3.6.1.1 Begriff

 

Rz. 75

Nach § 361 Abs. 2 S. 2 Alt. 1 AO bzw. § 69 Abs. 2 S. 2 Alt. 1 FGO soll die Vollziehung ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Nach st. Rspr. des BFH sind ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts dann anzunehmen, wenn sich nach summarischer Prüfung des Vortrags des Antragstellers ergibt, dass neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umstände gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheiten in der Beurteilung der entscheidungserheblichen Tat- bzw. Sachverhaltsfragen auslösen und sich bei abschließender Klärung dieser Fragen der Verwaltungsakt als rechtswidrig erweisen könnte.[1] Die Finanzverwaltung geht davon aus, dass bei der Prüfung dieser Zweifel sowohl die Rspr. des BFH wie auch der (zuständigen) FG und die einschlägigen Verwaltungsanweisungen einzubeziehen sind.[2]

[1] BFH v. 10.2.1967, III B 9/66, BStBl III 1967, 182; BFH v. 5.4.2005, I B 221/04, BStBl II 2005, 526; BFH v. 4.5.2017, IV B 10/17, BFH/NV 2017, 1009; BFH v. 12.7.2017, X B 16/17, BFHE 257, 523, BFH/NV 2017, 1204; BFH v. 8.2.2017, X B 138/16, BFH/NV 2017, 579; BFH v. 24.5.2017, V B 123/15, BFH/NV 2016, 1253; BFH v. 27.1.2016, VB 87/15, BFH/NV 2016, 716; BFH v. 29.11.2007, I B 181/07, BStBl II 2008, 195; BFH v. 14.2.2023, IX B 42/22 (AdV), BFH/NV 2023, 562; BFH v. 9.3.2023, VI B 31/22 (AdV), BFH/NV 2023, 574; FG Düsseldorf v. 6.5.2020, 5 V 2487/19 A(U,KV,AO), NWB CAAAH-50798; FG Rheinland-Pfalz v. 24.7.2013, 4 V 1522/13, EFG 2013, 1464; FG Schleswig-Holstein v. 18.2.2022, 4 V 148/20, DStRE 2022, 1204; AEAO zu § 361 Nr. 2.5; Kraus, NWB 2009, 853, 857; Hardtke, in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, 22. Aufl. 2018, § 361 AO Rz. 30.
[2] AEAO zu § 361 Nr. 2.5.1.

3.6.1.2 Unsicherheit und Unklarheit hinsichtlich der Rechtslage

 

Rz. 76

Als Aussetzungsgrund genügt eine Unsicherheit oder Unentschiedenheit hinsichtlich der Rechtslage, sodass sich bei abschließender Klärung der Rechtsfragen der Verwaltungsakt als rechtswidrig erweisen könnte.[1] Es muss weder das Obsiegen noch das Unterliegen im Einspruchs- bzw. Klageverfahren mit Sicherheit ausgeschlossen werden können.[2] Das Obsiegen braucht hierbei nicht einmal wahrscheinlicher zu sein als das Unterliegen (kein Erfordernis einer Erfolgswahrscheinlichkeit).[3]

 

Rz. 76a

Die AdV setzt voraus, dass die zweifelhafte Rechtsfrage entscheidungserheblich ist.[4] Ernstliche Zweifel bestehen bei sich widersprechenden finanzgerichtlichen Entscheidungen bzw. unterschiedlichen Rechtsauffassungen zwischen Senaten des BFH.[5] Auch bei unklarer Gesetzeslage und nicht vorliegender höchstrichterlicher Rspr. sowie bei Literaturstimmen, die gegen die Rechtsauffassung der Finanzbehörde eintreten, ist die entsprechende Unsicherheit gegeben.[6] Ebenso hat die AdV zu erfolgen, wenn die Behörde die Rechtsauffassung in BFH-Entscheidungen durch einen Nichtanwendungserlass nicht akzeptiert.[7]

Schließlich bestehen ernstliche Zweifel in rechtlicher Hinsicht, wenn in der Literatur beachtliche Gründe gegen höchstrichterliche Rechtsprechung vorgetragen werden.[8]

 

Rz. 76b

Ist im Hauptsacheverfahren bei summarischer Prüfung eine Vorlage zur Vorabentscheidung durch den EuGH nach Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV erforderlich, so rechtfertigt dies die AdV.[9]

Die entsprechenden Zweifel können sich aber auch bereits daraus ergeben, dass eine solche Vorlage an den EuGH nur allgemein betrachtet für erforderlich gehalten wird.[10] Somit bestehen entsprechende Zweifel auch, wenn die Frage von einem Gericht dem EuGH bereits vorgelegt wurde.[11] Die Finanzverwaltung lässt es indes nicht ausreichen, dass ein anderes Gericht einen Vorabentscheidungsgesuch an den EuGH beschlossen hat.[12]

 

Rz. 76c

Insofern bestehen ernstliche Zweifel, wenn im summarischen Verfahren nicht auszuschließen ist, dass ein Verstoß gegen Europarecht vorliegt. Dieser Verstoß kann sich gegenüber Richtlinien oder Verordnungen der EU als sekundärem Unionsrecht aber auch primärem EU-Recht wie den Grundfreiheiten nach AEUV ergeben.[13] In diesem Zusammenhang ist der Vorrang des Unionsrechts zu beachten, der auch ohne Entscheidung des EuGH zu wahren ist. D.h. anders als bei der Frage, ob ein Gesetz gegen das GG verstößt, die nur das BVerfG beantworten kann, sind etwa die Grundfreiheiten auch von der Finanzverwaltung und den nationalen Gerichten selbst zu wahren.[14]

Voraussetzung für diese Überprüfung anhand des Europarechts ist aber, dass der entsprechende VA nicht in den Anwendungsbereich des UZK oder ZK fällt, denn dann ist § 361 AO nicht anwendbar.[15] Dabei ist unter Berücksichtigung, dass es sich bei der AdV um ein summarisches Verfahren handelt, eine Wahrscheinlichkeitsprognose anzustellen, ob ein Verstoß gegen Europarecht vorliegt. In diese Prognose sind ggf. bereits vorliegende Rspr. des EuGH bzw. von Organen der EU ergriffene Maßnahmen wie von der Kommission angestrengte Vertragsverletzungsverfahren aber auch in der Rspr. von FG oder BFH diesbez...

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