Entscheidungsstichwort (Thema)

Unbilligkeit iS des § 2 Abs 1 Alt 2 OEG. Selbstgefährdung durch Verharren in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Entschädigung wäre "unbillig" iS des § 2 Abs 1 OEG, wenn der Geschädigte einer ständigen Gefahr zum Opfer gefallen ist, aus der er sich bei einem Mindestmaß an Selbstverantwortung selbst hätte befreien können.

 

Orientierungssatz

Unbilligkeit iS des § 2 Abs 1 Alt 2 OEG - Selbstgefährdung durch Verharren in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft:

1. Eine Opferentschädigung ist nach § 2 Abs 1 Alt 2 wegen "Unbilligkeit" zu versagen, wenn die Besonderheiten des Einzelfalles nach dem Normzweck eine staatliche Hilfe gemäß dem OEG iVm dem BVG als sinnwidrig und damit als ungerecht beurteilen lassen (vgl BSG vom 7.11.1979 9 RVg 2/78 = BSGE 49, 104, 107). Solche "sonstigen Gründe" müssen insgesamt annähernd ein gleiches Gewicht wie eine Verursachung im Sinn der ersten Alternative des § 2 Abs 1 OEG haben (vgl BSG aaO; BSG vom 24.4.1980 9 RVg 1/79 = BSGE 50, 95, 97f).

2. Verbleibt eine Frau in einer Lebensgemeinschaft, die mit einer dauernden Gefahrenlage verbunden ist, in der sie stets mit einer schweren Mißhandlung rechnen muß, kann keine staatliche Entschädigung im Fall einer Körperverletzung beansprucht werden.

 

Normenkette

OEG § 2 Abs. 1 Alt. 2

 

Verfahrensgang

SG Hannover (Entscheidung vom 16.08.1983; Aktenzeichen S 18 Vg 47/83)

 

Tatbestand

R Sch (Sch.), die Mutter des Klägers, wurde am 30. Mai 1981 von ihrem Freund H Schu (Schu.), mit dem sie zusammen lebte, bei einem Streit so schwer körperlich mißhandelt, daß sie an den Folgen der Verletzungen starb. Schu. wurde wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Der minderjährige Kläger beantragte Hinterbliebenenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Die Verwaltung lehnte eine Entschädigung nach § 2 Abs 1 OEG ab (Bescheid vom 14. Juli 1982, Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 1983).

Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 16. August 1983). Es hat unter Verwertung der Strafakten die Auffassung der Verwaltung bestätigt, daß Leistungen nach § 2 Abs 1 OEG zu versagen seien; denn aufgrund des eigenen Verhaltens der Getöteten sei es unbillig, Entschädigung zu gewähren. Nach den Feststellungen des Strafurteils sei Sch. von ihrem Freund beinahe täglich geschlagen und häufig mißhandelt worden. Trotzdem habe sie mit dem Täter, der auch leicht reizbar gewesen sei und intime Beziehungen zu einer anderen Frau unterhalten habe, weiterhin in dessen Wohnung ein eheähnliches Verhältnis geführt und sich dadurch wissentlich und leichtfertig in eine besondere Gefahrenlage begeben. Darüber hinaus habe sie am Tattag übermäßig Alkohol getrunken (ca 4 %o), den Täter stark gereizt, beleidigt und ihm mangelhafte sexuelle Leistungsfähigkeit vorgeworfen. Dadurch habe sie ihn in Wut versetzt und die schweren Verletzungen provoziert. Das nicht zu entschuldigende Verhalten der Sch. sei eine wesentliche Ursache für die Körperverletzung mit Todesfolge gewesen. Der Kläger müsse sich Versagungsgründe, die in der Person der unmittelbar Geschädigten verwirklicht seien, entgegenhalten lassen.

Der Kläger hat die - vom SG zugelassene - Sprungrevision eingelegt. Er rügt eine Verletzung der §§ 1 und 2 OEG. Selbst wenn seine Mutter den Täter durch Beleidigungen gereizt haben sollte, so stehe diese Provokation in keinem Verhältnis zu der Schwere der begangenen Gewalttat. Dies müsse um so mehr gelten, als sich die Getötete zur Zeit der Tat in einem volltrunkenen Zustand befunden habe und im Vollrausch behauptete abfällige Bemerkungen nicht rechtlich bedeutsam sein könnten. Das Verhalten der Verletzten lasse eine Entschädigung auch nicht "unbillig" iS der zweiten Alternative des § 2 Abs 1 OEG erscheinen. Selbst wenn sie das Selbstgefühl des Täters verletzt haben sollte, komme diesem Umstand im Verhältnis zu seiner Reaktion keine entscheidende Bedeutung zu.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts sowie den Bescheid des Versorgungsamtes und den Widerspruchsbescheid aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Juli 1981 Versorgung nach dem OEG iVm dem BVG zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision des Klägers ist zulässig. Obgleich ihre Zulassung unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter hätte beschlossen werden müssen, ist die allein vom Kammervorsitzenden getroffene Entscheidung für das Revisionsgericht bindend (BSGE 51, 23 = SozR 1500 § 161 Nr 27).

Das Rechtsmittel hat aber keinen Erfolg.

Der Streit beschränkt sich darauf, ob die Versorgung nach § 2 Abs 1 OEG deshalb zu versagen ist, weil die Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder weil es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchsstellers liegenden Gründe unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.

Ob das SG den ersten, selbständigen Versagungsgrund angenommen hat, ist dem Urteil nicht deutlich genug zu entnehmen. Der festgestellte Sachverhalt, den das Vordergericht dem Strafurteil entnommen hat und der für das Revisionsgericht verbindlich ist (BSGE 52, 281, 284 = SozR 3800 § 2 Nr 3), läßt es sehr fraglich erscheinen, daß die Geschädigte durch ihr Verhalten ihren Tod mit verursacht haben soll. Sie müßte nach der hier anwendbaren versorgungsrechtlichen Kausalitätstheorie eine wesentliche, dh mindestens annähernd gleichwertige Bedingung für den Erfolg geschaffen haben (BSGE 49, 104, 105 f = SozR 3800 § 2 Nr 1; BSGE 50, 95, 96 = SozR 3800 § 2 Nr 2; BSGE 52, 281, 283, 284; Urteil des erkennenden Senats vom 7. Dezember 1983 - 9a RV 40/82 = Breithaupt 1984, 405); hingegen ist die strafrechtliche Ursachenlehre, auf die das SG abgehoben hat, nicht maßgebend. Der angefochtenen Entscheidung sind keine ausreichenden Tatsachen zu entnehmen, die beurteilen lassen, ob die Provokation der Getöteten etwa die gleiche Bedeutung für den Tod wie das Verhalten des Täters hatte. Das Vordergericht hat auch nicht die Feststellungen des Strafgerichts in Bezug genommen (entsprechend § 136 Abs 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-), so daß sie ergänzend als Grundlage für das Revisionsurteil übernommen werden könnten. Grundsätzlich kann der erstgenannte Versagungsgrund, eine Verursachung, nicht dahingestellt bleiben (Urteil vom 7. Dezember 1983). Indes braucht das Urteil nicht aufgehoben und die Sache nicht zur weiteren Aufklärung zurückverwiesen zu werden; denn die Entscheidung des SG über den zweiten Versagungsgrund des § 2 Abs 1 OEG ist zutreffend.

Eine Opferentschädigung ist nach diesem Gesetzestatbestand wegen "Unbilligkeit" zu versagen, wenn die Besonderheiten des Einzelfalles nach dem Normzweck eine staatliche Hilfe gemäß dem OEG iVm dem BVG als sinnwidrig und damit als ungerecht beurteilen lassen (BSGE 49, 104, 107). Solche "sonstigen Gründe" müssen insgesamt annähernd ein gleiches Gewicht wie eine Verursachung im Sinn der ersten Alternative des § 2 Abs 1 OEG haben (aa0; BSGE 50, 95, 97 f). Diese Voraussetzungen sind im gegenwärtigen Fall gegeben.

Als sonstiger Umstand in diesem Sinn ist das Verhalten der getöteten Mutter zu berücksichtigen; der Kläger, ihr Sohn, muß es sich zu seinem Nachteil zurechnen lassen (BSGE 49, 104, 106 f).

Als derart tatbezogener Umstand ist hier die Beleidigung des Täters anzusehen, die ihn provozierte. Nachdem Sch. übermäßig Alkohol getrunken hatte (BAK von 4 %o), reizte sie ihren Liebhaber stark, indem sie ihm mangelnde sexuelle Leistungsfähigkeit vorwarf. Dadurch versetzte sie ihn in Wut und brachte ihn dazu, sie derart zu treten, daß die Nierenarterie abriß, was alsbald zu ihrem Tod führte. Wenn der Kläger die Feststellungen über die beleidigenden Äußerungen beanstandet, so ist dies im Sprungrevisionsverfahren unbeachtlich (§ 161 Abs 4 SGG). Ob die tatfördernde Beleidigung für sich allein annähernd den gleichen Rang wie eine Mitverursachung im versorgungsrechtlichen Sinne der ersten Alternative des § 2 Abs 1 OEG hatte, braucht nicht entschieden zu werden. Jedenfalls begründet dieses Verhalten des Opfers zusammen mit der Selbstgefährdung die "Unbilligkeit" einer Entschädigung.

Diese Selbstgefährdung ergab sich aus den näheren Umständen der Lebensgemeinschaft, die Täter und Opfer lange Zeit hindurch in einer gemeinsamen Wohnung führten. Ein solcher tatunabhängiger Umstand kann schon für sich allein eine Entschädigung als "unbillig" bewerten lassen (BSGE 49, 104, 108 f). Hier schuf er eine besondere anhaltende Gefahrenlage für Sch. Die Frau wurde von ihrem Liebhaber fast täglich geschlagen und häufig schwer mißhandelt, ua gewürgt. Durch das Ausharren in der Lebensgemeinschaft setzte sie sich leichtfertig einer ständigen Gefährdung aus. Sie hätte dies jederzeit durch verantwortungsbewußtes Handeln vermeiden können, indem sie ihren leicht reizbaren, gefährlichen Freund verließ. Das Maß ihrer Verantwortung bestimmt sich auch dadurch, daß sie für ein Kind - den Kläger - sorgen mußte. Eine ständige Liebesbeziehung zwischen Täter und Opfer für sich allein rechtfertigt indes nicht in jedem Fall, Leistungen nach dem OEG wegen "Unbilligkeit" gem § 2 Abs 1 auszuschließen (BSGE 49, 104, 108 f). Ob eine solche Rechtsfolge schon wegen der laufenden Rechtsverletzungen eintreten muß, wie zB bei einer kriminellen Bande oder bei einer anderen rechtsfeindlichen Lebensweise (vgl BSGE 49, 104, 110; 52, 281, 287 f), kann hier unentschieden bleiben. Aber wenn eine Frau in einer Lebensgemeinschaft verbleibt, die mit einer dauernden Gefahrenlage verbunden ist, in der sie stets mit einer schweren Mißhandlung rechnen muß, kann keine staatliche Entschädigung im Fall einer Körperverletzung beansprucht werden. Aufgrund der bezeichneten Lebensgewohnheiten dieses Paares konnte sich Sch. nicht darauf verlassen, daß die laufend durch Mißhandlungen zu erwartenden Gesundheitsschädigungen niemals zum Tode führen würden. Die allgemeine Gefahr erhöhte sich gerade erfahrungsgemäß im Alkoholrausch der Frau, weil sie dann ihr Verhalten nicht mehr genügend vorsichtig steuern konnte und zu Provokationen neigte. Damit mußte sie rechnen. Dies schließt auch einen Versorgungsanspruch des Klägers aus.

Ob seiner Mutter das Ausharren in der ständigen Gefahrenlage und die Beleidigungen als Verschulden im zivil- oder strafrechtlichen Sinn vorzuwerfen sind, kann dahingestellt bleiben; von einer solchen Voraussetzung sind Leistungen nach dem OEG grundsätzlich nicht abhängig. Jedenfalls war die Gefährdung vermeidbar. Für eine vollständige Willenlosigkeit, die eine Entschädigung möglicherweise nicht als "unbillig" bewerten ließe, besteht hier kein Anhalt.

Bei der Gesamtheit der dargelegten Umstände wäre eine Entschädigung "unbillig". Eine solche Leistung der Allgemeinheit widerspräche dem Zweck des Gesetzes. Die staatliche Gemeinschaft steht aus verschiedenen anderen Gründen als wegen einer Aufopferung für die Schäden ein, die durch Gewalttaten gem § 1 OEG verursacht werden, ua wegen eines Versagens der staatlichen Verbrechensbekämpfung (Urteil des erkennenden Senats vom 7. Dezember 1983 - 9a RVg 2/83 - demnächst in BSGE 56, 90). Sie hat aber grundsätzlich keine Verantwortung für die Folgen von selbst herbeigeführten Schädigungen übernommen (Entwurf eines Gesetzes über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten - BT-Drucks 7/2506, Begründung I A, S 7). Wer in einer eheähnlichen Gemeinschaft verharrt, die ständig mit einer solchen Gefahrenlage wie im gegenwärtigen Fall verbunden ist, macht die staatlichen Sicherungen gegenüber kriminellen Übergriffen wirkungslos. Insgesamt muß wegen eines Verhaltens der Geschädigten wie des der Mutter des Klägers eine Entschädigung, die nicht auf einem Sonderopfer, wie zB bei Kriegs- oder Wehrdienstopfer, beruht, als "unbillig" beurteilt werden. Das ist insbesondere deshalb geboten, weil sogar ein Rechtsanspruch aus der Kriegs- und Soldatenversorgung, der auf einer Aufopferung beruht, bei einer selbstgeschaffenen Gefahr ausgeschlossen sein kann (BSG SozR 3200 § 81 Nrn 7 und 16).

Diese Bewertung widerspricht nicht Entscheidungen des erkennenden Senats über Ansprüche nach dem OEG, die trotz einer gewissen Selbstgefährdung im Einzelfall zugesprochen worden sind (BSGE 52, 281; Urteil vom 8. August 1984 - 9a RVg 2/82). In diesen Fällen hatte jeweils das Opfer eine Selbsthilfe als rechtmäßige Verteidigung gegenüber einem einzelnen rechtswidrigen Angriff ausgeübt, der überraschend kam, und sich dabei in eine Gefahr begeben. So war es hier nicht, wie bereits dargelegt worden ist.

Mithin müssen das Urteil des SG und die Bescheide des Beklagten im Ergebnis bestätigt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 168

NJW 1985, 647

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