Rz. 27

[Autor/Stand] Verhältnis zu § 50d Abs. 3 EStG: Subsidiarität des allgemeinen Grundsatzes. Ist der allgemeine Grundsatz des Missbrauchsverbots neben nicht abschließenden Missbrauchsvermeidungsklauseln in Richtlinien anwendbar (vgl. dazu Rz. 25), stellt sich aber noch die Frage, ob er auch dann noch von mitgliedstaatlichen Stellen unmittelbar anzuwenden ist, wenn die Missbrauchsklausel einer Richtlinie tatsächlich in nationales Recht umgesetzt wurde, wie im deutschen Recht durch § 50d Abs. 3 EStG geschehen. Es stellt sich konkret die Frage, ob das Vorhandensein einer nationalen Missbrauchsvermeidungsnorm die unmittelbare Anwendbarkeit des allgemeinen Grundsatzes des Missbrauchsverbots ausschließt. Dies ist etwa dafür relevant, ob die Finanzbehörden bzw. Gerichte zur Versagung eines im Unionsrecht vorgesehenen Steuervorteils statt § 50d Abs. 3 EStG auch unmittelbar den allgemeinen Grundsatz des Missbrauchsverbots mit Anwendungsvorrang anwenden können oder sogar müssen. Ausgangspunkt der Überlegungen muss sein, dass sekundärrechtliche Normen als konkretisierte Rechtsquelle im Verhältnis zum Primärrecht (d.h. auch allgemeinen Grundsätzen) grundsätzlich vorrangig anzuwenden sind (vgl. Rz. 11).[2] Bedürfen diese sekundärrechtlichen Normen (insb. Richtlinien) zu ihrer innerstaatlichen Wirkung der Umsetzung durch nationales Recht, so sollte dieser Anwendungsvorrang der sekundärrechtlichen Norm auch auf ihre nationale Umsetzungsnorm ausstrahlen, die als solche lediglich ein (notwendiges) Spiegelbild der sekundärrechtlichen (Richtlinien-)Norm darstellt. Daraus folgt, dass auch die nationale Umsetzungsnorm einer Richtlinienbestimmung im Verhältnis zum allgemeinen Grundsatz des Missbrauchsverbots grundsätzlich vorrangig anzuwenden und ein unmittelbarer Rückgriff auf den allgemeinen Grundsatz insoweit ausgeschlossen ist. Dies entspricht auch der Funktion allgemeiner (Rechts-)Grundsätze, die primär als Auslegungsmaßstäbe und in Form unmittelbar anwendbarer Normen (nur) als (subsidiäre) "Lückenfüller" fungieren.[3] Besteht aber keine Lücke bei der Missbrauchsbekämpfung, weil es eine nationale Norm gibt, mit der Missbrauch effektiv bekämpft werden kann, bedarf es auch des allgemeinen Grundsatzes des Missbrauchsverbots nicht. Der allgemeine Grundsatz ist insoweit nur subsidiär unmittelbar anwendbar.[4] In diesem Sinne stellt auch der EuGH für die nationale Missbrauchsvermeidung – in einem ersten Schritt – vorrangig auf die (den allgemeinen Grundsatz des Missbrauchsverbots widerspiegelnde[5]) Missbrauchsvermeidungsklausel der Richtlinie ab und verpflichtet das nationale Gericht, sein nationales Recht so weit wie möglich im Einklang mit dieser Richtlinienbestimmung auszulegen (Vorrangigkeit der unions- bzw. richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts).[6] Erst wenn das nationale Recht keine solche Umsetzungsnorm[7] enthält oder eine vorhandene Umsetzungsnorm nicht unions- bzw. richtlinienkonform ausgelegt werden kann, greift – in einem zweiten Schritt – der allgemeine Grundsatz des Missbrauchsverbots.[8] Gerade die letzte Fallgruppe war Gegenstand der Vorlagefragen in den Danish Cases[9] und weiterer Leitentscheidungen[10] zum primärrechtlichen Grundsatz des Missbrauchsverbots, deren Beantwortung vor diesem Hintergrund auch interpretiert werden muss. Eine weitere Frage ist die, ob der allgemeine Grundsatz auch dann noch subsidiär anwendbar ist, wenn die Missbrauchsklausel der Richtlinie in ihrem Anwendungsbereich den Missbrauch abschließend konkretisiert. Darüber hatte der EuGH in den Danish Cases nicht zu entscheiden, da er die jeweiligen Missbrauchsklauseln (insb. Art. 1 Abs. 2 ff. MTR, Art. 5 ZLR) nicht als abschließend beurteilte. Man wird jedoch wohl davon ausgehen können, dass der EuGH entsprechend seinen Grundsätzen in der Rs. Kücükdeveci[11] den allgemeinen Grundsatz aufgrund seines primärrechtlichen Rangs – in dem oben dargestellten zweiten Schritt – weiterhin, aber mit seinem sekundärrechtlich konkretisierten Inhalt für unmittelbar anwendbar halten wird (vgl. Rz. 25).

 

Rz. 27.1

[Autor/Stand] Aber: Fortwährende Funktion als Auslegungsmaßstab. Auch wenn der allgemeine Grundsatz des Missbrauchsverbots grundsätzlich nicht neben § 50d Abs. 3 EStG unmittelbar anwendbar ist, kommt ihm dennoch eine mittelbare Bedeutung als Auslegungsmaßstab zu[13]: Die Missbrauchsklauseln in Richtlinien sind im Lichte des allgemeinen Grundsatzes des Missbrauchsverbots primärrechtskonform auszulegen, soweit der Unionsgesetzgeber hiervon nicht in erkennbarer und zulässiger Weise abweichen wollte. Über das Gebot richtlinienkonformer Auslegung wirkt der Inhalt des allgemeinen Grundsatzes des Missbrauchsverbots schließlich mittelbar[14] auch auf die Auslegung des § 50d Abs. 3 EStG.

 

Rz. 27.2

[Autor/Stand] Zudem: Koordinierungsfunktion des allgemeinen Grundsatzes. Als subsidiär unmittelbar anwendbare Schranke der Rechtsausübung (vgl. Rz. 27) sowie als einheitlicher (vgl. Rz. 26) Auslegungsmaßstab für Missbrauchsvermeidungsnormen in Ric...

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