Entscheidungsstichwort (Thema)

Erwerbsminderungsrente. Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Rentenabschlag. Verfassungsmäßigkeit

 

Orientierungssatz

1. Die Vorschrift des § 77 Abs 2 SGB 6 ist so zu interpretieren, dass auch bei Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres eine Verminderung des Zugangsfaktors vorgenommen wird, dies jedoch auf maximal 36 Kalendermonate, also maximal 10,8 Prozent begrenzt wird (Entgegen BSG vom 16.5.2006 - B 4 RA 22/05 R = BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3).

2. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Inhalt des § 77 Abs 2 SGB 6 nach der hier vorgenommenen Interpretation bestehen für die Kammer nicht.

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 11.01.2011; Aktenzeichen 1 BvR 3588/08, 1 BvR 555/09)

BSG (Urteil vom 14.08.2008; Aktenzeichen B 5 R 140/07 R)

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Sprungrevision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Höhe der Erwerbsminderungsrente des ... 1950 geborenen Klägers.

Die Beklagte gewährte dem Kläger auf dessen Antrag und Widerspruch nach Durchführung medizinischer Ermittlungen und Klärung des Versicherungskontos mit Bescheid vom 10. Juli 2006 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 01.03.2005 bis längsten zur Vollendung des 65 Lebensjahres ohne weitere zeitliche Befristung. Dabei wurde eine monatliche Rente in Höhe von 456,65 Euro gewährt. Unter Berücksichtigung der von dem Kläger zu tragenden Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge ergab sich ein Zahlbetrag in Höhe von 413,28 Euro. Aus den vollständig festgestellten rentenversicherungsrechtlichen Zeiten der Klägerin ermittelte die Beklagte 39,1839 Entgeltpunkte. Der Ermittlung der Rentenhöhe hat sie 34,9520 persönliche Entgeltpunkte zu Grunde gelegt. Dies ergab sich aus der Anwendung eines Zugangsfaktors in Höhe von 0,892. Die Beklagte verminderte den Zugangsfaktor von 1,000 für jeden Kalendermonat der Inanspruchnahme der Rente vor Vollendung des 63. Lebensjahres um 0,003. Dabei berücksichtigte sie die Kalendermonate ab dem 31. Dezember 2013. Insgesamt wurden so 36 Kalendermonate bei der Verminderung des Zugangsfaktors um insgesamt 0,108 berücksichtigt.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 14. Juli 2006 Widerspruch, mit dem er die Rentenhöhe, namentlich die Kürzung des Zugangsfaktors rügte. Die Entscheidung werde für rechtswidrig erachtet, weil eine unrichtige Rechtsanwendung vorgenommen worden sei. Die Kürzungsvorschrift sei verfassungsrechtlich zu beanstanden. Mit Widerspruchsbescheid vom 21. März 2007 wies die Beklagte den klägerischen Widerspruch zurück.

Mit der am 27. März 2007 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

Er ist der Ansicht, dass ihm eine abschlagsfreie Rente zustehe. Die von der Beklagten ermittelten Entgeltpunkte seien mit dem unverminderten Zugangsfaktor von 1,0 zu vervielfältigen. § 77 Abs. 2 SGB VI sei einfachgesetzlich und erst recht verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass Abschläge bei einem Recht auf Rente wegen Erwerbsminderung für Bezugszeiten vor dem 60. Lebensjahr nicht in Betracht kommen. Eine ausdrückliche Formulierung, wonach auch im Falle einer Erwerbsminderungsrente eine Kürzung des Zugangsfaktors für die Zeit vor dem 60 Lebensjahr vorzunehmen sei, finde sich im SGB VI nicht. Eine solche komme aber erst ab Vollendung des 60. Lebensjahres in Betracht. In dieser Rechtsansicht sieht sich der Kläger durch die Entscheidung des Bundessozialgerichtes vom 16. Mai 2006 in dem Verfahren B 4 RA 22/05 R bestätigt. Ferner ist er der Auffassung, dass eine andere Auslegung der Vorschrift des § 77 Abs. 2 SGB VI jedenfalls verfassungswidrig wäre, weil mit der Kürzung des Zugangsfaktors um 10.8 % ein massiver Eingriff in das von Art 14 GG geschützte Anwartschaftsrecht der betroffenen Erwerbsminderungsrentner verbunden sei.

Er beantragt,

1.

der Bescheid der Beklagten vom 10.07.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.03.2007 wird aufgehoben.

2.

die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die gewährte Erwerbsminderungsrente ohne Rentenabschläge zu gewähren und die sich daraus ergebende Differenz auszuzahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie interpretiert § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI so, dass diese Vorschrift die Höhe des Abschlags bei Erwerbsminderungsrenten, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres geleistet werden, auf die Abschlagshöhe begrenzt, die für den Zeitpunkt der Vollendung des 60. Lebensjahres gelte. Für Erwerbsminderungsrenten, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres geleistet werden, sei danach der Zugangsfaktor um 10,8 Prozent zu mindern. § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI werde dabei als Grundregel aufgefasst, die die Grundregel aufstellt, dass grundsätzlich für alle Erwerbsminderungsrenten, die vor Vollendung des 63. Lebensjahres geleistet werden, der Zugangsfaktor gemindert werde. § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sei dagegen eine bloße Berechnungsregel für Erwerbsminderungsrenten, die vor ...

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