Entscheidungsstichwort (Thema)

Nicht mit Gründen versehene Entscheidung gegenüber Verletzung des rechtlichen Gehörs

 

Leitsatz (NV)

Eine Entscheidung ist nicht schon deshalb ,,nicht mit Gründen versehen" i.S. von § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO, weil das FG sich nicht mit sämtlichen rechtlichen Argumenten eines Beteiligten auseinandergesetzt hat.

 

Normenkette

FGO § 116 Abs. 1 Nr. 5

 

Verfahrensgang

Niedersächsisches FG (Urteil vom 18.03.1986; Aktenzeichen V 282/85)

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 25.06.1992; Aktenzeichen 1 BvR 514/88)

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) werden als Ehegatten zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Ehemann ist seit 1975 Vorstandsmitglied der D AG. Die AG, die nicht kraft Gesetzes verpflichtet ist, für den Kläger Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung zu entrichten (vgl. § 3 Abs. 1 a des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -, § 405 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), leistete im Streitjahr 1983 aufgrund arbeitsvertraglicher Vereinbarung als Zuschuß für die freiwillige Weiterversicherung des Klägers in der gesetzlichen Rentenversicherung 5 450 DM und zur freiwilligen Krankenversicherung in der . . . Ersatzkasse 2 754 DM. Mit der Einkommensteuererklärung beantragten die Kläger, den Zuschuß von 8 204 DM, der 50 v.H. der Gesamtaufwendungen für die Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung betragen habe, gemäß § 3 Nr. 62 des Einkommensteuergesetzes (EStG) steuerfrei zu belassen. Diese Vorschrift sei, soweit sie Vorstandsmitglieder von AG diskriminiere, verfassungswidrig und damit nichtig. Da der Kläger Arbeitnehmer im steuerrechtlichen Sinne sei, gebiete Art. 3 des Grundgesetzes (GG), ihn auch hinsichtlich der Steuerbefreiung des § 3 Nr. 62 EStG wie andere Arbeitnehmer zu behandeln. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) besteuerte zwar den Zuschuß, berücksichtigte ihn aber bei den Sonderausgaben.

Nach erfolglosem Einspruch verfolgten die Kläger ihr Begehren - Steuerfreiheit des Zuschusses - vor dem Finanzgericht (FG) weiter. Sie machten ausdrücklich nicht die Verfassungswidrigkeit des § 3 Abs. 1 a AVG und § 405 RVO, wohl aber des § 3 Nr. 62 EStG geltend, weil danach entgegen Art. 3 GG Zuschüsse einer AG für die Zukunftssicherung ihrer Vorstandsmitglieder in Form freiwilliger Leistungen von Arbeitgeberanteilen zur gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung von der Steuerfreiheit ausgenommen seien.

Das FG wies die Klage ab. Es führte aus, die Tatsache, daß sich die Steuerbefreiung des § 3 Nr. 62 EStG nicht auch auf freiwillige Zuschüsse an Vorstandsmitglieder von AG erstrecke, sei sachgerecht und nicht willkürlich. Denn dieselben Gründe, die es rechtfertigten, bestimmte Personengruppen nicht als Arbeitnehmer im sozialrechtlichen Sinne anzusehen, rechtfertigten es auch, die Zukunftssicherungsleistungen der Arbeitgeber, die auf vertraglicher und nicht auf gesetzlicher Verpflichtung beruhen, der Einkommensteuer zu unterwerfen. Dem betroffenen Personenkreis, der wegen seiner besonderen Stellung vom Gesetzgeber bewußt nicht vollständig den Arbeitnehmern gleichgestellt worden sei, bleibe es unbenommen, in der arbeitsvertraglichen Regelung auch die steuerliche Belastung zu berücksichtigen.

Gegen das Urteil des FG haben die Kläger gleichzeitig Revision, über die im vorliegenden Verfahren zu befinden ist, und Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision eingelegt, die beim Senat unter dem Az. VI B 58/86 anhängig ist.

Mit der Revision rügen die Kläger als wesentlichen Verfahrensmangel, daß die angegriffene Entscheidung nicht mit Gründen versehen sei (§ 116 Abs. 1 Nr. 5 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Des weiteren machen sie die Verletzung materiellen Rechts (§ 9 Abs. 1 Satz 1 EStG, Art. 3 und 20 GG) geltend.

Eine Entscheidung sei ,,nicht mit Gründen versehen", wenn sie auf einzelne Ansprüche oder selbständige Angriffsmittel nicht eingehe bzw. vorhandene Gründe entweder ganz unverständlich oder verworren seien, so daß sie nicht erkennen ließen, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgeblich gewesen seien oder wenn die Gründe nur inhaltslose und floskelhafte Wendungen enthielten. Das sei der Fall, wenn sich das Gericht zu einer von einem Beteiligten aufgeworfenen, eingehend dargelegten und für die Entscheidung erheblichen Rechtsfrage allein mit der ,,Feststellung" begnüge, daß es anderer Auffassung sei (Beschluß des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 21. Dezember 1962 I ZB 27/62, BGHZ 39, 333; Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 7. Dezember 1965 10 RV 405/65, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1966, 530; Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 15. Februar 1967 IV B 18/66, BFHE 87, 502, BStBl III 1967, 181 und Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 18. Februar 1981 6 C 159/80, BVerwGE 61, 365).

Eine Begründung enthalte nur Satz 8 der Entscheidungsgründe, wo es heiße: ,,Dieselben Gründe, die es rechtfertigen, bestimmte Personen nicht als Arbeitnehmer im sozialrechtlichen Sinne anzusehen, rechtfertigen es auch, die Zukunftssicherungsleistungen der Arbeitgeber, die auf vertraglicher und nicht auf gesetzlicher Grundlage beruhen, der Einkommensteuer zu unterwerfen." Dieser Satz sei im Hinblick auf die mit der Klage näher dargelegte Ratio des § 3 Nr. 62 EStG absolut inhaltslos, zumal das FG die Gründe der sozialrechtlichen Regelung nicht nenne. Wie in der Klage dargelegt worden sei, bestehe bei typisierender Betrachtungsweise zwar kein Anlaß, Vorstandsmitglieder von AG der Rentenversicherungspflicht zu unterwerfen. Da sie dieser Versicherung aber freiwillig beitreten könnten, liege insofern keine Diskriminierung vor. Deshalb könnten sozialversicherungsrechtliche Gründe eine steuerrechtliche Differenzierung unmöglich rechtfertigen. Nicht eingegangen sei das FG ferner auf den Vortrag, daß § 3 Nr. 62 Satz 2 EStG nicht nur Beiträge, die der Arbeitgeber kraft Gesetzes schulde, sondern auch bestimmte freiwillig geleistete Beiträge von der Steuerpflicht befreie, daß § 405 RVO seinem Charakter nach eine arbeitsrechtliche und nicht eine sozialrechtliche Regelung enthalte, und daß § 3 Nr. 62 EStG - wie seine Entstehungsgeschichte zeige - in seiner Begründung und Zielsetzung einen Wandel erfahren habe: Die Regelung bezwecke seit 1971, grundsätzlich allen Arbeitnehmern aus sozialen Gründen den Vorteil steuerfreier Beitragsbeteiligung durch den Arbeitgeber zukommen zu lassen. Zur Rentenversicherung habe das bis Juli 1969 und zur Krankenversicherung bis Ende 1970 auch für Vorstandsmitglieder gegolten, wobei Vorstandsmitglieder, die von der Änderung zum 30. Juli 1969 betroffen worden seien, auch mit steuerrechtlicher Wirkung zur Pflichtversicherung hätten optieren können. Das FG habe sich nicht mit den Ausführungen auseinandergesetzt, daß dadurch unter den Vorstandsmitgliedern eine Ungleichbehandlung bestehe, daß innerhalb der Gruppe der Vorstandsmitglieder große Einkommensunterschiede beständen, die einer einheitlichen Behandlung aller Vorstandsmitglieder entgegenständen, und daß die häufig überdurchschnittlichen Einkommensverhältnisse der Organvertreter von Gesellschaften in anderer Rechtsform (z.B. GmbH) eine Schlechterstellung nur der Vorstandsmitglieder von AG willkürlich erscheinen lasse. Bezeichnenderweise fehle jede Stellungnahme des FG zu den näher abgehandelten, Art. 3 GG betreffenden Stichworten ,,Willkürverbot, Steuergerechtigkeit und Systemwidrigkeit".

Die Kläger beantragen, das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) darüber einzuholen, ob § 3 Nr. 62 EStG insoweit mit Art. 3 GG vereinbar ist, als diese Vorschrift Ausgaben einer AG für die Zukunftssicherung ihrer Vorstandsmitglieder in Form der freiwilligen Leistung von Arbeitgeberanteilen zur gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung grundsätzlich von der Steuerfreiheit ausnehme und die Einkommensteuer im angefochtenen Bescheid auf . . . DM herabzusetzen, hilfsweise, Arbeitgeberbeiträge zur Rentenversicherung in Höhe von 5 450 DM als Werbungskosten zu berücksichtigen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Es ist der Auffassung, ein Verfahrensmangel i.S. von § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO liege nicht vor, wenn - wie im angefochtenen Urteil - eine Begründung zwar vorhanden sei, diese aber ggf. ungenügend oder nicht überzeugend sei, etwa bei unvollständiger Würdigung des Vorbringens der Beteiligten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht zulässig.

Sofern die Revision nicht zugelassen wird, ist sie nur statthaft, wenn ein Verfahrensmangel i.S. des § 116 Abs. 1 FGO schlüssig gerügt wird. Der erkennende Senat hat die Revision mit Beschluß . . . nicht zugelassen. Der geltend gemachte Verfahrensmangel, die angefochtene Entscheidung sei nicht mit Gründen versehen (§ 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO), liegt nicht vor.

1. Nach ständiger Rechtsprechung ist dieser Mangel des Verfahrens nur gegeben, wenn das FG seine Entscheidung überhaupt nicht begründet oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat. Das ist der Fall, wenn nicht erkennbar ist, welcher Sachverhalt der Entscheidung zugrunde liegt bzw. auf welche rechtlichen Erwägungen sich die Entscheidung stützt (BFH-Urteil vom 23. Januar 1985 I R 292/81, BFHE 143, 325, BStBl II 1985, 417; Beschluß vom 13. August 1986 VI R 152/85, BFH/NV 1987, 50). Dagegen fällt eine lückenhafte Begründung des finanzgerichtlichen Urteils nicht unter § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO (BFH-Beschluß vom 2. Juli 1986 IX R 166/85, BFH/NV 1987, 39). Das FG braucht sich nicht mit jeder rechtlichen Erwägung auseinanderzusetzen, die ein Beteiligter vorbringt, um den Einwand zu vermeiden, die Entscheidung sei nicht im Sinne des Gesetzes mit Gründen versehen (BFH-Beschluß vom 2. Februar 1987 III R 131/86, BFH/NV 1987, 311). Auch bei einer ggf. unvollständigen, unzureichenden oder sonst fehlerhaften Begründung liegt keine ,,nicht mit Gründen versehene Entscheidung" i.S. von § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO vor (BFH-Beschlüsse vom 22. April 1986 III R 176/85, BFH/NV 1987, 95, und vom 26. März 1987 V R 8/87, BFH/NV 1987, 789).

Nimmt das FG Anträge und Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten erkennbar überhaupt nicht zur Kenntnis oder zieht es diese bei der Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung - wobei nicht jedes Vorbringen ausdrücklich verbeschieden werden muß -, kann eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) vorliegen (BVerfG-Beschlüsse vom 1. Februar 1978 1 BvR 426/77, BVerfGE 47, 182, und vom 22. November 1983 2 BvR 399/81, BVerfGE 65, 293; BFH-Urteil vom 7. Mai 1987 IV R 125/86, BFHE 150, 22, BStBl II 1987, 530). Ein derartiger Mangel ist mit der Nichtzulassungsbeschwerde (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 3 Satz 3 FGO) zu rügen und führt nicht gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO zur zulassungsfreien Revision (BFH-Urteil vom 29. November 1985 VI R 13/82, BFHE 145, 125, BStBl II 1986, 187).

2. Das angefochtene Urteil ist i.S. von § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO mit Gründen versehen.

a) Entgegen der Auffassung der Kläger enthält das Urteil des FG zur Frage der Verfassungswidrigkeit des § 3 Nr. 62 EStG nicht lediglich inhaltslose oder unverständliche Wendungen, die nicht erkennen lassen, von welchen Erwägungen das Gericht ausgegangen ist und die eine Überprüfung des Rechtsstandpunkts des Gerichts nicht ermöglichen.

Das FG hat die angesprochene Regelung für nicht willkürlich und deshalb mit Art. 3 Abs. 1 GG für vereinbar gehalten, weil die Gründe, die dazu geführt hätten, Vorstandsmitglieder von AG nicht der Sozialversicherung zu unterwerfen, auch rechtfertigten, ihnen die Steuerfreiheit des § 3 Nr. 62 EStG zu versagen. Es liegt auf der Hand, daß damit das von den Klägern in der Klagebegründung (S. 13 Nr. 4) selbst angesprochene mangelnde soziale Schutz- und Sicherungsbedürfnis von Vorstandsmitgliedern (vgl. hierzu BSG-Urteile vom 18. September 1973 12 RK 5/73, BSGE 36, 164; vom 4. September 1979 7 RAr 57/78, Sozialrecht - SozR - Nr. 10 zu § 168 des Arbeitsförderungsgesetzes - AFG -; vom 27. März 1980 12 RAr 1/79, SozR Nr. 4 zu § 3 AVG, und vom 11. April 1984 12 RK 45/83, SozR Nr. 17 zu § 168 AFG) gemeint war. Daß sich das FG mit den erstinstanzlichen Einzelbegründungen der Kläger, die in der Revisionsbegründung dargelegt wurden, nicht auseinandergesetzt hat, macht seine Entscheidung nicht i.S. von § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO unbegründet, da der die Rechtsauffassung des Gerichts tragende Gesichtspunkt noch zu erkennen ist.

b) Mit dem Vortrag, daß Versicherungsbeiträge vorweggenommene Werbungskosten sein könnten (vgl. dazu BFH-Urteil vom 29. Juli 1986 IX R 206/84, BFHE 147, 176, BStBl II 1986, 747; BVerfG-Beschluß vom 30. Dezember 1986 1 BvR 1053/86, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Einkommensteuergesetz ab 1975, § 9 Abs. 1, Rechtsspruch 62), haben die Kläger ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel in das Verfahren eingebracht (BFH-Urteil vom 10. März 1987 IX R 51/86, BFH/NV 88, 35). Diesen Rechtsaspekt hat das FG indessen nicht übergangen, weil er vor dem FG noch nicht vorgebracht worden war. In den Entscheidungsgründen mußte die Rechtmäßigkeit des angegriffenen Steuerbescheides nicht unter allen denkbaren, auch fernliegenden rechtlichen Gesichtspunkten abgehandelt werden. Insofern ist von den Klägern § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO zu Recht auch nicht gerügt worden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 415597

BFH/NV 1988, 583

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