1 Allgemeines

1.1 Entwicklung, Gegenstand und Zweck der Norm

 

Rz. 1

Die – teilweise kriminellen – Steuergestaltungen mit Cum/Ex-, Cum/Cum- und Cum/Fake-Geschäften, wie auch die steuerinduzierten Wertpapierleihen, haben gezeigt, dass am Kapitalmarkt ein erhebliches Potenzial besteht, über Dividendenarbitragegeschäfte die Besteuerung von Dividendeneinkünften zu umgehen oder sogar darüber hinaus Vorteile aus den Besteuerungsregeln zu generieren. Darauf hat der Gesetzgeber u. a. dadurch reagiert, dass er zur Eindämmung derartiger schädlicher Gestaltungen mit dem Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetz[1] § 88c AO in die Abgabenordnung eingefügt hat. Die Regelung ist am 9.6.2021 in Kraft getreten.

 

Rz. 2

Vom Sinngehalt der Kapitalertragsteuer kommt dieser als Quellensteuer eine Kontroll- und Sicherungsfunktion für die Erhebung der auf Kapitalerträge entfallenden Einkommensteuer zu.[2] Diese Funktion wurde insbesondere in der jüngeren Vergangenheit durch spezielle an die Erhebungsform anknüpfende Gestaltungen in ihr exaktes Gegenteil verkehrt. § 88c AO soll deshalb die Voraussetzungen schaffen, auf Basis der den Finanzbehörden bekannt gewordenen Tatsachen missbräuchliche modellhafte Steuergestaltungen am Kapitalmarkt zielgerichtet aufdecken zu können.[3] Vordringlich soll die Regelung missbräuchliche Gestaltungen bei Aktiengeschäften um den Dividendenstichtag aufzudecken helfen[4] und damit natürlich gleichzeitig auch general- wie spezialpräventiv derartige Gestaltungen in ihrer Attraktivität für die Akteure wesentlich eindämmen.

Sie dient darüber hinaus aber auch der Verschaffung von Erkenntnissen über sonstige vom Gesetzgeber nicht erwünschte Steuergestaltungen im Bereich der Kapitalmarktaktivitäten von Stpfl. und Intermediären.

 

Rz. 3

Der Zweck der Norm ist die Schaffung von Analysemöglichkeiten einer zentralen Stelle des Bundeszentralamts für Steuern (BZSt) über die Erkenntnisgewinnung und Zusammenführung von Sachverhaltsgestaltungen, die den Finanzbehörden aus den einzelnen Steuerfällen bekannt werden. Zugleich sollen daraus ableitbare analytisch auswertbare Ergebnisse den Finanzbehörden veranlagungsunterstützend wieder zur Verfügung gestellt werden.[5]

 

Rz. 4

§ 88c AO ergänzt für seine Zwecke über andere Informationswege die Erkenntniswege über Steuergestaltungen der nur im grenzüberschreitenden Bereich einschlägigen Regelungen in §§ 138d ff. AO.

Rz. 5 einstweilen frei

[1] Gesetz zur Modernisierung der Entlastung von Abzugsteuern und der Bescheinigung der Kapitalertragsteuer – AbzStEntModG v. 2.6.2021, BGBl 2021, 1259.
[2] Drüen, FR 2021, 605, 606.
[3] Günther, AO-StB 2021, 230, 230; Hörster, NWB 2021, 1586, 1602.
[4] BR-Drs. 50/21, 86; Haase/Nürnberg, Ubg 2020, 674, 684; Drüen, FR 2021, 605, 614.
[5] BR-Drs. 50/21, 86.

1.2 Legitimität und Verfassungsmäßigkeit der Norm

 

Rz. 6

Die Norm setzt die Weiterverwendung der in den für die jeweiligen Steuerfälle zuständigen Finanzbehörden für deren originäre Besteuerungszwecke erhobenen geschützten Daten voraus. Der Verwendungszweck des § 88 Abs. 1 und 2 AO stellt aber nicht auf die Besteuerung der betroffenen Personen oder überhaupt von Einzelfällen ab. Zwar handelt es sich gleichfalls um ein Verfahren in Steuersachen. Der Nutzungszweck der weitergeleiteten geschützten Daten ist aber grundsätzlich anders ausgelegt. In der Weiterverwendung der erhobenen und von den für die Einzelfälle zuständigen Finanzbehörden mitzuteilenden Daten liegt also eine Zweckänderung, da die weitere Nutzung der personenbezogenen Daten auch zu anderen Zwecken, als denen der ursprünglichen Datenerhebung erfolgt. Hier muss der Gesetzgeber sicherstellen, dass dem Eingriffsgewicht der Datenerhebung auch hinsichtlich der neuen Nutzung Rechnung getragen wird.[1]

 

Rz. 7

Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Zweckbindung schließt Zweckänderungen nicht aus. Die "neuen" Zweckbestimmungen bedürfen aber ihrerseits einer gesetzlichen Grundlage, die mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Unter anderem setzt dies voraus, dass der Verwendungszweck, zu dem die Daten erhoben wurden und der veränderte Verwendungszweck miteinander vereinbar sind. Eine Unvereinbarkeit läge etwa dann vor, wenn grundrechtsbezogene Beschränkungen des Einsatzes bestimmter Erhebungsmethoden durch die zweckändernde Datennutzung umgangen würden, die Information also für den geänderten Zweck nicht oder nicht in dieser Weise hätte erhoben werden dürfen.[2]

Die Zwecke sind aber jedenfalls dann vereinbar, wenn beide Verfahren dem Ziel dienen, das öffentliche Interesse praktisch durchzusetzen[3], wie es auch im Anwendungsbereich des § 88c Abs. 1 und 2 AO erkennbar – auch unter indizieller Wirkung des Abs. 3 – der Fall ist.

 

Rz. 8

In Anlehnung an die Regelungen in den §§ 138d ff. AO wäre es dem Gesetzgeber zudem möglich gewesen, die Pflicht der Nutzer oder Intermediäre zur Mitteilung legaler relevanter kapitalmarktbezogener Gestaltungen auch neben der Steuererklärungspflicht ergänzend dezidiert zu regeln. Die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen der §§ 138d ff. AO wird zwar teilweise verneint[4] und auch sonst eher kritisch gewürdigt.[5] Diese Kritik entzündet sich aber ...

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