Die Vorschrift des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO begründet eine "absolute Anpassungsverpflichtung". Für eine selbstständige steuerrechtliche Würdigung der im Grundlagenbescheid bindend festgestellten Besteuerungsgrundlagen durch das für den Erlass des Folgebescheids zuständige Finanzamt ist demnach kein Raum, und zwar unabhängig davon, ob der Grundlagenbescheid rechtmäßig oder rechtswidrig ist.

 
Praxis-Beispiel

Bescheinigung über Behinderung

S erhält vom Gesundheitsamt eine – rückwirkende – Bescheinigung über die Erhöhung des Grads der Behinderung (Grundlagenbescheid einer ressortfremden Behörde) erst nach Ergehen des Einkommensteuerbescheids. Dieser ist gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO entsprechend zu korrigieren, unabhängig davon, ob die Bescheinigung inhaltlich zutrifft.[1]

Diese Grundsätze bedeuten aber auch, dass Entscheidungen in einem Grundlagenbescheid nur durch Anfechtung dieses Bescheids[2], nicht auch durch Anfechtung des Folgebescheids, angegriffen werden können.[3] Demzufolge muss, soweit die Vollziehung eines Grundlagenbescheids ausgesetzt wird, auch die Vollziehung des Folgebescheids ausgesetzt[4] werden.[5]

Voraussetzung für die in § 182 AO angeordnete Bindungswirkung und die in § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO angeordnete Anpassungspflicht ist allerdings die rechtswirksame Bekanntgabe des Grundlagenbescheids. Das ist der Fall, wenn er ordnungsgemäß adressiert und bekannt gegeben wurde und wenn er nicht nichtig ist. Die Entscheidung dieser Frage fällt daher, ungeachtet des § 351 Abs. 2 AO, in die Prüfungskompetenz des für den Folgebescheid zuständigen Finanzamts bzw. ggf. des Finanzgerichts, das über den Folgebescheid zu befinden hat.[6] Fehlt es an einem Grundlagenbescheid – sei es mangels Bekanntgabe oder sei es wegen Nichtigkeit – führt dies nicht zur Nichtigkeit eines darauf beruhenden Folgebescheids. Verstöße gegen die Bindungswirkung begründen nur die Anfechtbarkeit des Folgebescheids. Zu dessen Beseitigung bedarf es eigentlich der Einlegung eines Einspruchs.

Wurde ein unwirksamer Grundlagenbescheid in einem Folgebescheid ausgewertet und Letzterer nicht mit dem Einspruch angefochten, ist es für eine Beseitigung dieser Auswertung nicht zu spät. Der bestandskräftige (rechtswidrige, aber nicht angefochtene) Folgebescheid ist nämlich nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO zu ändern, wenn das "Grundlagen-Finanzamt" den unwirksamen Grundlagenbescheid zur Beseitigung des Rechtsscheins ausdrücklich und ersatzlos aufhebt oder durch Verwaltungsakt dessen Nichtigkeit feststellt.[7] Gleiches gilt, wenn das "Grundlagen-Finanzamt" den unwirksamen Grundlagenbescheid zwar nicht ausdrücklich aufhebt, aber im Rahmen eines Einspruchsverfahrens gegen den Grundlagenbescheid unter Hinweis auf dessen Unwirksamkeit dem Begehren des Einspruchsführers entspricht.[8]

§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist auch dann anzuwenden, wenn die Bindungswirkung eines Grundlagenbescheids sich nicht auf sämtliche Tatbestandsmerkmale einer steuerrechtlichen Vorschrift erstreckt. Wird die in § 7i Abs. 2 EStG vorgesehene Bescheinigung der Denkmalbehörde erst nach Bestandskraft des ESt-Bescheids vorgelegt, hat das Finanzamt in Ermittlungen einzutreten, ob die nicht von der Bindungswirkung des Grundlagenbescheids erfassten Tatbestandsmerkmale des § 7i Abs. 1 EStG erfüllt sind.[9]

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