Rz. 88

[Autor/Stand] Schutzbereichseröffnung. Für die Prüfung der Niederlassungsfreiheit ist zunächst von Bedeutung, ob sich die den Entlastungsanspruch geltend machende Körperschaft überhaupt auf die Niederlassungsfreiheit berufen kann. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen dem persönlichen und dem sachlichen Schutzbereich. Der persönliche Schutzbereich bei juristischen Personen (Körperschaften) ist in Art. 54 AEUV geregelt. Hiernach kann sich eine Körperschaft persönlich auf die Niederlassungsfreiheit nur berufen, wenn sie (kumulativ):

  • nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet wurde und
  • ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder (= alternativ) ihre Hauptniederlassung (irgendwo) innerhalb der Union (nicht zwingend in ihrem Gründungs- oder Ansässigkeitsmitgliedstaat) hat.

Der in Art. 54 AEUV vorgesehenen Ausnahme für Körperschaften, die keinen Erwerbszweck verfolgen, kommt hingegen keine selbstständige Bedeutung zu, da jedenfalls auch der sachliche Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit nur eine Erwerbstätigkeit erfasst und beide Begriffe inhaltlich überreinstimmend ausgelegt werden.[2] Ausgenommen sind daher nur Körperschaften, die ausschließlich einen rein karitativen oder sozialen Zweck verfolgen.[3] Doch selbst wenn diese daneben eine Tätigkeit ausüben, die einen Niederlassungsvorgang i.S.d. Art. 49 AEUV darstellt, sind sie insoweit von der Niederlassungsfreiheit (auch persönlich) geschützt.[4] Sachlich schützt die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 Abs. 2 AEUV die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von EU-Gesellschaften i.S.d. Art. 54 AEUV.[5] Die Niederlassungsfreiheit schützt also sachlich auch die Gründung und den Erwerb einer EU-Tochtergesellschaft sowie das Halten entsprechender Beteiligungen, sofern diese Beteiligungen nur die Möglichkeit eines Einflusses auf die Entscheidungen und Tätigkeiten der Gesellschaft vermitteln (sog. Kontrollbeteiligungen, zur Abgrenzung näher Rz. 109 ff.).[6] Das "insbesondere" im Wortlaut des Art. 49 AEUV darf aber nicht dahin missverstanden werden, dass auch die Gründung und Leitung von Drittstaaten-Gesellschaften als Sekundärniederlassung von der Niederlassungsfreiheit geschützt ist. Die Tochtergesellschaft wird vielmehr im Kontext des Art. 49 AEUV als rechtlich verselbständigte Niederlassung verstanden, sodass diese sich auch territorial innerhalb der EU befinden muss. Jedoch kann eine mit der Leitung von Drittstaaten-Gesellschaften verbundene Tätigkeit eine eigene Erwerbstätigkeit der leitenden EU-Gesellschaft darstellen und für diese eine Niederlassung begründen, deren Schutz dann von Art. 49 AEUV umfasst ist. Der Begriff der Erwerbstätigkeit (gleichbedeutend: wirtschaftliche Tätigkeit) ist weit zu verstehen und umfasst jede Tätigkeit, die auf einen Erwerbszweck gerichtet ist und Teil eines Austauschprozesses ist[7]; dazu gehört – wie sich insbesondere aus der Rs. Panayi[8] ergibt – auch eine Tätigkeit vermögensverwaltender Art (vgl. § 50d Abs. 3 EStG Rz. 252, 347).[9] Letztlich wird man sich daran orientieren können, dass sich die Erwerbstätigkeit (nur) negativ von rein karitativen Tätigkeiten abgrenzt. Nicht erforderlich für die Eröffnung des Anwendungsbereichs[10] ist, dass die sich auf die Niederlassungsfreiheit berufende Gesellschaft in ihrem Herkunftsstaat selbst irgendeine Tätigkeit ausübt oder Substanz aufweist.[11] Voraussetzung ist aber im Fall der sog. sekundären Niederlassung, dass die Muttergesellschaft im Hoheitsgebiet irgendeines[12] Mitgliedstaates "ansässig" ist (s. Art. 49 Abs. 1 Satz 2 a.E. AEUV). Dieses Merkmal der Ansässigkeit ist nach h.M. so zu verstehen, dass nur kein (überwiegender) Drittstaatenbezug bestehen darf, d.h. die Muttergesellschaft etwa nicht ihre Hauptniederlassung in einem Drittstaat haben darf und dadurch in die Volkswirtschaft eines Drittstaates eingegliedert ist (vgl. auch Art. 2 Buchst. a Doppelbuchst. ii MTR).[13]

 

Rz. 89

[Autor/Stand] Beschränkt § 50d Abs. 3 EStG die Niederlassungsfreiheit? Die Niederlassungsfreiheit garantiert im Inbound-Fall die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen (Tochtergesellschaften) unter den gleichen Bedingungen wie denjenigen für Inländer des Aufnahmemitgliedstaats (sog. Inländergleichbehandlung, vgl. Art. 49 Abs. 2 AEUV). Eine Beschränkung liegt daher vor, wenn ein binnengrenzenüberschreitender Sachverhalt gegenüber einem vergleichbaren inländischen Sachverhalt (steuerlich) schlechter behandelt und damit die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit (zumindest) weniger attraktiv gemacht wird.[15] Damit § 50d Abs. 3 EStG eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellt, muss er also bewirken, dass der grenzüberschreitende Bezug von Einkünften durch gebietsfremde Körperschaften steuerlich schlechter behandelt wird als ein vergleichbarer Bezug dieser Einkünfte durch gebietsansässige (inländische) Körperschaften in einem rein inländisc...

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