Entscheidungsstichwort (Thema)

Übergehen eines wesentlichen Streitpunkts

 

Leitsatz (NV)

1. Eine zulassungsfreie Revision kann nicht lediglich erfolgreich damit begründet werden, daß das angegriffene Urteil lückenhaft sei oder auf Einzelheiten des Sachverhalts, auf einzelne Tatbestandsmerkmale oder rechtliche Gesichtspunkte oder einzelne Argumente der Beteiligten nicht eingegangen sei.

2. Ein Grund für eine zulassungsfreie Revision ist aber dann gegeben, wenn das FG einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat. Der selbständige Anspruch oder das selbständige Angriffs- oder Verteidigungsmittel müssen allerdings vor dem FG geltend gemacht worden sein und einen wesentlichen Streitpunkt des Verfahrens gebildet haben.

 

Normenkette

FGO § 116 Abs. 1 Nr. 5; AO 1977 § 122 Abs. 1 S. 3, § 155 Abs. 4, § 183 Abs. 1, § 254; VwZG § 8 Abs. 1 S. 3, Abs. 2

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Erben der am 30. November 1989 verstorbenen A. Sie erteilten mit Erklärung vom 20. April 1990 bzw. 21. April 1990 ihrem jetzigen Prozeßbevollmächtigten Vertretungs- und Zustellungsvollmacht in ihren Steuerangelegenheiten.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) erließ am 22. April 1991 den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr, der an "die Erben von A, z. Hd." des jetzigen Prozeßbevollmächtigten unter dessen Anschrift adressiert war. Die Anlage zu diesem Bescheid enthielt eine Ergänzung, wonach der Bescheid an den Adressaten als Empfangsbevollmächtigten mit Wirkung für und gegen die Erben B und C ergehe.

Die Kläger erhoben gegen den Einkommensteuerbescheid Einspruch. Die Einspruchsentscheidung, die zur Verböserung der Steuerfestsetzung führte, war gerichtet an B und C als Rechtsnachfolger der A, vertreten durch ... (Name und Adresse des jetzigen Prozeßbevollmächtigten) und wurde dem Prozeßbevollmächtigten zugestellt.

Die Kläger griffen daraufhin die Steuerfestsetzung mit der Klage an. Sie machten geltend, das FA habe mit der Adressierung des Steuerbescheides an den Prozeßbevollmächtigten offenbar §155 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO 1977) vor Augen gehabt. Der Prozeßbevollmächtigte sei aber nicht Beteiligter i. S. von §155 Abs. 4 AO 1977. Auch §183 Abs. 1 AO 1977 sei nicht anwendbar, da es sich nicht um einen Feststellungsbescheid handle. Der Bescheid sei daher nicht wirksam bekanntgegeben worden. Außerdem gehe aus ihm und der Einspruchsentscheidung nicht hervor, daß sie -- die Kläger -- Gesamtschuldner seien. Anhand der Einspruchsentscheidung sei auch nicht feststellbar, ob sie sich gegen eine Erbengemeinschaft oder gegen jeden Erben persönlich richte. Außerdem gehe aus der Einspruchsentscheidung nicht hervor, für wen diese bestimmt sei. Der angegriffene Steuerbescheid und die Einspruchsentscheidung seien daher unwirksam.

Die Kläger vertraten im Klageverfahren zudem die Auffassung, daß der Steuerbescheid und die Einspruchsentscheidung auch deshalb unwirksam seien, weil sie ihnen -- den Klägern -- nicht in je einer Ausfertigung übermittelt worden seien. Denn jedem Erben sei eine Ausfertigung des nach §155 Abs. 3 AO 1977 zusammengefaßten Bescheides zu übermitteln. Die Rechtsbehelfsentscheidung sei bei mehreren Beteiligten jedem von ihnen gesondert zuzustellen. Werde die Einspruchsentscheidung, wie im Streitfall, einem Zustellungsbevollmächtigten zugestellt, so seien nach §8 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) so viele Ausfertigungen oder Abschriften zuzustellen, wie der Zustellungsbevollmächtigte Beteiligte vertrete.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, daß ein für mehrere Beteiligte bestimmter Verwaltungsakt nach §122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 auch deren gemeinsamen Bevollmächtigten bekanntgegeben werden könne. Dies sei im Streitfall geschehen. Dabei sei in dem Steuerbescheid sowohl der Inhaltsadressat als auch der Bekanntgabeadressat zutreffend bezeichnet worden. Unschädlich sei es, daß die Erben nach der verstorbenen A in der Anlage zu dem Einkommensteuerbescheid aufgeführt worden seien. Denn der Inhaltsadressat eines Verwaltungsaktes müsse nicht notwendig im Anschriftenfeld aufgeführt werden. Es genüge, wenn er sich aus dem Inhalt des Bescheides einschließlich der Gründe ergebe. Ohne Einfluß auf die wirksame Bekanntgabe des Einkommensteuerbescheides sei im übrigen, daß der Bescheid keinen ausdrücklichen Hinweis auf die Gesamtschuldnerschaft beider Kläger enthalte. Die Bezeichnung der beiden Kläger in dem Bescheid als Erben beinhalte nämlich zugleich konkludent einen Verweis auf die gesamtschuldnerische Haftung gemäß §2058 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Im übrigen gelte, daß ein Hinweis in dem Bescheid auf die Gesamtschuldnerschaft von mehreren Erben zwar nützlich, jedoch keine unverzichtbare Wirksamkeitsvoraussetzung für die Bekanntgabe von Steuerbescheiden darstelle.

Die von den Klägern gegen die Wirksamkeit der Bekanntgabe angeführten Vorschriften der §§155 Abs. 4 und 183 Abs. 1 AO 1977 seien im Streitfall nicht einschlägig. Neben dem Einkommensteuerbescheid sei auch die Einspruchsentscheidung wirksam zugestellt worden. In diesem Zusammenhang seien die gleichen Erwägungen wie bei der Bekanntgabe des Steuerbescheides maßgebend.

Das FG ließ die Revision nicht zu.

Trotz der Nichtzulassung der Revision wenden sich die Kläger mit der Revision gegen das FG-Urteil. Sie sind der Auffassung, daß die Voraussetzungen für eine zulassungsfreie Revision nach §116 Abs. 1 Nr. 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gegeben seien. Denn das Urteil des FG sei nicht mit Gründen versehen.

Zur Begründung führen die Kläger im wesentlichen an, das FG habe sich nicht mit ihrem Einwand auseinandergesetzt, daß aus dem Einkommensteuerbescheid und der Einspruchsentscheidung nicht hervorgehe, welcher Erbe die Steuern zahlen solle. Sowohl im Leistungsgebot des Steuerbescheides als auch im Leistungsgebot der Einspruchsentscheidung werde keiner der Erben als Zahlungspflichtiger angegeben. Zudem sei das FG nicht auf das Klagevorbringen eingegangen, daß sich aus dem Einkommensteuerbescheid und aus der Einspruchsentscheidung nicht ergebe, ob sie sich gegen die Erbengemeinschaft oder gegen die Kläger jeweils persönlich richteten. Das FG habe außerdem zur Begründung der Wirksamkeit der Einspruchsentscheidung nicht lediglich auf seine Ausführungen zum Steuerbescheid verweisen dürfen. Denn dem FG sei bei der Entscheidung bewußt gewesen, daß die Adressierung des Einkommensteuerbescheides und die Adressierung der Einspruchsentscheidung gegensätzlich seien. Zu den im Klageverfahren gegen die Wirksamkeit der Bekanntgabe vorgebrachten Vorschriften der §§155 Abs. 4 und 183 Abs. 1 AO 1977 habe das FG nur ausgeführt, daß diese Vorschriften nicht einschlägig seien. Weitere Ausführungen fehlten im Urteil.

Keinerlei Ausführungen enthalte das FG- Urteil zu dem Vortrag im Klageverfahren, daß jedem Erben eine Ausfertigung des nach §155 Abs. 3 AO 1977 zusammengefaßten Bescheides zu übermitteln sei. Das gleiche gelte für den Vortrag, daß die Rechtsbehelfsentscheidung jedem einzelnen Beteiligten gesondert zuzustellen sei und bei Zustellung an einen Zustellungsbevollmächtigten mehrerer Beteiligter so viele Ausfertigungen oder Abschriften zuzustellen seien, wie der Zustellungsbevollmächtigte Beteiligte vertrete.

Die Kläger beantragen sinngemäß, das Urteil des FG sowie den angegriffenen Einkommensteuerbescheid und die Einspruchsentscheidung aufzuheben, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unzulässig.

Die Kläger haben keinen wesentlichen Verfahrensmangel gemäß §116 Abs. 1 FGO schlüssig dargelegt, der zulassungsfrei die Revision begründen könnte. Denn in der Revisionsschrift sind keine Tatsachen bezeichnet, aus denen sich der Verfahrensmangel, daß die Entscheidung des FG nicht mit Gründen versehen ist, ergibt.

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) fehlen einer Entscheidung die Gründe zwar nicht nur dann, wenn die Entscheidung überhaupt nicht oder nicht rechtzeitig mit Gründen versehen worden ist. Der Revisionsgrund des §116 Abs. 1 Nr. 5 FGO ist vielmehr bereits dann gegeben, wenn das FG einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat, der selbständige Anspruch oder das selbständige Angriffs- oder Verteidigungsmittel in dem Verfahren vor dem FG geltend gemacht worden ist und es sich um einen wesentlichen Streitpunkt gehandelt hat (Beschluß des erkennenden Senats vom 12. April 1991 III R 181/90, BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638, m. w. N.). Hingegen kann eine Revision nach §116 Abs. 1 Nr. 5 FGO nicht erfolgreich lediglich damit begründet werden, daß ein Urteil lückenhaft sei oder daß das FG auf Einzelheiten des Sachverhalts, auf einzelne Tatbestandsmerkmale oder rechtliche Gesichtspunkte oder auf einzelne Argumente der Beteiligten nicht eingegangen ist (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 20. Mai 1994 VI R 10/94, BFHE 174, 391, BStBl II 1994, 707; BFH-Beschlüsse vom 9. November 1990 X R 67/89, BFH/NV 1991, 546, und vom 30. Juli 1990 V R 49/87, BFH/NV 1991, 325). Denn diese Rügen richten sich gegen die Anwendung des materiellen Rechts (BFH-Beschlüsse vom 18. Februar 1993 VI R 23/92, BFH/NV 1993, 552, und vom 9. Februar 1977 I R 136/76, BFHE 121, 298, BStBl II 1977, 351); sie bezeichnen also keinen Verfahrensmangel.

2. Nach diesen Maßstäben ist in der Revisionsbegründung kein Anspruch oder selbständiges anderes Angriffs- oder Verteidigungsmittel bezeichnet worden, das von den Klägern vor dem FG geltend gemacht worden ist, einen wesentlichen Streitpunkt gebildet und mit dem sich das FG nicht auseinandergesetzt hat.

a) Das FG hat sich eingehend mit der Frage befaßt, ob der Steuerbescheid durch die Adressierung an den Prozeßbevollmächtigten als Bekanntgabeadressaten und die zusätzliche Nennung der Inhaltsadressaten inhaltlich hinreichend bestimmt und wirksam bekanntgegeben worden ist. Es ist dabei auch näher auf die Frage der Gesamtschuldnerschaft der Kläger eingegangen. Soweit die Kläger in der Revisionsbegründung hiergegen Einwendungen geltend machen, wenden sie sich nur gegen die Richtigkeit der Auffassung des FG. Die Richtigkeit der Auffassung des FG steht im Rahmen des zulassungsfreien Revisionsverfahrens, aber grundsätzlich nicht zur Prüfung des Revisionsgerichts.

Das FG hat auch deutlich gemacht, daß es hinsichtlich der Frage der richtigen Adressierung und der inhaltlichen Bestimmtheit die Rechtslage bei der Einspruchsentscheidung nicht anders sieht als bei dem vorausgegangenen Steuerbescheid. Ob diese Sicht der Rechtslage durch das FG zutreffend ist, unterliegt wiederum nicht der Prüfung durch das Revisionsgericht in diesem Verfahren.

Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die Einwendungen der Kläger, soweit sich diese auch gegen die Wirksamkeit der Leistungsgebote im Einkommensteuerbescheid und in der Einspruchsentscheidung richten, den Streitfall nicht wirklich betrafen. Das Leistungsgebot ist ein neben der Steuerfestsetzung selbständiger Verwaltungsakt, der nach §254 AO 1977 in der Regel Voraussetzung für den Beginn der Vollstreckung ist. Selbst wenn das Leistungsgebot im Steuerbescheid oder in der Einspruchsentscheidung unwirksam wäre, würde dadurch die Wirksamkeit des Steuerbescheides und der Einspruchsentscheidung, um die es im Klageverfahren ging, nicht berührt. Das FG brauchte auf diese Einwendungen daher nicht einzugehen.

b) Der Vortrag der Kläger, das FG habe sich nicht ausreichend mit ihren Argumenten zu §155 Abs. 4 und §183 Abs. 1 AO 1977 auseinandergesetzt, ist schon deshalb nicht schlüssig, weil eine Revision nach §116 Abs. 1 Nr. 5 FGO nicht lediglich damit begründet werden kann, das FG sei auf einzelne Argumente der Beteiligten nur lückenhaft eingegangen. Im übrigen reicht die Begründung des FG, daß diese Vorschriften der AO 1977 im Streitfall nicht einschlägig seien, aus. Es liegt nämlich auf der Hand, daß es im Streitfall weder um eine Bekanntgabe bzw. Zustellung eines Bescheides an einen der beiden Kläger für oder gegen den anderen noch um die Bekanntgabe oder Zustellung eines Feststellungsbescheides geht. Wie das FG zutreffend ausgeführt hat, ist die maßgebende Vorschrift für die Bekanntgabe des Steuerbescheides im Streitfall vielmehr §122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977.

c) In Betracht kommen kann allenfalls, daß dem Urteil des FG die Begründung zu den Einwendungen der Kläger fehlt, der Einkommensteuerbescheid und die Einspruchsentscheidung hätten in zwei Ausfertigungen (für jeden Kläger eine) übermittelt werden müssen. Hierzu legen die Kläger aber nicht schlüssig dar, daß es sich dabei um ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel handelt, das vor dem FG einen wesentlichen Streitpunkt gebildet hat.

Die Kläger haben im Klageverfahren nach ihrem eigenen Vortrag nur Argumente zu einer Bekanntgabe des Steuerbescheides an sie selbst geltend gemacht und für diesen Fall die Übermittlung von zwei Ausfertigungen für erforderlich gehalten. Bei der Zustellung der Einspruchsentscheidung haben sie sich darauf berufen, daß §8 Abs. 2 VwZG bei Zustellung an einen Zustellungsvertreter die Übermittlung von Ausfertigungen für jeden der Vertretenen erfordert. Das FG hat demgegenüber im Sachverhalt des Urteils ausdrücklich festgestellt, daß der Prozeßbevollmächtigte der Kläger nicht bloßer Zustellungsvertreter, sondern umfassender Vertreter für die Steuerangelegenheiten der Kläger war. In einem solchen Fall genügt nach §8 Abs. 1 Satz 3 VwZG die Zustellung nur einer Ausfertigung. Ebenso ist das FG offensichtlich davon ausgegangen, daß auch im Falle der bloßen Bekanntgabe (hier des Steuerbescheides) nach §122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 die Übermittlung nur einer Ausfertigung an den Bevollmächtigten genügt (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 9. August 1991 III R 169/90, BFH/NV 1992, 433, und Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 5. Aufl., §122 Anm. 2 b, m. w. N.). Die Kläger tragen nicht vor, daß sie sich im Klageverfahren mit dieser Rechtslage auseinandergesetzt und geltend gemacht hätten, daß danach auch im Falle einer Bekanntgabe oder Zustellung an ihren gemeinsamen Bevollmächtigten die Übermittlung von zwei Ausfertigungen erforderlich gewesen wäre. Sie gehen auf diese Rechtslage auch in der Revisionsbegründung mit keinem Wort ein. Die Ausführungen der Kläger im Klageverfahren zur Zahl der erforderlichen Ausfertigungen für die Bekanntgabe oder Zustellung lagen daher neben der Sache, so daß das FG nicht ausdrücklich darauf eingehen mußte.

 

Fundstellen

Haufe-Index 67041

BFH/NV 1998, 975

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