August 1994 eingegangenes Schreiben des Landesarbeitsgerichts sei der Prozeßbevollmächtigte darauf hingewiesen worden, daß die Berufungsbegründungsfrist versäumt sei.

Das Landesarbeitsgericht hat unter Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrags die Berufung mit Beschluß vom 30. August 1994 als unzulässig verworfen und die sofortige Beschwerde zum Bundesarbeitsgericht zugelassen. Der Beschluß ist der Beklagten am 2. September 1994 zugestellt worden.

Mit ihrer am 15. September 1994 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen sofortigen Beschwerde hat die Beklagte zusätzlich vorgetragen und durch ein Zeugnis und eine eidesstattliche Versicherung der Anwaltsgehilfin S… glaubhaft zu machen gesucht, die Rechtsanwaltsgehilfin habe in Gegenwart des Prozeßbevollmächtigten die ihr genannte Frist notiert, die Notiz sei allerdings verlorengegangen, was im vorliegenden Fall erstmals geschehen sei; im übrigen sei die Rechtsanwaltsgehilfin so zuverlässig und geschult gewesen, daß sie auch Notfristen eigenständig errechnete; der Prozeßbevollmächtigte habe sie in der Vergangenheit regelmäßig durch zunächst wöchentliche, später monatliche Überprüfungen des Fristenkalenders auf ordnungsgemäße eigenständige Errechnung der Fristen und sorgfältige, fehlerlose Führung des Fristenkalenders überwacht.

Die Beklagte beantragt:

  • Der Beschluß des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. August 1994 wird aufgehoben.
  • Der Beklagten und Berufungsklägerin wird gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Die Klägerin beantragt, die sofortige Beschwerde zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die zulässige sofortige Beschwerde ist in der Sache unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zu Recht angenommen, nach dem Sachvortrag der Beklagten könne ein ihr gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden ihres Prozeßbevollmächtigten an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nicht ausgeschlossen werden (§ 233 ZPO).

Es kann dahinstehen, ob das ergänzende Vorbringen der Beklagten in der Beschwerde trotz § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO uneingeschränkt zu berücksichtigen ist (vgl. hierzu BGH Urteil vom 24. Juni 1985 – II ZR 69/85 – VersR 1985, 1140, 1141, m.w.N.; andererseits BGH Beschluß vom 7. Dezember 1993 – XI ZR 207/93 – VersR 1994, 956 und Beschluß vom 7. Oktober 1992 – VIII ZB 25/92 – VersR 1993, 719). Auch wenn dies der Fall wäre, ließe sich vorliegend nicht ausschließen, daß die Fristversäumung auf einem Organisationsverschulden des Prozeßbevollmächtigten der Beklagten beruht.

Der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten durfte sich zwar grundsätzlich darauf verlassen, daß eine fachlich ausgebildete, zuverlässig arbeitende und überwachte Anwaltsgehilfin einer mündlich erteilten Anweisung zur Eintragung der von ihm selbst zutreffend errechneten Frist in den Fristenkalender nachkommen werde (vgl. BGH Beschluß vom 23. Februar 1994 – XII ZB 174/93 – EzFormR aktuell 1994, 183; Beschluß vom 10. Oktober 1991 – VII ZB 4/91 – NJW 1992, 574; Urteil vom 6. Oktober 1987 – VI ZR 43/87 – VersR 1988, 185, m.w.N.; Beschluß vom 30. März 1983 – VIII ZB 11/83 – VersR 1983, 660; anders wohl BGH Beschluß vom 7. Juli 1971 – VIII ZB 20/71 – VersR 1971, 961). Wird allerdings eine so wichtige Sache wie die Notierung einer Berufungsbegründungsfrist nur durch mündliche Anweisung veranlaßt, so müssen in der Rechtsanwaltskanzlei ausreichende organisatorische Vorkehrungen dagegen getroffen worden sein, daß die Anweisung in Vergessenheit gerät und die korrekte Fristeintragung unterbleibt (vgl. BGH Beschluß vom 11. Juni 1992 – VII ZB 1/92 – SGb 1993, 515; Beschluß vom 10. Oktober 1991, aaO). Es muß dann regelmäßig gewährleistet sein, daß die Fristeintragung sofort erfolgt und nicht wegen anderer Aufgaben zurückgestellt wird (vgl. BGH Beschluß vom 30. März 1983, aaO). Ist die mündlich angewiesene Anwaltsgehilfin auch noch mit anderen Angelegenheiten befaßt, in sonstiger Weise abgelenkt oder – wie im vorliegenden Fall – arbeitsmäßig und aus persönlichen Gründen besonders belastet, genügt eine mündliche Anweisung zur Eintragung der Frist in der Regel nicht, denn dann trifft den Rechtsanwalt hinsichtlich der Fristwahrung eine erhöhte Sorgfaltspflicht (vgl. BGH Urteil vom 6. Oktober 1987, aaO; Beschluß vom 23. April 1980 – VIII ZB 3/80 – VersR 1980, 746). Unter solchen Umständen beruht die Fristversäumung auf einem Organisationsverschulden des Anwalts, wenn die einzutragende Frist – wie hier – lediglich auf einem losen Zettel oder auf dem Stenoblock festgehalten wird, ohne daß zugleich durch eine allgemeine Anweisung oder sonstige Vorkehrungen gewährleistet ist, daß die Fristeintragung sofort vor anderen Arbeiten erfolgt (vgl. BGH Beschluß vom 10. Oktober 1991, aaO; Beschluß vom 23. April 1980, aaO; Beschluß vom 13. Juli 1978 – VII ZB 16/78 – VersR 1978, 1116). Daß ihr Prozeßbevollmächtigter entsprechende organisatorische Vorkehrungen getroffen hätte, hat die Beklagte nicht vorgetragen.

Insoweit reicht es auch nicht aus, daß im vorliegenden Fall die Anwaltsgehilfin mit der eigenständigen Errechnung von Fristen vertraut war. Es ist schon zweifelhaft, ob die Berechnung von Rechtsmittel- und Rechtsmittelbegründungsfristen überhaupt einer Anwaltsgehilfin überlassen werden darf (verneinend BSG Urteil vom 29. Januar 1991 – 4 RA 46/90 – SozSich 1992 RsprNr. 4404, m.w.N.). Jedenfalls dann, wenn objektiv oder nach Ansicht der Anwaltsgehilfin der Einfluß von Gerichtsferien in Betracht kommt, darf der Rechtsanwalt die Fristberechnung nicht seinem Personal überlassen, sondern muß sie selbst vornehmen (ständige Rechtsprechung, vgl. BGH Beschluß vom 5. März 1991 – XI ZB 1/91 – NJW 1991, 2082, m.w.N.). Mindestens muß er selbst entscheiden, ob eine Feriensache vorliegt (vgl. BGH Beschluß vom 12. März 1986 – IVb ZB 101/85 – VersR 1986, 786). Die Anwaltsgehilfin ging nach dem Vorbringen der Beklagten davon aus, der Fristablauf werde durch die Gerichtsferien beeinflußt. In diesem Fall durfte sie die Fristberechnung nicht selbst vornehmen, sondern hatte die Richtigkeit der Berechnung durch einen der Prozeßbevollmächtigten der Beklagten überprüfen zu lassen. Dafür hätten in der Kanzlei z. B. durch allgemeine Anweisung organisatorische Vorkehrungen getroffen sein müssen. Daß dies der Fall gewesen wäre, hat die Beklagte ebenfalls nicht vorgetragen.

Das Landesarbeitsgericht hat demnach die Berufung zu Recht als unzulässig verworfen (§§ 66 ArbGG, 519b ZPO).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Unterschriften

Etzel, Bitter, Fischermeier

 

Fundstellen

Haufe-Index 856747

BAGE, 184

BB 1995, 50

NZA 1995, 494

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