Berlin: Großsiedlungen auf dem Weg zu Pariser Banlieues?

Ein Viertel der Berliner wohnt in Großsiedlungen. Lange waren die Quartiere gut durchmischt, geprägt von Haushalten mit kleinen und mittleren Einkommen – doch das Sozialgefüge wackelt, wie eine Studie zeigt. Armut und Arbeitslosigkeit nehmen zu. Was bedeutet das für Städtebau und Wohnungspolitik?

Marzahn, Hellersdorf, Gropiusstadt – in vielen Berliner Großsiedlungen drohen ernste Gefahren für den sozialen Frieden, sollte die Politik nicht gegensteuern. Das ist das Fazit einer Studie des Kompetenzzentrums Großsiedlungen. Dessen Vorstandschef Bernd Hunger, Mitautor der Studie "Berliner Großsiedlungen am Scheideweg", sagt: "Inzwischen sind die Veränderungen in der Bewohnerstruktur so gravierend, dass sie zur Überforderung der Nachbarschaften führen können."

Großsiedlungen: Andere Berliner Quartiere werden entlastet

Laut der Studie hat sich die soziale Situation in den Großsiedlungen mit der wachsenden Anspannung auf dem Berliner Wohnungsmarkt in den vergangenen zehn Jahren verschärft. Bisher hat es demnach ein Gleichgewicht zwischen städtebaulicher Planung, intensiver Betreuung und Belegungspolitik gegeben. Einen erheblichen Anteil daran haben auch die landeseigenen Wohnungsunternehmen mit ihren großen Beständen in den Wohnstädten.

Knapp ein Viertel (22,4 Prozent) der Berliner Bevölkerung lebt derzeit in den 51 Wohnsiedlungen, die für die Studie betrachtet wurden. Dabei zeigt sich, dass der Anteil von Haushalten mit Transferbezug nach dem SGB II beziehungsweise SGB XII deutlich gestiegen und auch die Jugendarbeitslosigkeit stärker ausgeprägt ist. In den Westberliner Großsiedlungen gilt das auch für die Altersarmut. Mittlerweile leben in den Großsiedlungen rund ein Drittel (34,2 Prozent) der Berliner, die Grundsicherung oder Sozialhilfe erhalten. Der Anteil der Transferleistungsempfänger ist in den Siedlungen mit 19 Prozent knapp doppelt so hoch wie außerhalb der Großsiedlungskulisse (10,6 Prozent) – berlinweit sind es 12,5 Prozent.

Die Großsiedlungen schultern laut Studienautor Hunger soziale Leistungen für den Rest der Stadt und entlasten damit andere Quartiere: "Sie brauchen mehr Aufmerksamkeit anstelle der zuweilen immer noch anzutreffenden Stigmatisierung in der öffentlichen Meinung."

Belegungspolitik: Mehr Spielräume bei der Wohnungsvergabe

Als eine Ursache für die Entwicklung und gleichzeitig als Hebel, um die Dinge zum Besseren zu wenden, identifiziert die Studie die Belegungspolitik in den Quartieren. Soweit sie in kommunaler Hand sind, müssen dort 63 Prozent der Bestandswohnungen und in ähnlichem Umfang auch neu gebaute Wohnungen an Menschen mit einem Wohnungsberechtigungsschein (WBS) vermietet werden. Früher, so die Studienautoren, war darunter ein erheblicher Anteil von berufstätigen Haushalten mit geringem bis mittlerem Einkommen.

Inzwischen nehme der Anteil von WBS-Haushalten, die von Transferleistungen wie Hartz IV leben, immer mehr zu. Das führt der Studie zufolge dazu, dass Berufstätige benachteiligt sind, die mit einem relativ geringen Einkommen die Grenze der Förderberechtigung knapp überschreiten. In Folge werden auch zunehmend Bestände mit sozial gemischten Nachbarschaften belastet, so die Forschenden vom Kompetenzzentrum Großsiedlungen.

Die Studie empfiehlt unter anderem, mehr Spielräume bei der Wohnungsvergabe je nach Lage vor Ort zu gewähren und den Kreis der WBS-Berechtigten auszuweiten, um dafür zu sorgen, dass die Viertel wieder "besser durchmischt" werden. Bei den landeseigenen Wohnungsunternehmen etwa sei Anteil der Berechtigten niedriger als die 60 Prozent, die zur Erfüllung der vorgegebenen Quote erforderlich wären. "Ihre Chance, eine Wohnung zu bekommen, ist damit höher als die von Wohnungssuchenden ohne WBS", heißt es in der Studie.

Städtebau: Neue Entwicklungskonzepte Großsiedlungen

Die Dynamik der Zuwanderung in die Berliner Großsiedlungen seit 2015 hat der Studie zufolge die Integrationserfordernisse noch weiter verstärkt. "Die Schnelligkeit der Veränderung in den sozialen Strukturen birgt Konfliktpotenzial und weist darauf hin, dass nicht nur benachteiligte Quartiere weiterhin Unterstützung brauchen, sondern auch die Nachbarschaften in stabilen Siedlungen mit präventiven Maßnahmen gestützt werden müssen", schreiben die Autoren.

Hinzu kommen neue Herausforderungen: In den großen Wohnsiedlungen wird beengter gewohnt als in anderen Quartieren. Erforderlich sind der Studie zufolge neue Konzepte für die Quartiersentwicklung, die unter anderem Funktionen beachten, die über das bloße Wohnen hinausgehen und die Belastbarkeit der vorhandenen Nachbarschaften beachten. Gefragt sei jetzt außerdem eine Baupolitik, die den Bestand weiterentwickelt, vielfältigen Wohnungsbau fördert und die dazugehörende Infrastruktur bereitstellt, so ein Fazit.

Das Berliner Kompetenzzentrum Großsiedlungen hat 120 Mitglieder, darunter auch kommunale und private Wohnungsunternehmen, Wohnungsgenossenschaften, Verbände der Wohnungswirtschaft und Vertreter aus der Kommunalpolitik und -verwaltung. Die Studie beschreibt nicht nur die Herausforderungen, denen sich alle involvierten Akteure bei der Entwicklung der Großsiedlungen stellen müssen, sondern leitet auch konkrete Handlungsempfehlungen ab.

Studie "Berliner Großsiedlungen am Scheideweg?"


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Schlagworte zum Thema:  Wohnungsmarkt, Stadtentwicklung, Berlin