Entscheidungsstichwort (Thema)

Akteneinsicht; Überlassung der Akten in das Büro des Prozeßbevollmächtigten

 

Leitsatz (NV)

1. Hat das FG den Antrag des Prozeß bevollmächtigten auf Überlassung der Prozeßakten zur Einsichtnahme in dessen Büro abgelehnt, so ist die hiergegen vom Prozeßbevollmächtigten eingelegte Beschwerde im Zweifel als in dessen Namen eingelegt anzusehen.

2. Die Einsichtnahme in die Prozeßakten ist im Regelfall bei Gericht zu gewähren (ständige Rechtsprechung). Dieser Grundsatz schließt zwar Ausnahmen nicht aus, beschränkt sie aber auf eng begrenzte Sonderfälle.

3. Ein solcher Ausnahmefall liegt dann nicht vor, wenn Urkunden oder Vorgänge, die mit dem Streitgegenstand zusammenhängen, in den Akten nicht oder nur in geringem Umfang zu finden sind.

4. Die teilweise abweichende gesetzliche Regelung und Verfahrenspraxis in anderen Gerichtszweigen ist für die Ermessensausübung auf der Rechtsgrundlage des § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO ohne rechtliche Bedeutung (vgl. BFH-Beschluß vom 9. März 1993 VII B 214/92, BFH/NV 1993, 742).

 

Normenkette

FGO § 78 Abs. 1 S. 1

 

Tatbestand

Das klageabweisende Urteil des Finanz gerichts (FG) wurde den damaligen Prozeßbevollmächtigten des Klägers, den Steuerberatern A und B, am 23. Dezember 1996 zugestellt. In den Akten des FG ist vermerkt, daß der Steuerberater A am 17. Januar 1997 "Akteneinsicht genommen" hat. Mit Schriftsatz vom 15. Januar 1997, eingegangen beim FG am 16. Januar 1997, teilte Rechtsanwalt C (im folgenden: der Prozeßbevollmächtigte) mit, er habe die Interessenvertretung des Klägers übernommen. Er beabsichtige, gegen das Urteil Beschwerde einzulegen und bitte um kurzfristige Akteneinsicht. Unter dem 20. Januar 1997 ist in den Gerichtsakten vermerkt: "Herr RA C hat heute Akteneinsicht genommen." Mit einem der Geschäftsstelle persönlich übergebenen Schreiben vom 20. Januar 1997 trug der Prozeßbevollmächtigte vor, anläßlich der Vorsprache beim FG sei ihm die Überlassung der Gerichtsakten in sein Büro verwehrt worden; er bitte um eine rechtsmittelfähige Entscheidung des Gerichts. Den Antrag auf Überlassung der Akten in das Büro des Prozeßbevollmächtigten hat das FG durch Beschluß vom 22. Januar 1997 zurückgewiesen. Der Prozeßbevollmächtigte habe von seinem Recht, sich nach der Einsichtnahme in die Gerichtsakten Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilen zu lassen, bisher keinen Gebrauch gemacht. Die größere Bequemlichkeit bei der Anfertigung von Ablichtungen aus einer Akte in der eigenen Kanzlei rechtfertige für sich allein die Überlassung der Gerichtsakte in die Kanzlei nicht.

 

Entscheidungsgründe

Die hiergegen eingelegte zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.

1. Der Senat geht davon aus, daß der Prozeßbevollmächtigte die Beschwerde kraft eigenen Rechts eingelegt hat (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 29. September 1967 III B 31/67, BFHE 90, 312, BStBl II 1968, 82; vom 20. Februar 1991 II B 182/90, BFH/NV 1991, 696; vom 9. November 1995 XI B 174, 175/95, BFH/NV 1996, 415).

2. Die Entscheidung des FG ist mit der Beschwerde anfechtbar (§ 128 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Entscheidungen über die Art und Weise der Gewährung von Akteneinsicht sind keine prozeßleitenden, nicht mit der Beschwerde anfechtbaren Verfügungen i. S. des § 128 Abs. 2 FGO. Nach den BFH-Beschlüssen vom 8. Mai 1992 III B 175/92 (BFH/NV 1993, 175) und vom 30. November 1992 X B 147/92 (BFH/NV 1993, 665) fehlt einer Beschwerde gegen die Verweigerung der Akteneinsicht durch das FG das Rechtsschutzinteresse, wenn das FG die Instanz durch eine Entscheidung in der Sache abgeschlossen hat und wegen eines deswegen eingelegten Rechtsmittels die Akten dem BFH vorliegen. Diese Entscheidungen betrafen den Fall, daß die Kläger mit der Beschwerde klären wollten, ob dem FG insoweit "ein Verfahrensfehler im Hinblick auf eine ergangene Sachentscheidung" unterlaufen ist. Ob dies auch im Streitfall das einzige Ziel des Klägers ist, ist nach Aktenlage unklar.

3. Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet.

Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO haben die Beteiligten nur den Anspruch, die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einzusehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilen zu lassen. Die Entscheidung über die Versendung, Aushändigung oder Übersendung der Akten zum Zwecke der Einsichtnahme außerhalb des Gerichts ist dagegen eine Ermessensentscheidung (vgl. BFH-Beschluß vom 24. März 1981 VII B 64/80, BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475). Im Beschwerdeverfahren ist der BFH nicht lediglich auf eine rechtliche Überprüfung des Ermessens (§ 102 FGO) beschränkt; er kann insoweit eigenes Ermessen ausüben (vgl. BFH-Beschlüsse vom 31. August 1993 XI B 31/93, BFH/NV 1994, 187; vom 6. September 1994 IV B 96/93, BFH/NV 1995, 519, unter 2. c; vom 20. Juni 1995 X B 131/94, BFH/NV 1996, 51).

Die Einsichtnahme ist -- vor allem wegen der Gefahr des Verlustes der Akten und im Interesse einer ständigen Verfügbarkeit -- im Regelfall bei Gericht zu gewähren. Die dadurch bedingten "normalen" Unbequemlichkeiten und Zeitverluste müssen grundsätzlich hingenommen werden (ständige Rechtsprechung, ausführlich Beschluß in BFH/NV 1994, 187, 189; siehe ferner Senatsbeschlüsse vom 14. Dezember 1992 X B 70/92, BFH/NV 1994, 36; vom 20. Mai 1996 X B 139/94, BFH/NV 1996, 834, jeweils m. w. N. der Rechtsprechung). Dieser Grundsatz schließt zwar Ausnahmen nicht aus, beschränkt sie aber nach ständiger, vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gebilligter Rechtsprechung auf eng begrenzte Sonderfälle (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 1994, 187, und in BFH/NV 1995, 519; vom 16. September 1994 I B 180/93, BFH/NV 1995, 524; BVerfG-Beschluß vom 26. August 1981 2 BvR 637/81, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Finanzgerichtsordnung, § 78, Rechtsspruch 10). Ein solcher Ausnahmefall kann vorliegen, wenn die Akten, in die Einsicht genommen werden soll, außergewöhnlich umfangreich und unübersichtlich sind (vgl. BFH-Beschluß in BFH/NV 1995, 524).

Im Streitfall sind derartige oder andere Besonderheiten nicht gegeben. Die FG-Akten sind nicht umfangreich oder unübersichtlich. Sie bestehen zum weitaus überwiegenden Teil aus Unterlagen, die bereits im Besitz des Klägers oder seines Prozeßbevollmächtigten sind (Schriftverkehr mit dem FA). Ohnehin konnte der Prozeßbevollmächtigte davon ausgehen, daß Urkunden oder Vorgänge, die -- und sei es auch nur entfernt -- mit dem erstinstanzlichen Streitgegenstand zusammenhängen, in der Gerichtsakte nicht oder nur in geringem Umfang zu finden sein würden. Es war daher für den Prozeßbevollmächtigten ohne Schwierigkeiten möglich, sich innerhalb weniger Minuten über den für ein Beschwerdeverfahren bedeutsamen Akten inhalt zu informieren und die Blätter der paginierten Akten zu notieren, von denen er Kopien benötigte. Der Vortrag, nur das "Komplettkopieren wie bei Strafverteidigern üblich" gewährleiste die Möglichkeit, "Verfahrensgänge auf ihre Ordnungsmäßigkeit hin zu überprüfen", verhilft der Beschwerde nicht zum Erfolg. Die teilweise abweichende rechtliche Regelung und Verfahrenspraxis in anderen Gerichtszweigen -- insbesondere im Strafprozeß gemäß § 147 Abs. 4 der Strafprozeßordnung -- ist für die Ermessensausübung auf der Rechtsgrundlage des § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO ohne rechtliche Bedeutung (vgl. zur Regelung der Akteneinsicht in den einzelnen Verfahrensordnungen BFH-Beschluß vom 9. März 1993 VII B 214/92, BFH/NV 1993, 742).

Soweit sich der Prozeßbevollmächtigte darauf beruft, wegen des "psychischen Drucks des bevorstehenden Endes der Dienstzeit des Geschäftsstellenbeamten" sei eine sorgfältige Auswertung der Gerichtsakten nicht möglich gewesen, ist dies nicht nachvollziehbar. Er selbst räumt ein, der Geschäftsstellenbeamte habe ihm "freundlicherweise" angeboten, er werde über seinen Dienstschluß hinaus anwesend bleiben.

Die Behauptung des Prozeßbevollmächtigten, er habe am 20. Januar 1997 auch gerügt, daß die Steuerakten nicht zur Einsichtnahme vorlägen, ist nicht aktenkundig. Der schriftliche Antrag vom 20. Januar 1997 auf Entscheidung durch das Gericht bezieht sich ausschließlich auf eine Einsichtnahme in die Gerichtsakten. Das FG hat sich daher auf eine Entscheidung über die Einsicht in die Gerichtsakten beschränken können. Im übrigen liegen die Steuerakten zwischenzeitlich dem BFH vor. Dem Kläger steht es frei, sich wegen der Einsicht in diese Akten mit der Geschäftsstelle des erkennenden Senats in Verbindung zu setzen. Vorsorglich wird darauf hingewiesen, daß ein Rechtsanspruch auf Übersendung der Steuerakten in das Büro des Prozeßbevollmächtigten nicht besteht (vgl. BFH-Beschluß vom 26. Mai 1995 VI B 91/94, BFH/NV 1995, 1004).

4. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Prozeßbevollmächtigte zu tragen (§ 135 Abs. 2 FGO; vgl. Beschluß in BFH/NV 1996, 415, 416, am Ende).

 

Fundstellen

BFH/NV 1997, 787

NVwZ-RR 1998, 472

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