Tz. 16

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Bindung des FG an die rechtliche Beurteilung der Sache durch den BFH (§ 126 Abs. 5 FGO) soll ausschließen, dass es zu einem Hin- und Her zwischen den Instanzen kommt. Zudem wird dadurch die Funktion des Rechtsmittelgerichts gestärkt, für die einheitliche Rechtsanwendung zu sorgen. Die Bindungswirkung dient auch dem Interesse des Individualrechtsschutzes, da es dem vormaligen Revisionskläger das Risiko erspart, dass das FG seine vom BFH verworfene Rechtsauffassung beibehält. Es wäre mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar, wenn die Ausgangsinstanz die Rechtsansicht der Revisionsinstanz verwerfen könnte. Die Bindungswirkung entsteht auch, wenn der BFH den Rechtsstreit durch Beschluss nach § 116 Abs. 6 FGO an das FG zurückverwiesen hat. Berücksichtigt das FG die Bindungswirkung nicht, kann dies im Rahmen eines gegen die neue Entscheidung gerichteten Rechtsmittels als Verfahrensmangel zur erneuten Aufhebung des Urteils führen (BFH v. 08.01.1998, VII B 102/97, BFH/NV 1998, 729; BFH v. 24.05.2011, X B 206/10, BFH/NV 2011, 1527 m. w. N.; BFH v. 22.12.2011, XI B 21/11, BFH/NV 2012, 813). Die Bindung betrifft aber nur den konkreten zur Entscheidung anstehenden Fall. Eine Entscheidung des BFH kann also keine allgemeinverbindliche Wirkung entfalten; gleichwohl entfalten BFH-Entscheidungen im Hinblick auf ihre Präzedenzwirkung in der Praxis erhebliche Breitenwirkung.

 

Tz. 17

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Da die rechtliche Beurteilung durch den BFH auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des FG erfolgt, setzt die Bindungswirkung voraus, dass der zu beurteilende Tatbestand im zweiten Rechtsgang unverändert ist, also nicht aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel eine neue Entscheidungsgrundlage entstanden ist. Der "neue" Sachverhalt kann vom FG erneut beurteilt und gewürdigt werden. Dies ist vor allem dann von Bedeutung, wenn das FG bei einem zurückverwiesenen Rechtsstreit vom BFH für erforderlich gehaltene Sachverhaltsermittlungen durchgeführt hat (BFH v. 21.03.2013, VI B 155/12, BFH/NV 2013, 1103). Eine Änderung des Sachverhalts, die für die Entscheidung nicht erhebliche Umstände betrifft, berührt die Bindung jedoch nicht (BFH v. 08.08.2007, VI B 85/06, BFH/NV 2007, 2138). Von diesen Ausnahmefällen abgesehen hat das FG den Rechtsausführungen des BFH zu entsprechen und zwar selbst dann, wenn die Auffassung des BFH objektiv auf einem Rechtsirrtum beruht (BFH v. 30.05.2017, IV B 20/17, BFH/NV 2017, 1188).

 

Tz. 18

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Der Umfang der Bindungswirkung wird weit verstanden. Sie umfasst nicht nur den für die Zurückverweisung ausschlaggebenden Grund, sondern alle Rechtsausführungen des BFH über die dieser abschließend entschieden hat (BFH v. 01.03.1994, IV B 6/93, BStBl II 1994, 569; BFH v. 10.02.2011, XI B 98/10, BFH/NV 2011, 864). Die Bindung erstreckt sich also auch auf die anlässlich der Zurückverweisung vom BFH vertretene rechtliche Beurteilung (BFH v. 17.09.1992, IV R 78/90, BFH/NV 1993, 398). Sie besteht auch hinsichtlich der Gründe, welche der bei der Aufhebung der Vorentscheidung ausgesprochenen Rechtsauffassung logisch vorausgehen, z. B. wegen der bei einer Zurückverweisung vorgängig zu prüfenden (s. BFH v. 13.12.1984, IV R 274/83, BStBl II 1985, 367) unverzichtbaren Prozessvoraussetzungen, wie Beteiligtenfähigkeit, Prozessfähigkeit, Ordnungsmäßigkeit der Klageerhebung usw. (BFH v. 29.04.1993, IV R 26/92, BStBl II 1993, 720) oder in Bezug auf implizite Bejahung der subjektiven Steuerpflicht des Klägers (BFH v. 25.06.1975, I R 78/73, BStBl II 1976, 42). Bei Zurückverweisung wegen mangelnder Sachaufklärung muss das Finanzgericht weiter aufklären, auch wenn es das aus irgendwelchen Gründen nicht für angezeigt hält. Die Bindungswirkung erstreckt sich auch auf verfassungsrechtliche Fragen, die für die Entscheidung maßgebend waren. Bejaht der BFH die Verfassungsmäßigkeit der streitentscheidenden Norm, ist das FG an diese Beurteilung gebunden. Dazu ist nicht erforderlich, dass der BFH die Norm ausdrücklich für verfassungsgemäß erklärt; eine stillschweigende Billigung reicht aus. Es genügt, dass der BFH die betreffende Norm seiner Entscheidung zugrunde legt. Die Bindungswirkung erstreckt sich auch auf die Auslegung des BFH von Gemeinschaftsrecht; allerdings hat der EuGH es gleichwohl für zulässig gehalten, dass das FG im zweiten Rechtsgang den EuGH nach Art. 234 EGV/Art. 267 Abs. 2 AEUV (vormals Art. 177 EWGV a. F.) um eine Vorabentscheidung ersucht (EuGH v. 21.02.1974, 162/73, EuGHE 1974, 201; zustimmend Seer in Tipke/Kruse, § 126 FGO Rz. 80 ff.; zur Kritik Ruban in Gräber, § 126 FGO Rz. 23). U. E. ist die Einschränkung der Bindungswirkung nicht durch den prinzipiellen Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts geboten.

 

Tz. 19

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Bindung erstreckt sich nicht auf beiläufig geäußerte Rechtsansichten des BFH, die nicht in unmittelbaren Zusammenhang mit der Zurückverweisungsentscheidung stehen, oder auf sog. Hinw...

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