Entscheidungsstichwort (Thema)

Korrektur der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 3 EStG als Ermessensentscheidung der Familienkasse. Ermessensausübung im Rahmen des § 70 Abs. 3 EStG

 

Leitsatz (redaktionell)

1. § 70 Abs. 3 EStG, wonach materielle Fehler der letzten Festsetzung von Kindergeld durch Neufestsetzung oder durch Aufhebung der Festsetzung beseitigt werden können, ist entsprechend seinem Wortlaut „kann”) als Ermessensvorschrift ausgestaltet (Anschluss an Urteil des FG Sachsen-Anhalt v. 4.8.2009, 4 K 691/05; gegen Urteile des FG München v. 25.9.2012, 12 K 466/10, sowie des FG Nürnberg v. 20.11.2011, 3 K 1533/13, wonach die Korrektur nach § 70 Abs. 3 EStG eine gebundene Entscheidung sein soll). Mit dieser Gestaltung wollte der Gesetzgeber in bestimmtem Umfang die zuvor nach § 48 SGB X zu berücksichtigenden Vertrauensgesichtspunkte auch für die Änderung von Kindergeldbescheiden nach der Neuregelung des Kindergeldrechts zur Anwendung bringen.

2. Die Familienkasse hat bei ihrer Entscheidung über die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 3 EStG eine Abwägung darüber vorzunehmen, ob ihrer neuen Beurteilung der unveränderten, bereits bekannten Sachlage höheres Gewicht zukommt als dem Vertrauen der Kindergeldanspruchsberechtigten in die Bestandskraft der Kindergeldfestsetzung. Ist diese Abwägung unterblieben, liegt ein Ermessensfehler vor (so genannter Ermessensausfall), der bereits für sich genommen zur Aufhebung des Aufhebungsbescheids führt.

 

Normenkette

EStG § 70 Abs. 3; AO § 5; FGO § 102; SGB X § 48

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 21.02.2018; Aktenzeichen III R 14/17)

 

Tenor

1. Die Aufhebungsbescheide vom 28. Januar 2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26. Juni 2014 werden aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3. Die Kosten werden gegeneinander aufgehoben, wobei die Beigeladene keine Kosten trägt.

 

Tatbestand

Streitig ist die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung sowie einer Abzweigung.

Die Beklagte bewilligte der Beigeladenen unter dem 9. Juli 2013 Kindergeld für ihren 25-jährigen Sohn X. als behindertes Kind. Mit der Kindergeldbewilligung verfügte die Beklagte, das Kindergeld werde mit Wirkung ab Januar 2013 an den Kläger abgezweigt. In einem ärztlichen Zeugnis, das am 22. Dezember 2012, ca. drei Monate nach Eintritt seines 25. Lebensjahres erstellt worden war, war X. eine psychische Erkrankung, begleitet von einem Drogenmissbrauch attestiert worden. Bei Chronifizierung der psychotischen Störung durch weiteren Substanzkonsum – so das ärztliche Attest – könne eine seelische Behinderung eintreten. Unter der Rubrik „vorrangige Behinderung” war ein Kreuz bei „seelische Behinderung” gesetzt. Das Attest diente zur Entscheidung über eine vollstationäre Unterbringung des Kindes, die sodann erfolgte.

Am 28. Januar 2014, ca. ein halbes Jahr nach der Entscheidung über die Festsetzung und Abzweigung des Kindergeldes, erließ die Beklagte einen Bescheid über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung mit Wirkung ab Februar 2014. Zur Begründung führte sie aus, die Behinderung sei nicht vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten. Die Sachlage und die Erkenntnisse der Beklagten hatten sich nicht verändert. Daher stützte die Beklagte die Änderung auf § 70 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Zugleich verfügte sie die Aufhebung der Abzweigung. Der Einspruch des Klägers blieb ohne Erfolg. In ihrer Einspruchsentscheidung führte die Beklagte aus, ein Ermessensspielraum stehe ihr im Rahmen des § 70 Abs. 3 EStG nicht zu.

Der Kläger trägt vor, das Kind X. sei seit dem 9. Januar 2013 auf Kosten des Klägers in einer Wohnstätte für Menschen mit einer seelischen Behinderung untergebracht. Das Kind sei behindert, es leide an einer psychotischen Störung und einem Abhängigkeitssyndrom. Der Grad der Behinderung betrage 50. Gerichtliche Betreuung sei seit November 2011 angeordnet. Das Kind verfüge über keine eigenen Einkünfte. Ergänzend hat der Kläger ein psychiatrisches Fachgutachten vom 8. November 2011 übergeben, in dem dem Kind eine psychische Erkrankung attestiert wird.

Der Kläger beantragt wörtlich,

„die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 28.01.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26.08.2014 verurteilt, Kindergeld für X. in gesetzlicher Höhe über den 31.12.2013 hinaus zu gewähren und an den Kläger auszuzahlen, solange dieser Sozialhilfeleistungen mindestens in Höhe des gesetzlichen Kindergeldes an X. erbringt.”

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Von einer Behinderung sei in dem ärztlichen Attest vom 22. Dezember 2012 nicht die Rede. Es werde lediglich von einer psychotischen Erkrankung gesprochen, die durch Chronifizierung zu einer seelischen Behinderung führen könne. Zum Schweregrad der psychotischen Störung enthalte das Gutachten keine Aussage. Erstmals am 21. Dezember 2012 sei eine Schwerbehinderung des Kindes festgestellt worden.

Das Gericht hat die Kindergeldberechtigte mit Beschluss vom 4. Mai 2016 zum Verfahren beigeladen. Alle Beteiligten haben sich mit einer ...

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