Beteiligte

1. 2. 3. 4. Kläger und Revisionskläger

Beklagter und Revisionskläger

 

Tatbestand

I.

Die Kläger wenden sich gegen den Entzug der ihnen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) gewährten Hinterbliebenenversorgung.

Der Ehemann und Vater bzw. Stiefvater der Kläger, W. K., ist an einer bei einer Schlägerei erlittenen Stichverletzung verstorben. Am Abend des 21. April 1979 hatte W. K. eine Zechtour durch verschiedene Gaststätten begonnen, die er am folgenden Tag mit seinem Freund Sch. fortsetzte. Nachdem die beiden an diesem zweiten Abend die Ehefrau des W. K. von zu Hause abgeholt hatten, fuhren sie zu dritt im Pkw des W. K. zur Gaststätte "Jägerstüble" in Ö.

Während sich W. K. und Sch. in die Gaststätte begaben, blieb die Klägerin zu 1 im Wagen sitzen. Kurz darauf verließ der Jugoslawe H. K. das Lokal, knickte am Fahrzeug des W. K. die Antenne ab und suchte, als er von der Klägerin zu 1 zur Rede gestellt wurde, das Weite. Nachdem Sch., W. K. und seine Ehefrau vom Wirt des "Jägerstüble" Namen und Anschrift des H. K. erfahren hatten, begaben sie sich zu dem angegebenen Haus und klingelten den Verfolgten unter Rufen und Schreien heraus. Die Blutalkoholkonzentration (BAK) des H. K. betrug zu diesem Zeitpunkt höchstens 2,5 o/oo, die von W. K. und Sch. zwischen 1,7 und 2,0 o/oo. Auf die abgeknickte Antenne angesprochen, bestritt H. K. die Tat, weigerte sich, den entstandenen Schaden zu bezahlen, und wollte auch nicht mit zur Polizei gehen. Daraufhin begannen W. K. und Sch. sofort massiv auf ihn einzuschlagen. Nach einigen, nichts fruchtenden Abwehr- und Ausweichversuchen ging H. K. schließlich zu Boden. Das veranlaßte die anderen beiden, mehrfach äußerst kräftig auf ihn einzutreten. Als es ihm danach gelang, vom Boden wieder hoch zu kommen, führte er in der rechten Hand einen spitzen Gegenstand, den er beim Verlassen der Wohnung in seine Jackentasche gesteckt hatte. Mit diesem wehrte er sich nun gegen die ihn immer weiter Angreifenden. Sch. ließ erst von ihm ab, nachdem er bereits neun Stichverletzungen erlitten hatte. W. K., obwohl ebenfalls mehrfach getroffen, setzte dagegen seine Angriffe fort und trieb den Jugoslawen immer mehr in die Enge. Bei einem dieser Angriffe erlitt W. K. einen tödlichen Stich in die linke Brustseite, schleppte sich noch etwa 20 m fort und brach zusammen. Dort versetzte ihm H. K., der ihm im Abstand von wenigen Metern gefolgt war, einen weiteren Stich, der aber nur ein bis zwei Zentimeter tief ging und wie die anderen Stiche - mit Ausnahme des Stiches in die Brust - ungefährlich war. W. K. verstarb noch auf der Straße.

Auf Antrag der Klägerin zu 1 gewährte das Versorgungsamt Stuttgart - nach Beiziehung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten - ihr und den Klägern zu 2 bis 4 mit getrennten Bescheiden vom 5., 6., 7. und 8. November 1979 Hinterbliebenenrenten nach dem OEG. Als vom Einkommen abhängige Bezüge kamen später für die Klägerin zu 1 noch Ausgleichsrente und Schadensausgleich, für die Kläger zu 2 bis 4 Ausgleichsrenten hinzu.

H. K. wurde wegen vollendeten und versuchten Totschlags angeklagt. Er wurde auf Grund der Annahme einer Notwehrsituation, die die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift ausdrücklich verneint hatte, durch Urteil des Landgerichts (LG) H. vom 6. April 1981 lediglich hinsichtlich des letzten, nicht tödlichen, durch Notwehr nicht mehr gerechtfertigten Stiches wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Die Revisionen der Kläger zu 1 und 4, die im Strafprozeß als Nebenkläger aufgetreten waren, wurden vom Bundesgerichtshof (BGH) verworfen.

Unter Berufung auf den Ausgang des Strafverfahrens nahm der Beklagte mit gesonderten Bescheiden vom 3., 4., 5. und 6. August 1981 nach § 45 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) die Bewilligungsakte zurück, forderte die bereits für August 1981 erbrachten Leistungen zurück und verneinte für die Zukunft jegliche weiteren Ansprüche auf Versorgungsbezüge nach dem OEG. Da H. K. den W. K. in Notwehr getötet habe, seien die den Versorgungsbezügen der Kläger zugrundeliegenden Bescheide rechtswidrig und müßten zurückgenommen werden.

Die Widersprüche der Kläger blieben ohne Erfolg (Bescheide vom 21., 22., 23. und 26. Oktober 1981), ebenso die Klagen vor dem Sozialgericht - SG - (Urteil vom 28. April 1983). Auf die Berufung der Kläger hat das Landessozialgericht (LSG) die Rücknahmebescheide insoweit aufgehoben, als sie die Entziehung der Grundrenten betrafen; hinsichtlich der vom Einkommen abhängigen Bezüge hat es die Klageabweisung bestätigt (Urteil vom 12. April 1984). Das Gericht hat den vom LG festgestellten Sachverhalt als erwiesen angesehen. Bezüglich der Rechtsfrage, ob H. K. in Notwehr gehandelt habe, hat es sich nicht an die Beurteilung der Schwurgerichtskammer gebunden gefühlt. Einige gewichtige Argumente sprächen gegen die Annahme einer Notwehrsituation für H. K. Die Entscheidung darüber könne aber dahinstehen, da die den Vesorgungsbezügen der Kläger zugrundeliegenden Bescheide bereits deswegen rechtswidrig seien, weil W. K. seinen Tod i.S. des § 2 Abs. 1 OEG selbst verursacht habe. Gleichwohl könnten die Verwaltungsakte, durch die Grundrenten bewilligt worden seien, nicht zurückgenommen werden; denn dem stehe das schutzwürdige Vertrauen der Kläger auf den Bestand dieser Bescheide entgegen. Dies beruhe einerseits auf der Dauer des Rentenbezugs, andererseits aber auch darauf, daß allein der Beklagte das Zustandekommen der rechtswidrigen Bescheide zu vertreten habe. Andererseits überwiege das öffentliche Interesse an der Rücknahme der Bescheide über einkommensabhängige Leistungen. Diese seien erst später bewilligt worden, und die Klägerin zu 1 habe nicht erkennbar im Vertrauen darauf Vermögensdispositionen getroffen. schließlich bedeute die Entziehung der Ausgleichsrenten und des Schadensausgleiches keine besondere Härte. Ein ausreichender und angemessener Lebensstandard der Kläger werde durch die verbleibenden Grundrenten und auch durch ihre Renten aus der Rentenversicherung sichergestellt.

Gegen dieses Urteil haben alle Beteiligten die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt.

Der Beklagte vertritt die Ansicht, er habe alle Bescheide, auch wenn deren Rechtswidrigkeit in seinen Verantwortungsbereich falle, für die Zukunft zurücknehmen dürfen. Dazu sei er rechtlich verpflichtet gewesen. Für die Zukunft sei kein Vertrauensschutz begründet. Nachträglich hat er Versorgungsansprüche für August 1981 zuerkannt.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts zu ändern und die Berufungen gegen das Urteil des Sozialgerichts in vollem Umfang sowie die Revisionen der Kläger zurückzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts insoweit aufzuheben, als sie die Kläger beschweren, die Rücknahmebescheide in vollem Umfang aufzuheben und die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Nach ihrer Ansicht hat sich W. K. gegenüber dem H. K. nicht rechtswidrig verhalten. Deshalb seien die den Versorgungsbezügen der Kläger zugrundeliegenden Bescheide nicht rechtswidrig. Im übrigen hätten sich die Kläger darauf verlassen können, daß ihnen die zugesprochenen Leistungen auch in Zukunft gewährt würden.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des Beklagten ist erfolgreich. Die Kläger können mit ihren Rechtsmitteln nicht durchdringen.

Der Beklagte durfte die Bescheide, durch die er den Klägern Versorgungsleistungen nach § 1 Abs. 5 und Abs. 1 Satz 1 OEG vom 11. Mai 1976 - BGBl I 1181 - / jetzt i.d.F. vom 7. Januar 1985 - BGBl I 2-) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zugesprochen hatte, wegen Rechtswidrigkeit nach § 45 Abs. 1 S. GB 10 vom 18. August 1980 (BGBl 1 1469) für die Zukunft zurücknehmen; das war auch gegenüber den vor dem Inkrafttreten des SGB 10, d.h. vor dem 1. Januar 1981 erlassenen Verwaltungsakten zulässig (Art II § 40 Abs. 1 und 2 S. GB 10).

Der Rechtsstreit ist erledigt, soweit es um die Wirkung der angefochtenen Verwaltungsakte für den Monat August 1981 geht. Insoweit hat der Beklagte in der Verhandlung die nicht nach § 45 Abs. 4 Satz 1 S. GB 10 gerechtfertigten Rücknahmebescheide zurückgenommen.

Die Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft, d.h. ab September 1981, war berechtigt.

Die Verwaltung hatte den Klägern zu Unrecht Versorgung nach § 1 OEG bewilligt. Nach § 1 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 OEG erhalten die Hinterbliebenen desjenigen, der durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen seine oder eine andere Person getötet worden ist, Versorgung entsprechend den Vorschriften des BVG. H. K. könnte zwar den tätlichen Angriff, durch den er den Ehemann und Vater der Kläger tötete, trotz hohem Blutalkoholgehalt "vorsätzlich" i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG begangen haben (Begründung zum Gesetzesentwurf, BR-Drucks 352/74, S. 14, zu § 1 Abs. 1). Aber dieser Angriff war entgegen den Bedenken des LSG nicht rechtswidrig i.S. der genannten Bestimmung, so daß eine Versorgung nach den genannten Vorschriften ausgeschlossen ist.

Die Verteidigung durch H. K. war erforderlich, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff durch W. K. und durch Sch. gegen ihn abzuwenden. Damit war ein Notwehrtatbestand i.S. des § 32 Abs. 2 Strafgesetzbuch (StGB) und des § 227 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gegeben. Dieser schloß nach § 32 Abs. 1 StGB und nach § 227 Abs. 1 BGB eine Rechtswidrigkeit der Tötungshandlung aus.

Die Entscheidung über einen Versorgungsanspruch nach § 1 OEG ist allerdings nicht an die rechtskräftig gewordene Beurteilung des Strafgerichts, daß die tödlichen Stiche gegen W. K. durch Notwehr gerechtfertigt gewesen seien, gebunden (BSG SozR 3800 § 2 Nr. 4). Eine solche Entscheidung nach dem OEG setzt nicht die Verurteilung des "Angreifers" wegen einer Straftat und nicht einmal die Strafbarkeit seines Verhaltens voraus. Wohl knüpft das OEG an strafrechtliche Begriffe an (BSGE 56, 234, 235 f. = SozR 3800 § 1 Nr. 4). So ist auch die Notwehr, die eine Rechtswidrigkeit i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ausschließt, nach den Rechtsmaßstäben zu beurteilen, die zur Notwehr i.S. des § 32 StGB im Gesetz festgelegt und ergänzend durch die Rechtsprechung entwickelt worden sind. Zudem deckt sich damit der Notwehrbegriff des § 227 BGB (Feldmann in: Münch-Komm zum BGB, Band 1, 1978, § 227 Rz. 1; Johannsen in: RGR-Komm zum BGB, Band 1, 12./1982, § 227, Rz. 3; Palandt/Heinrichs, BGB, 45./1986, 1 227, Anm. 1; Staudinger/Dilcher, BGB 12./1980, 3 227, Rz. 1 und 31; Soergel/Fahse, BGB, 11./1978, 5 227, Rz. 1; gewisse Unterschiede - vgl. auch Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1983, S. 287 f Rz. 4 bis 6 - sind hier nicht erheblich). Ein Notwehrtatbestand dieser Art steht einem zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch aus den §§ 823, 842 ff. BGB entgegen, der durch die Versorgung nach dem OEG ersetzt werden soll.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die das Gericht dem Strafurteil entnehmen durfte (BSGE 52, 281, 284 = SozR 3800 § 2 Nr. 3), die die Kläger nicht mit formgerechten Revisionsrügen angegriffen haben und die daher das Revisionsgericht binden (§§ 163, 164 Abs. 2 Satz 1 und 3 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), waren die Stiche, durch die W. K. getötet wurde, als Notwehr im Sinn einer Verteidigung geboten, durch die der Täter einen gegenwärtigen, unmittelbar gegen seinen Leib und sein Leben gerichteten Angriff abwenden mußte und durfte. Dieser Überfall auf H. K. war auch rechtswidrig. Er war nicht durch eine Notwehr gegenüber dem H. K. gerechtfertigt, der vorher die Antenne vom Auto des W. K. abgebrochen, also bloß eine Sache beschädigt hatte. Ein Festnahmerecht, das die beiden Gegner anfangs gehabt haben mögen (§ 227 Strafprozeßordnung -StPO -; dazu BSGE 52, 281, 285), erstreckte sich nicht mehr auf die Selbstjustiz, die sie durch Verprügeln und Treten übten; es endete spätestens damit, daß sie die Personalien dessen, der die Sache beschädigt hatte, ermittelt hatten (Löwe/Rosenberg/Wendisch, Komm zur StPO, 24./1985, § 127, Rz. 23 und 29 m.N.). Wenn H. K. Jahre später, nach dem Streit, seine eigene Ehefrau mit einem Messer verletzt hat, so ist das für die Wertung des streitigen Tatbestandes als Notwehr unerheblich. Notwehr ist allein zur Abwehr eines "gegenwärtigen" Angriffs berechtigt.

H. K. durfte sich auch gegen die beiden körperlich überlegenen Männer mit einem spitzen Gegenstand, den er als Waffe verwendete, wehren (BGHSt 24, 356, 358; BGH, NJW 1980, 2263; Jakobs, aaO, S. 323, Rz. 33, 34; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 22./1985, § 32 Rz. 34 ff., bes. 36 und 37 m.N.). Wenn er diesen Gegenstand mitgenommen hatte, um ihn bei einer von vorneherein erwarteten Auseinandersetzung zur Abwehr zu gebrauchen, dann stand dies einer späteren Notwehr nicht entgegen. Schließlich war diese Verteidigung trotz eigenem früheren rechtswidrigen Verhalten auch dann gerechtfertigt, wenn das Abbrechen der Antenne als Provokation gewertet wird (BGHSt 24, 356, 358 ff.; 26, 143, 145 ff.; 26, 256, 257 f.; Baumann/Weber, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9./1985, S. 292, 306 ff; Schönke/Schröder/Lenckner, aaO, § 32, Rz. 43 ff; bes. 54 ff. m.N.; Jakobs, aaO, S. 332 ff., Rz. 49 ff., bes. 53; Schoreit/Düsseldorf, Gesetz zur Entschädigung der Opfer von Gewalttaten, 1977, § 1 Abs. 1, Rz. 102 ff.). Eine allgemein erforderliche Warnung und Drohung, man werde eine Stichwaffe verwenden (BHGSt 26, 256, 258; BGH, NJW 1980, 2263; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32, Rz. 36; Jakobs, S. 323, Rz. 31), war hier überflüssig, weil H. K. die "Waffe" anfangs bei Stichen, die noch nicht tödlich wirkten, verwendete, W. K. durch seine Ehefrau gewarnt wurde und Sch. vom Angriff abließ.

Da der Angriff des H. K. demnach nicht rechtswidrig i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG war, waren allein aus diesem Grund die gewährten Entschädigungen rechtswidrig. Es kommt damit nicht mehr - entgegen der Auffassung des LSG - ausschlaggebend auf einen Versagensgrund gemäß § 2 Abs. 1 OEG an.

Der Beklagte hat sich zur Rücknahme der rechtswidrigen Bewilligungsbescheide verpflichtet gefühlt, wie er im Widerspruchsbescheid und in der Revisionsbegründung klargestellt hat. Nach herrschender Meinung ist aber über die Rücknahme, falls sie nicht nach den Absätzen 2 ff. des § 45 SGB 10 ausgeschlossen ist, gemäß Abs. 1 nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (BSGE 57, 274, 278 = SozR 1300 § 48 Nr. 11; SozR 1300 § 45 Nrn. 12 und 19; Urteile vom 16. Januar 1986 - 4b/9a RV 9/85 - und vom 26. Februar 1986 9a RV 16/84 -; Schneider-Danwitz in: GesKomm SGB Sozialversicherung, SGB 10, § 45, Anm. 19 und 23). Ungeachtet dessen sind die angefochtenen Bescheide nicht allein mangels einer Ermessensausübung und entsprechender Begründung aufzuheben (§ 35 Abs. 1, § 41 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2, § 42 Satz 1 SGB 10; vgl. dazu BVerwG Buchholz 427.3 § 335a LAG Nrn. 54, 61, 62, 63, 64, 66; BSGE 57, 274, 278; BSG SozR Art 2 § 40 Nr. 8; BSG 16. Januar 1986 - 4b/9a RV 9/85 -; Schneider-Danwitz, aaO, § 45, Anm. 21).

Im Gegensatz zur herrschenden Auslegung des § 45 Abs. 1 SGB 10 könnte das "Dürfen" in dieser Vorschrift - ebenso wie das "Können" in § 48 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG), dem Vorbild für jene Bestimmung - bloß eine Handlungsermächtigung kennzeichnen, d.h. die Verwaltung zum Eingriff in einen rechtswidrigen bestandskräftigen Verwaltungsakt berechtigen und in den Fällen, in denen dem die Abs. 2 ff. nicht entgegenstehen, sie aber auch verpflichten, einen rechtswidrigen Bescheid zurückzunehmen und damit einen rechtmäßigen Zustand herzustellen. Das wäre mit dem Wortlaut und -sinn vereinbar, wie früher zu entsprechenden Formulierungen im Rücknahmetatbestand des § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) vom 2. Mai 1955 (BGBl I 202 / 6. Mai 1976 (BGBl § 1169) und in der Bestimmung über einen Zugunstenbescheid in § 40 KOVVfG in ständiger Rechtsprechung angenommen wurde (BSGE 23, 7, 10 = SozR Nr. 31 zu § 48 BVG; BSGE 35, 91, 93 = SozR Nr. 31 zu § 40 VerwVG). Wenn eine Interessenabwägung nach § 45 Abs. 2 SGB 10, die hier später noch vorgenommen wird, einer Rücknahme nicht entgegensteht, könnte ein Spielraum für eine Ermessensentscheidung zum Vorteil des Begünstigen allgemein ausgeschlossen sein. Dafür spricht auch, daß bei der Interessenabwägung nach § 45 Abs. 2 SGB 10 praktisch alle Gesichtspunkte erörtert werden müssen, die die Verwaltung auch bei einer Ermessensausübung nach § 45 Abs. 1 SGB 10 zu berücksichtigen hätte. Indes braucht dies hier nicht entschieden zu werden. Denn die Rücknahme in den üblichen Fällen wie dem gegenwärtigen ist auch dann, wenn der herrschenden Meinung gefolgt wird, deshalb als gerechtfertigt zu beurteilen, weil ein Ermessensspielraum auf "Null" geschrumpft war. Die Kläger dieser Sache haben, auch trotz der Ermessensprüfung im Berufungsurteil, jedenfalls nichts vorgebracht, was die Verwaltung zu einer Ermessenserwägung in ihrem Interesse hätte veranlassen können.

Die Rücknahme der Rentenbescheide war nicht nach den Abs. 2 ff. des § 45 SGB 10 ausgeschlossen.

Die angefochtenen Bescheide wurden vor dem Ablauf von zwei Jahren nach der Bekanntgabe der Bewilligungsakte erlassen, wie § 45 Abs. 3 Satz 1 S. GB 10 vorschreibt.

Auch das Rücknahmeverbot des § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB 10 greift nicht zugunsten der Kläger durch. Nach dieser Vorschrift darf ein begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Aktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Jedenfalls ist im gegenwärtigen Fall ein solches Vertrauen der Kläger insbesondere der Mutter zugleich für ihre Kinder, von dem das LSG in tatsächlicher Hinsicht ausgeht (§ 163 S. GG), nicht schutzwürdig im bezeichneten Sinn.

Ein Regelfall dieses Tatbestandes ist nicht nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB 10 gegeben. Die Kläger konnten noch keine erbrachten Leistungen verbraucht haben (1. Alternative). Sie haben auch nicht einmal andeutend behauptet, sie hätten im Vertrauen auf die Bestandskraft der Rentenbewilligungen eine Vermögensdisposition getroffen, die sie nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen könnten (2. Alternative). Die Feststellung des LSG, entsprechende Verfügungen seien nicht erkennbar, haben die Kläger nicht mit der Revision angegriffen (§ 164 Abs. 2 Satz 3 SGG).

Falls ein solcher Regeltatbestand fehlt, ist bei Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu prüfen, ob das Vertrauen in die Bestandskraft unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Berichtigung schutzwürdig ist (BSG SozR 1300 § 45 Nr. 9; BSG 28. November 1984 - 4 RJ 37/84 - Bericht in DRV 1985, 319; BSG 28. November 1985 - 11b/7 RAr 128/84 -). Diese Entscheidung wird allgemein als gerichtlich voll nachprüfbar angesehen.

Der Grundsatz der Rechtssicherheit, zu der die Bestandskraft eines Verwaltungsaktes, auch eines rechtswidrigen gehört (§ 77 SGG), worauf der Empfänger vertrauen darf, und auch der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art 20 Abs. 3 Grundgesetz - GG -), der das öffentliche Interesse an der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes begründet, folgen beide aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzip und sind daher grundsätzlich gleichwertig (BVerwGE 11, 136, 137; 41, 277, 280; BVerwG Buchholz 427.3 § 335a LAG Nr. 57 - Urteil vom 20. Januar 1976 - und Nr. 60). Im Konfliktfall sind sie gegeneinander abzuwägen (BVerwGE 11, 138; 41, 277, 279 f.; BSGE 57, 274, 278 = SozR 1300 § 48 Nr. 11; SozR 1300 § 45 Nrn. 9 und 19). Aber das öffentliche Interesse an der Rücknahme eines unrichtigen Verwaltungsaktes, durch den laufende Geldleistungen für die Zukunft zuerkannt worden sind, überwiegt in der Regel (BSG SozR 3900 § 41 Nr. 4 S. 17 f.; BSGE 10, 70, 76 f.; ähnlich BSG 28. November 1984 - 4 RJ 37/84 - ; BSG SozR 1300 § 45 Nrn. 9 und 19; BVerwGE 9, 251, 253 f.; 19, 188, 189; Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 38). Das gilt jedenfalls für die Bewilligung von Dauerleistungen, die für sehr lange Zeit gewährt werden müßten (BVerwGE 13, 28, 33; BSG SozR 1300 § 45 Nrn. 9 und 19). Das trifft im gegenwärtigen Fall auch auf die Waisenrenten zu.

Eine Besonderheit dieses Falles schwächt den Vertrauensschutz derart, daß dem öffentlichen Interesse ein Vorrang zukommt. Die Hinterbliebenen müssen sich allgemein im Recht der sozialen Entschädigung das Verhalten ihres getöteten Angehörigen zurechnen lassen (zu § 2 Abs. 1 OEG: BSGE 49, 104, 106 f. = SozR 3800 § 2 Nr. 1), hier auch mit Wirkung für die Rücknahme der rechtswidrigen Bewilligungsbescheide. Ihr Ehemann und Vater hatte aber gemeinschaftlich mit einem anderen den K. überfallen, um wegen einer vorsätzlichen Sachbeschädigung Entschädigung zu erzwingen und sich zu rächen, statt sich auf dem Rechtsweg, notfalls unterstützt durch eine Strafanzeige, um Schadensersatz und Bestrafung zu bemühen. Wer in solcher Weise auf staatlichen Rechtsschutz verzichtet und selbst Gewalt anwendet, kann wegen dabei erlittener Verletzungen keine Entschädigung nach dem OEG verlangen; diese ist wesentlich eingeführt worden, weil die staatlichen Sicherheitsorgane vielfach nicht ausreichend vor Gewaltkriminalität schützen können (BSGE 49, 105; BSGE 52, 281, 287 = SozR 3800 § 2 Nr. 3; BSGE 57, 168, 170 = SozR 3800 § 2 Nr. 5; BSGE 58, 214, 216 = SozR 3800 § 2 Nr. 6). Jene Mißachtung des staatlichen Gewaltmonopols und der Rechtsordnung beeinträchtigt auch erheblich die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in den Bestand einer irrtümlich bewilligten Entschädigung gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Herstellung eines rechtmäßigen Zustandes.

Die Verwaltung hätte allerdings die unrichtigen rechtsverbindlichen Bescheide vermeiden können, falls sie bis zum Abschluß des Strafverfahrens den Klägern die für sie wirtschaftlich wichtigen Renten unter Widerrufsvorbehalt (§ 32 Abs. 2 Nr. 3, § 45 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 SGB 10) oder durch einen Vorbehaltsbescheid (§ 22 Abs. 4 KOVVfG, Art II § 16 Nr. 1 SGB 10) oder mit einer sonstigen Einschränkung, die ein Vertrauen der Empfänger im Hinblick auf den ungewissen Ausgang des Strafverfahrens ausgeschlossen hätte (§ 32 Abs. 2 Nr. 2 SGB 10), bewilligt hätte. Aber für das öffentliche Interesse ist es allgemein gleichgültig, ob und in welchem Ausmaß die Unrichtigkeit einer Entscheidung von der Verwaltung zu vertreten ist (für zukünftige Leistungen: BVerwGE 19, 188, 190). Die Zurechnung zum Verantwortungsbereich der Verwaltung verbietet nicht in jedem Fall, einen begünstigenden Verwaltungsakt zurückzunehmen (BSG SozR 1300 § 45 Nr. 9; dazu BVerwG Buchholz 427.3 § 335a LAG Nr. 70). Wohl kann für die Abwägung zu Lasten des öffentlichen Interesses bedeutsam sein, daß das Vertrauen durch ein Versagen der Verwaltung gefestigt worden ist (ähnlich BSG SozR 1300 § 45 Nr. 19). Derart ist aber eine Grundrentenbewilligung nach dem OEG während eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens noch nicht zu bewerten. Die späteren Bescheide betrafen im gegenwärtigen Fall - wie auch sonst üblich - jeweils nur die Höhe der Leistungen, insbesondere der einkommensabhängigen. Damit ist eine Wiederholung der Bewilligung außer Betracht, die das Vertrauen des Empfängers bestärken könnte (BSG SozR 1300 § 45 Nr. 9).

Andererseits könnte ein langer zeitlicher Abstand zwischen der Bewilligung und der Rücknahme das Vertrauen schutzbedürftiger machen (Schneider-Danwitz, § 45 Anm. 36d und 37; zurückhaltend: BSG SozR 1300 § 45 Nr. 9; BVerwG Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 38; 427.3 § 335a LAG Nr. 57 - Urteil vom 20. Januar 1976 - und Nr. 60). Das trifft indes hier nicht zu.

Das LSG hat auch die Auswirkungen der Rücknahme auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der Kläger berücksichtigen dürfen (BSG SozR 1300 § 45 Nrn. 9 und 19; BSG 28. November 1985; vgl. auch BVerwGE 9, 251, 255 f.; Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 38). Dafür sprechen die Regeltatbestände des § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB 10. Obwohl das Gericht dies in eine Ermessensprüfung einbezogen hat, ist seine Entscheidung im Ergebnis nicht zu beanstanden. Ob ein Absinken auf das Sozialhilfeniveau genügt, um eine Schutzwürdigkeit i.S. des § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB 10 annehmen zu können, ist umstritten (BSG SozR 1300 § 45 Nr. 19). Dem erkennenden Senat erschiene eine solche Beurteilung bedenklich angesichts des Rechtsanspruchs auf Sozialhilfe als einer Leistung, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen soll. Jedenfalls kommt hier aber eine solche Sachlage nicht in Betracht. Das LSG hat den Fortfall der OEG-Renten nicht als eine Härte bewertet, die dem Vertrauen einen höheren Rang als dem öffentlichen Interesse zukommen lassen müßte. Das haben die Kläger nicht beanstandet. Auch wenn abweichend von dieser Berechnungsweise die Grundrenten nach dem OEG nicht mehr zu gewähren sind, überschreitet das verbleibende Einkommen der Kläger die Sozialhilfesätze.

Unrichtig ist die unterschiedliche Beurteilung der Rücknahme von Grundrenten-Bescheiden und von Verwaltungsakten über einkommensabhängige Leistungen (Ausgleichsrente und Schadensausgleich). Sowohl das Vertrauen der Empfänger als das öffentliche Interesse an rechtmäßigen Verhältnissen sind in der Regel - wie hier - gleichartig in bezug auf die verschiedenen Rentenarten zu beurteilen. Wer sich auf den zuerkannten Versorgungsanspruch dem Grunde nach verläßt, wird auch die gesetzlichen einkommensabhängigen Leistungen erwarten. In dieser und in jener Hinsicht wird im allgemeinen die Schutzbedürftigkeit gleich sein. Höhere Leistungen dürfen nicht etwa leichter als niedrigere entzogen werden (BSG SozR 3900 § 41 Nr. 4 S. 18). Im gegenwärtigen Fall wirken sich auch nicht wesentlich unterschiedliche Bezugszeiten von verschiedenen Leistungen auf die Abwägung nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB 10 aus. Ein Sonderfall, in dem z.B. ein Ausnahmetatbestand des § 45 Abs. 2 Satz 2 oder 3 SGB 10 allein bezüglich einkommensabhängiger Leistungen gegeben wäre, besteht hier nicht. Wenn auch die späteren Bescheide über diese Leistungen nicht das Vertrauen in den Grund des Versorgungsanspruches bestärkten, so bestand dieses doch fort, bis das Rücknahmeverfahren gegenüber den Klägern eröffnet wurde, und verdiente weiterhin einen Schutz nach grundsätzlich gleichen Maßstäben auch bezüglich der übrigen Leistungen. Indes war das Vertrauen insgesamt nicht schutzwürdig i.S. des § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB 10.

Nach alledem war die Rücknahme aller Rentenbescheide für die Zukunft nicht nach den Absätzen 2 ff. des § 45 SGB 10. ausgeschlossen, vielmehr nach Abs. 1 berechtigt, so daß die Klagen in vollem Umfange erfolglos bleiben mußten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 147

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