Rz. 162

Durch Gesetz v. 9.12.2004[1] ist Abs. 2 durch einen neuen S. 2 ergänzt worden. Danach gilt die nachträgliche Erteilung oder Vorlage einer Bescheinigung oder Bestätigung nicht als rückwirkendes Ereignis. Die Gesetzesänderung ist mit BFH v. 6.3.2003, XI R 13/02, BStBl II 2003, 554, BFH/NV 2003, 959 begründet, wonach es sich bei der Spendenbescheinigung nach § 48 Abs. 3 EStDV a. F. um ein materielles Tatbestandsmerkmal handle und die nachträgliche Erstellung bzw. Vorlage der Bescheinigung daher ein rückwirkendes Ereignis sei.

Die Neuregelung ist nach Art. 97 § 9 Abs. 3 EGAO erstmals anzuwenden auf Bescheinigungen oder Bestätigungen, die nach dem 28.10.2004 (Datum des Gesetzesbeschlusses des Bundestags) vorgelegt oder erteilt werden. Da die Neuregelung nur für Vorgänge (Erstellen oder Vorlage der Bescheinigung oder Bestätigung) ab dem Gesetzesbeschluss des Bundestags greift, handelt es sich nicht um eine verfassungswidrige Rückwirkung, auch wenn der wirtschaftliche Sachverhalt, auf den sich die Bescheinigung oder Bestätigung bezieht, vorher verwirklicht worden ist.

 

Rz. 163

Die Vorschrift ist zwar im Hinblick auf die grenzüberschreitende Anrechnung von KSt eingeführt worden und unterliegt daher in gewissem Umfang europarechtlichen Bedenken (hierzu Rz. 171), sie ist jedoch unterschiedslos auf innerstaatliche und grenzüberschreitende Fälle anwendbar. Soweit ein innerstaatlicher Sachverhalt vorliegt, der keinen europarechtlichen Bezug aufweist, führen europarechtliche Bedenken nicht zur Nichtanwendbarkeit der Vorschrift.[2] Die Vorschrift ist verfassungsgemäß. Es steht dem Gesetzgeber frei, den Umfang der Durchbrechung der Bestandskraft und Beginn der Festsetzungsfrist zu bestimmen. Da Bescheinigungen i. d. R. ohne zeitliche Beschränkung erteilt werden können, konnte der Gesetzgeber eine zeitliche Begrenzung durch Einschränkung der Wirkungen des § 175 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO einführen.[3]

 

Rz. 164

Steuerrechtlich haben in einer Vielzahl von Fällen Bescheinigungen oder Bestätigungen Bedeutung für die Steuerfestsetzung oder die Ermittlung der (noch) zu entrichtenden Steuer. Bei der Wirkung dieser Bescheinigungen auf die Steuerfestsetzung ist zu unterscheiden, ob das Vorliegen der Bescheinigung eine Tatbestandsvoraussetzung ist, ob es sich um eine vorrangige Entscheidung einer anderen Behörde handelt oder um ein Beweismittel, das die Finanzbehörde nach Beweisgrundsätzen zu würdigen hat.

Hat eine inländische Behörde, die nicht Finanzbehörde ist, eine Bescheinigung oder eine Bestätigung auszustellen und ist die Finanzbehörde bei der Entscheidung über den Steueranspruch hieran gebunden, stellt die Erteilung dieser Bescheinigung oder Bestätigung einen bindenden, der Bestandskraft fähigen Verwaltungsakt dar. Da die Finanzbehörde bei ihrer Entscheidung an den Inhalt dieses Verwaltungsakts gebunden ist, handelt es sich um einen Grundlagenbescheid i. S. d. § 171 Abs. 10 AO. Der Steuerbescheid ist als Folgebescheid[4] hieran gebunden; die Anpassung des Steuerbescheids als Folgebescheid erfolgt nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO, nicht nach Nr. 2.[5] Die Neuregelung des Abs. 2 S. 2 ist für diese Fälle ohne Bedeutung.

 

Rz. 165

Ist eine Bescheinigung oder Bestätigung einer anderen Behörde nicht bindend i. d. S., oder handelt es sich um eine Bescheinigung oder Bestätigung einer Person, die nicht inländische Behörde ist, und dient diese Bescheinigung oder Bestätigung nur dazu, das Vorliegen eines Tatbestandsmerkmals des steuerlichen Tatbestands nachzuweisen, ist die Bescheinigung oder Bestätigung Beweismittel i. S. d. § 92 AO (z. B. ärztliches Attest). Die Finanzbehörde ist bei der Entscheidung über den Steueranspruch an diese Bescheinigung oder Bestätigung nicht schlechthin gebunden, sondern hat ihren Inhalt nach den Grundsätzen der Beweiswürdigung zu würdigen. Die Anpassung eines Steuerbescheids an eine erstmalige oder geänderte Bescheinigung erfolgt nach § 173 AO als neue Tatsache (neues Beweismittel), nicht nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO.[6] Auch für diese Fälle ist die Neuregelung in § 175 Abs. 2 S. 2 AO daher ohne Bedeutung.

 

Rz. 166

Die dritte Fallgruppe besteht in den Fällen, in denen das Vorliegen einer Bescheinigung oder Bestätigung Tatbestandsmerkmal des steuerlichen Tatbestands ist. Die Ausstellung einer solchen Bestätigung oder Bescheinigung ist, auch wenn sie von einer inländischen Behörde erfolgt, regelmäßig nicht Ausübung öffentlicher Gewalt und daher kein Verwaltungsakt, da eine solche Bestätigung oder Bescheinigung auch von Privatpersonen ausgestellt werden kann. Daher kann eine solche Bescheinigung oder Bestätigung nicht Grundlagenbescheid sein. In diesen Fällen hat die Rspr. (Rz. 162, 167) angenommen, dass die nachträgliche Ausstellung oder Vorlage der Bescheinigung oder Bestätigung den Eintritt eines Tatbestandsmerkmals bedeute, der auf den Zeitpunkt des Entstehens der Steuerschuld zurückwirke. Es handle sich also um ein rückwirkendes Ereignis i. S. d. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO. Verfahrensrechtlich bedeutete dies, da...

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