Rz. 22

[Autor/Stand] Hintergrund. Mit seinen beiden Urteilen vom 26.2.2019 in den Rs. T Danmark u.a.[2] und N Luxembourg u.a.[3] (sog. Danish Cases) hat der EuGH in Fortführung seiner ständigen Rechtsprechung insbesondere zu den indirekten Steuern[4] auch im Bereich des direkten Steuerrechts das Missbrauchsverbot als primärrechtlichen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts anerkannt.[5] Danach gelte "nach ständiger Rechtsprechung [...] im Unionsrecht der allgemeine Grundsatz, dass man sich nicht betrügerisch oder missbräuchlich auf das Unionsrecht berufen kann."[6] Aus diesem Grundsatz folgt für den Mitgliedstaat die zwingend zu befolgende Verpflichtung, gegenüber dem Steuerpflichtigen die vorteilsgewährende Unionsrechtsnorm nicht anzuwenden bzw. die Rechte und Vorteile aus dieser Unionsrechtsnorm zu verweigern, soweit diese vom Steuerpflichtigen betrügerisch oder missbräuchlich geltend gemacht werden (s. zu den Tatbestandsvoraussetzungen des Missbrauchs Rz. 28 ff.; zu den Rechtsfolgen Rz. 44).[7]

 

Rz. 23

[Autor/Stand] Bedeutung. Für § 50d Abs. 3 EStG hat der allgemeine Grundsatz des Missbrauchsverbots jedenfalls aus Sicht des rechtsschutzsuchenden Steuerpflichtigen keine unmittelbare Bedeutung. Der primärrechtliche allgemeine Grundsatz des Missbrauchsverbots ist zwar selbst (subsidiär neben § 50d Abs. 3 EStG, vgl. Rz. 27) unmittelbar anwendbar und nicht auf eine Umsetzung durch nationales Recht angewiesen. Er ist inhaltlich aber nur auf eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten (und ggf. der Steuerpflichtigen[9]) gerichtet und enthält selbst kein (begünstigendes) Recht des Steuerpflichtigen, das er der Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG unmittelbar entgegenhalten könnte, wenn dieser dem allgemeinen Grundsatz des Missbrauchsverbots inhaltlich widersprechen sollte. Denkbar erscheint allenfalls ein Verstoß gegen die Loyalitätspflicht des Art. 4 Abs. 3 EUV. Es bleibt aber eine mittelbare Bedeutung des allgemeinen Grundsatzes des Missbrauchsverbots als Auslegungsmaßstab: Zum einen für den (einheitlichen, vgl. Rz. 26) Missbrauchsbegriff bzw. die primärrechtskonforme Auslegung von Missbrauchsvermeidungsnormen im Sekundärrecht und zum anderen auch für die (unionsrechtskonforme) Auslegung des § 50d Abs. 3 EStG (vgl. näher Rz. 27.1). Dadurch kommt dem allgemeinen Grundsatz des Missbrauchsverbots eine Art Koordinierungsfunktion für die unionsrechtlich zulässige Missbrauchsbekämpfung zu (s. dazu ausf. Rz. 27.2).

 

Rz. 24

[Autor/Stand] Anwendbarkeit und Reichweite. Der Grundsatz des Missbrauchsverbots ist anwendbar auf Vorteile und Rechte aus dem gesamten Unionsrecht, unabhängig davon, ob diese ihre Grundlage im Primärrecht (insb. Grundfreiheiten) oder im Sekundärrecht (insb. Richtlinien) haben.[11] Aus der Einordnung als primärrechtlicher allgemeiner Grundsatz[12] folgt, dass der Grundsatz des Missbrauchsverbots von allen mitgliedstaatlichen Stellen bei der Anwendung des Unionsrechts unmittelbar[13] gegenüber den Steuerpflichtigen (zu ihren Lasten) anzuwenden ist.[14] Der allgemeine Grundsatz bedarf zu seiner Anwendung aufgrund seiner primärrechtlichen Grundlage keiner gesonderten Umsetzung in nationales Recht, sondern ist unabhängig von nationalen Bestimmungen zur Missbrauchsvermeidung unmittelbar anwendbar (s. aber zur Subsidiarität Rz. 27).[15] Dabei betont der EuGH, dass die Anwendung des allgemeinen Grundsatzes des Missbrauchsverbots (d.h. die Versagung des unionsrechtlich begründeten Rechts) an sich keine belastende Verpflichtung des Steuerpflichtigen begründe, da die Versagung des geltend gemachten Rechts nur die schlichte Folge der Feststellung sei, dass die objektiven Voraussetzungen der vorteilsgewährenden Unionsrechtsnorm in Wirklichkeit nicht erfüllt sind.[16] Wird ein Missbrauch einer Unionsrechtsnorm festgestellt, kann sich der Steuerpflichtige zum einen nicht mehr auf diese (unmittelbar anwendbare) vorteilsgewährende Unionsrechtsnorm (z.B. Art. 5 MTR) berufen. Zum anderen verdrängt der Grundsatz des Missbrauchsverbots über den Anwendungsvorrang und den Effektivitätsgrundsatz des Unionsrechts aber auch die nationalen Normen, die einen unionsrechtlich begründeten Vorteil im nationalen Recht umsetzen (z.B. § 43b EStG).[17] Der allgemeine Grundsatz des Missbrauchsverbots ist daher auch anwendbar auf im nationalen Recht begründete Rechte und Vorteile, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, d.h. auf Unionsebene harmonisiert sind und deren Grundlage sich daher letztlich auf das Unionsrecht zurückführen lässt.[18] Auch diese Normen gewähren im weiteren Sinne Vorteile aus dem Unionsrecht, sodass bei deren Anwendung der allgemeine Grundsatz des Missbrauchsverbots zu beachten ist. Die Mitgliedstaaten werden damit im Ergebnis dazu verpflichtet, die inhaltlich in Unionsrechtsnormen (z.B. Richtlinien) enthaltenen Vorteile und Rechte (z.B. Verbot des Quellensteuerabzugs nach Art. 5 MTR) insgesamt zu verwehren, unerheblich davon, in welcher konkreten Rechtsgrundlage sie begründet sind.[19] Ob auch in DBA enthaltene un...

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