Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht, Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Richter des Bundesfinanzhofs, der im ersten Rechtsgang an einer Entscheidung mitgewirkt hat, ist im zweiten Rechtsgang weder von der Entscheidung ausgeschlossen noch befangen.

Zur Praxis der Veröffentlichung von Urteilen des Bundesfinanzhofs.

Die Bindung gemäß § 296 Abs. 4 AO an die Grundsätze einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs im ersten Rechtsgang gilt auch für den Bundesfinanzhof selbst.

 

Normenkette

AO §§ 64, 66 Abs. 1; FGO § 11/3; AO § 67 Abs. 1 Nr. 5, § 296 Abs. 4; FGO § 126/4; GG Art. 101 Abs. 1

 

Tatbestand

Die Sache befindet sich im zweiten Rechtsgang.

Die verstorbene Frau X. (Steuerpflichtige) war mit 10.000 DM an einer GmbH beteiligt, deren Stammkapital 70.000 DM betrug. Am 12. Januar 1956 beschlossen die Gesellschafter, das Stammkapital von 70.000 DM auf 20.000 DM herabzusetzen. Die dadurch freigewordenen Mittel wurden den Gesellschaftern noch im Jahre 1956 anteilig gutgebracht; auf die Steuerpflichtige entfielen 8.100 DM. Die Kapitalherabsetzung wurde aber erst am 20. Januar 1958 im Handelsregister eingetragen. Das Finanzamt sah in der Gutschrift eine verdeckte Gewinnausschüttung gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 KStG und rechnete darum der Steuerpflichtigen die 8.100 DM als Einnahme aus Kapitalvermögen gemäß § 20 Abs. 2 Ziff. 1 EStG zu. Das Finanzgericht verneinte eine verdeckte Gewinnausschüttung, erhöhte indessen aus einem anderen Grund die Steuerfestsetzung des Finanzamts. Auf die Rb. der Steuerpflichtigen und die Anschlußbeschwerde des Vorstehers des Finanzamts hin hob der Senat im ersten Rechtsgang durch das Urteil VI 72/60 U vom 9. August 1963 (BStBl 1963 III S. 454, Slg. Bd. 77 S. 366) die Entscheidung des Finanzgerichts auf und verwies die Sache an das Finanzamt zurück. Der Senat entschied, daß die GmbH an ihre Gesellschafter Gewinn ausgekehrt habe. Zur Zeit der Gutschrift der 8.100 DM habe keine handelsrechtlich wirksame Kapitalherabsetzung vorgelegen. Der Gesellschafterbeschluß reiche dafür allein nicht aus; es komme gemäß § 54 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) vielmehr auf die Eintragung der Kapitalherabsetzung im Handelsregister an; erst nach der Eintragung dürfe der freigewordene Teil des Gesellschaftskapitals an die Gesellschafter zurückgezahlt werden. Da im Streitfall die Kapitalherabsetzung erst im Januar 1958 im Handelsregister eingetragen worden sei, seien die Gutschriften im Jahr 1956 nicht auf Grund einer wirksamen Kapitalherabsetzung geleistet worden. An die handelsrechtliche Rechtslage müsse auch die steuerliche Beurteilung anknüpfen. Auch die vom Finanzgericht vorgenommene änderung der Steuerfestsetzung zuungunsten der Steuerpflichtigen hielt der Senat dem Grunde nach für gerechtfertigt, ordnete jedoch eine andere Berechnung an.

Gegen dieses Urteil des Senats hatten die Erben der Steuerpflichtigen Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht eingelegt, die mit dem Beschluß 1 BvR 479/63 vom 16. Oktober 1963 nicht zur Entscheidung angenommen wurde.

Das Finanzamt änderte die Steuerfestsetzung, wie es der Senat angeordnet hatte. Dem Antrag der Bf., die 8.100 DM nicht der Einkommensteuer zu unterwerfen, entsprach es nicht, schon weil es gemäß § 296 Abs. 4 AO an die rechtliche Beurteilung der Sache durch den Senat gebunden sei. Zu dem gleichen Ergebnis gelangte das Finanzgericht bei der nunmehr angefochtenen Entscheidung und wies die Berufung als unbegründet zurück.

Mit der erneuten Rb. rügen die Bf. , die Erben der Steuerpflichtigen sind, der Senat habe die Sache im ersten Rechtsgang unrichtig entschieden. Das Urteil habe im Schrifttum keine Zustimmung gefunden und müsse im zweiten Rechtsgang geändert werden. Der Senat dürfe über die Rb. nicht entscheiden, soweit seine Mitglieder schon im ersten Rechtsgang mitgewirkt hätten; insoweit seien sie gemäß § 67 Abs. 1 Ziff. 5 AO von der weiteren Rechtsfindung ausgeschlossen, mindestens aber seien sie befangen. Im übrigen sei der Große Senat des Bundesfinanzhofs im ersten Rechtsgang zuständig gewesen, weil der VI. Senat, abweichend von der sonstigen Rechtsprechung, nicht eine wirtschaftliche, sondern eine bürgerlich-rechtliche Betrachtung in den Vordergrund gestellt habe. Dadurch, daß der Senat nicht den Großen Senat angerufen habe, sei die Steuerpflichtige ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist unbegründet.

Entgegen der Auffassung der Bf. sind die Mitglieder des erkennenden Senats im zweiten Rechtsgang nicht von der Mitwirkung ausgeschlossen, soweit sie schon im ersten Rechtsgang mit der Sache befaßt waren. Die Voraussetzungen des § 67 Abs. 1 Ziff. 5 AO sind nicht erfüllt. Danach soll nicht mitwirken, wer schon bei einer angefochtenen Rechtsmittelentscheidung mitgewirkt hat, weil normalerweise von einem Richter nicht erwartet werden kann, daß er unvoreingenommen seine eigene frühere Entscheidung kritisch wertet. Das Urteil des ersten Rechtsgangs ist indessen keine "Entscheidung" im Sinne von § 67 Abs. 1 Ziff. 5 AO. Angefochten war damals das Urteil des Finanzgerichts und der zugrunde liegende Einkommensteuerbescheid, bei dem kein Mitglied des Senats mitgewirkt hatte. Die Mitwirkung an der Entscheidung des Senats im ersten Rechtsgang schließt nicht aus, daß dieselben Richter auch im zweiten Rechtsgang in der Sache wieder tätig werden können; denn Gegenstand der Entscheidung im zweiten Rechtsgang ist nicht die erste Entscheidung des Senats, sondern das im zweiten Rechtsgang erlassene Urteil des Finanzgerichts, das vor allem auch daraufhin zu prüfen ist, ob es sich an die Rechtsgrundsätze der ersten Entscheidung des Senats gehalten hat. Aus ähnlichen Erwägungen hat mit Recht bereits der Reichsfinanzhof die Anwendbarkeit des § 67 Abs. 1 Ziff. 5 AO in Fällen der vorliegenden Art verneint (Urteil II A 107/26 vom 13. April 1926, Steuer und Wirtschaft - StuW - 1926 Nr. 292).

Auch die Besorgnis der Befangenheit der mitwirkenden Richter ist nicht begründet. Der zweite Rechtsgang ist kein neues Verfahren gegenüber dem Verfahren des ersten Rechtsgangs. Beide Verfahren bilden eine Einheit. Darum sieht auch § 296 Abs. 4 AO bei Aufhebung und Zurückverweisung der Sache die Bindung an die Entscheidung im ersten Rechtsgang vor. Die Rechtslage ist in anderen Verfahrensordnungen ebenso. So bestimmt z. B. § 41 Abs. 6 der Zivilprozeßordnung (ZPO) für den Zivilprozeß, § 23 der Strafprozeßordnung für den Strafprozeß und § 54 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) für den Verwaltungsprozeß den Ausschluß eines Richters von der Ausübung des Richteramts in Sachen, in denen er früher mitgewirkt hat. Ein Grund für die Ausschließung oder Befangenheit wird dagegen nicht angenommen, wenn über eine Sache infolge einer Restitutions- oder Nichtigkeitsklage oder nach einer Zurückverweisung dasselbe Gericht oder dieselben Richter nochmals entscheiden müssen. Es wird hingewiesen auf die Entscheidungen des Reichsgerichts II 158/02 vom 24. Oktober 1902 (Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen - RGZ - Bd. 53 S. 4), I 346/34 vom 19. Juni 1935 (RGZ Bd. 148 S. 199); Urteil des Bundesgerichtshofs g. G. 4 StR 321/59 vom 11. Dezember 1959 (Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bd. 14 S. 64); ferner auf Wieczorek, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, Bd. I, § 41 Anm. C II f 2; Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 18. Auflage, Bd. I, § 41 Anm. III 6; Baumbach-Lauterbach, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 28. Auflage, § 41 Anm. 2 F; Eyermann-Fröhler, Kommentar zum Verwaltungsgerichtsgesetz, 3. Auflage, § 54 Anm. 5; Kühn, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 6. Auflage, § 67 Anm. 2; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, 2. Auflage, § 67 Anm. 2 d; Becker, Die Reichsabgabenordnung, 7. Auflage, § 47 Anm. 2; Mattern-Meßmer, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, Bem. 261. Der Senat tritt dieser Rechtsauslegung bei.

Die Bf. sind auch nicht dem gesetzlichen Richter im Sinne von Art. 101 des Grundgesetzes (GG) dadurch entzogen worden, daß der Senat im ersten Rechtsgang nicht den Großen Senat gemäß §§ 64 und 66 AO angerufen hat. Der Senat hatte keine Veranlassung, den Großen Senat anzurufen, weil er nicht bewußt von der in einer gemäß § 64 AO veröffentlichten Entscheidung niedergelegten Rechtsauffassung eines anderen Senats abweichen wollte. Im übrigen sei zur Zuständigkeit des Großen Senats das Folgende bemerkt: Die Senate des Bundesfinanzhofs haben eine Streitsache gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 AO an den Großen Senat zu verweisen, wenn sie von einer nach § 64 AO veröffentlichten Grundsatzentscheidung abweichen wollen. Ob eine Entscheidung eine solche Grundsatzentscheidung sein soll, bestimmt gemäß § 10 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Bundesfinanzhofs in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. November 1957 (Bundesanzeiger 1957 Nr. 229 S. 1, BStBl 1957 I S. 582) der jeweils erkennende Senat des Bundesfinanzhofs. In der Veröffentlichungspraxis des Bundesfinanzhofs unterscheidet man zwischen sogenannten S-Entscheidungen, U-Entscheidungen, KU-Entscheidungen und NV-Entscheidungen. Der Bundesminister der Finanzen hat gemäß § 64 AO als amtliches Publikationsorgan den Teil III des BStBl bestimmt, wo Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 64 AO zu veröffentlichen sind; sie werden durch den Buchstaben "S" als Zusatz zum Aktenzeichen besonders gekennzeichnet. In Teil III des BStBl werden allerdings auch Entscheidungen abgedruckt, die mit dem Buchstaben "U" gekennzeichnet sind. Diese Entscheidungen haben indessen nicht die bindende Kraft des § 66 Abs. 1 Satz 1 AO. Daß nur den sogenannten S-Urteilen die Bindungswirkung des § 66 Abs. 1 AO zukommt, nicht aber auch den sogenannten U-Urteilen, obwohl sie ebenfalls im BStBl veröffentlicht werden, beruht auf einer Absprache der Senate des Bundesfinanzhofs. Weil, wie dargelegt, jeder Senat selbst entscheiden muß, ob und wann er einem Urteil die Bindungswirkung des § 66 Abs. 1 AO beilegen will, können die Senate des Bundesfinanzhofs festlegen, daß ihren Urteilen nur, soweit sie als "S-Urteile" ergehen, die Bindungswirkung des § 66 Abs. 1 AO zukommen soll (vgl. Vangerow, StuW 1959 Sp. 268; Wacke, Finanzrundschau - FR - 1964 S. 4; Hartz, Beilage 11 zu Heft 25 der Zeitschrift "Der Betrieb", Jahrgang 1961, und FR 1964 S. 47; Gelhaar, Deutsche Richterzeitung 1965 S. 73). Diese Praxis der Senate des Bundesfinanzhofs verstößt nicht gegen Art. 101 Abs. 2 GG und ist auch sonst verfassungsgerecht.

Was die Sachentscheidung angeht, so könnte man daran denken, daß das Finanzgericht die Berufung im zweiten Rechtsgang als unzulässig hätte verwerfen können, nachdem der Senat den Rechtsstreit im ersten Rechtsgang sachlich bereits entschieden und die Sache an das Finanzamt nur zur technischen Steuerberechnung zurückverwiesen hatte und das Finanzamt dem nachgekommen war. Da die Bf. die dem Finanzamt vom Bundesfinanzhof aufgegebene Steuerberechnung nicht beanstanden, war an sich der Rechtsstreit sachlich durch die Steuerfestsetzung vom 5. Februar 1964 abgeschlossen.

Der Senat braucht aber zu der Frage der Zulässigkeit der Berufung im zweiten Rechtsgang nicht Stellung zu nehmen; denn auch wenn man annimmt, daß die Bf. im zweiten Rechtsgang noch sachliche Bedenken gegen die frühere Entscheidung des Senats vorbringen konnten und das Finanzgericht auf das Vorbringen eingehen mußte, war das Finanzgericht dabei doch gemäß § 296 Abs. 4 AO an die rechtliche Beurteilung des Senats in der ersten Entscheidung gebunden. Die Bindung gemäß § 296 Abs. 4 AO an die Rechtsgrundsätze im ersten Rechtsgang gilt nicht nur für die nachgeordneten Instanzen, sondern auch für den Bundesfinanzhof selbst, wenn er im zweiten Rechtsgang damit befaßt wird, sofern nicht neue Tatsachen oder Beweismittel aufgetreten sind. Es wird hingewiesen auf die Urteile des Bundesfinanzhofs IV 182/51 U vom 11. Dezember 1951 (BStBl 1952 III S. 22, Slg. Bd. 56 S. 53), V 15/60 vom 18. Januar 1962 (Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Reichsabgabenordnung, § 294, Rechtsspruch 7), I 202/61 vom 5. Juni 1962 (StRK, Reichsabgabenordnung, § 296, Rechtsspruch 37), VI 253/61 vom 30. November 1962 (StRK, Einkommensteuergesetz, § 23, Rechtsspruch 12). Neue Tatsachen oder Beweismittel sind aber hier nicht hervorgetreten. Die Bf. erstreben nur eine andere rechtliche Beurteilung als im ersten Rechtsgang. Das ist indessen nach § 296 AO nicht möglich.

 

Fundstellen

BStBl III 1965, 487

BFHE 1965, 666

BFHE 82, 666

StRK, AO:67 R 4

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