Opferrente kein Bezug eines behinderten volljährigen Kindes

Die Grundrente, die ein volljähriges behindertes Kind als Opfer einer Gewalttat bezieht, ist nicht zu den Bezügen des Kindes zu rechnen und steht daher der Gewährung von Kindergeld nicht entgegen.

Hintergrund: Beschädigtengrundrente nach dem Opferentschädigungsgesetz

Der Kläger (Vater, V) hat eine volljährige Tochter (A), bei der eine Behinderung vorliegt. Diese ist mit X (Ehemann) verheiratet. Beide sind Eltern zweier minderjähriger Kinder. Aufgrund der Behinderung bezog V auch nach der Volljährigkeit der A Kindergeld.

A bezog in dem noch streitigen Zeitraum (November/ Dezember 2019) Bundeselterngeld (§ 1 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes). Außerdem erhielt sie als Opfer einer Gewalttat Versorgungsbezüge (Beschädigtengrundrente) nach § 1 des Opferentschädigungsgesetzes (OEG).

Im Januar 2020 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für A mit der Begründung auf, A könne – unter Hinzurechnung der Beschädigtengrundrente – wegen ihrer eigenen finanziellen Mittel und der ihres Ehemanns (X) ihren Lebensunterhalt selbst finanzieren.

Dem widersprach das FG und gab der Klage statt. Die Rente nach dem OEG sei bei den Bezügen der A nicht erhöhend zu berücksichtigen.

Entscheidung: Die Opferrente ist kein Bezug

Der BFH bestätigte das Urteil des FG. Die Revision des FA wurde zurückgewiesen. Die Rente nach dem OEG gehört nicht zu den eigenen einzusetzenden Mitteln des Kindes, da sie nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts geeignet und bestimmt ist.

Kindergeld für ein volljähriges behindertes Kind

Für ein volljähriges behänderes Kind besteht Anspruch auf Kindergeld, wenn es aufgrund der Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten und wenn die Behinderung (wie im Streitfall) vor Vollendung des 25. Lebensjahrs eingetreten ist. Die Fähigkeit zum Selbstunterhalt bestimmt sich nach dem gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits (z.B. BFH v. 27.11.2019, III R 28/17, BStBl II 2021 S. 807, Rz. 16).

Auffassung des BVerwG

Nach der Rechtsprechung des BVerwG handelt es sich bei der Rente nach § 1 Abs. 1 OEG um eine Sozialleistung, die zwar einerseits einen schädigungs- oder behinderungsbedingten Mehraufwand abdecken soll, andererseits aber maßgeblich immateriellen (ideellen) Zwecken wie der Genugtuung für erlittenes Unrecht dient. Letzteres gilt besonders für die nach dem OEG berechtigten Opfer von Straftaten, die einen erheblichen Schaden an immateriellen Rechtsgütern erlitten haben. Die Beschädigtengrundrente verfolgt überwiegend immaterielle Zwecke. Sie dient nicht der Linderung konkreter Not. Sie setzt keine Bedürftigkeit voraus und soll nicht den Lebensunterhalt des Beschädigten und seiner Familie sicherstellen (BVerwG v. 27.3.2020, 5 C 7/09, BVerwGE 137, 85).

Anschluss an die Rechtsprechung des BVerwG

Der BFH schließt sich dieser Auslegung, dass die Grundrente maßgeblich auch immaterielle Schäden ausgleichen soll, an. Ihre immaterielle und ihre materielle Komponente können nicht voneinander getrennt werden (BSG v. 30.4.2020, B 8 SO 12/18 R, SozR 4-3500 § 90 Nr. 10, SozR 4-3100 § 25f Nr. 1, Rz. 18). Die von A bezogene Rente nach § 1 Abs. 1 OEG gehört damit im Hinblick auf die behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt nicht zu den Einkünften und Bezügen der A.

Hinweis: Parallele zur Schmerzensgeldrente

Die Entscheidung deckt sich mit der Rechtsprechung zur Behandlung einer Schmerzensgeldrente. Danach ist eine Schmerzensgeldrente bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines behinderten Kindes nicht zu berücksichtigen. Dies widerspräche der Sonderfunktion des Schmerzensgeldes, immaterielle Schäden abzumildern. Schmerzensgeld hat nicht die Funktion, zur materiellen Existenzsicherung beizutragen (BFH v. 13.4.2016, III R 28/15, BStBl II 2016 S. 648).

Der BFH weist ergänzend darauf hin, dass für den Fall, dass – wie die Familienkasse meint – die OEG-Grundrente als Bezug berücksichtigt würde, entsprechend auch ein Betrag in Höhe der Rente als behinderungsbedingter Mehrbedarf anzusetzen wäre (vgl. z.B. für die Eingliederungshilfe BFH v. 9.2.2012, III R 53/10, BStBl II 2014, 391, oder für das Pflegegeld BFH v. 20.10.2022, III R 13/21, 2023 S. 941).

BFH, Urteil v. 20.4.2023, III R 7/21; veröffentlicht am 1.6.2023

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