Rz. 134

Die Ausübung eines Antrags- oder Wahlrechts hat materielle Wirkung, wenn es nicht nur Verfahrenshandlung oder rein formelle Voraussetzung für die Berücksichtigung eines steuerlich relevanten Sachverhalts ist, sondern selbst Merkmal des gesetzlichen Tatbestands. Es wirkt dann unmittelbar rechtsgestaltend auf die Steuerschuld ein und verändert die einkommensteuerrechtliche Qualifikation des Sachverhalts. Geschieht dies nachträglich, liegt ein rückwirkendes Ereignis vor, das die Änderung der Steuerfestsetzung nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO ermöglicht.[1]

Eine solche materielle Wirkung eines Antrags oder Wahlrechts ist jedoch die Ausnahme und bedarf einer besonderen Begründung. Die Rechtsprechung hat diese Begründung in Einzelfällen darin gesehen, dass nach der Lage der Dinge die Voraussetzungen der Antragstellung erst nachträglich eintreten konnten oder dass die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG eine Berücksichtigung der Besteuerungsgrundlagen erforderte. Eine materielle Wirkung ist nur angenommen worden, wenn die Berücksichtigung des Antrags im Rahmen der §§ 177, 351 Abs. 1 AO nicht möglich ist.

 

Rz. 135

Als Ereignis mit Rückwirkung nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO hat die Rechtsprechung den Antrag auf Realsplitting nach § 10 Abs. 1a Nr. 1 EStG, verbunden mit der Zustimmung des anderen Ehegatten, gesehen.[2] Begründet wird dies damit, dass das Zustimmungserfordernis des anderen Ehegatten diesem ermöglichen solle, durch Vereinbarung mit dem leistenden Ehegatten einen Ausgleich für die mit dem Realsplitting zusammenhängende steuerliche Belastung nach § 22 Nr. 1a EStG zu erreichen. Die dafür erforderlichen Überlegungen könnten typischerweise nur nach Ablauf des Vz angestellt werden, weil erst dann die erforderlichen Daten vorlägen und die Auswirkungen abzusehen seien. Die erforderliche Einigung müsse u. U. im Klagewege erzwungen werden. Da die Umqualifizierung der Leistungen in Sonderausgaben von der Zustimmung des Leistungsempfängers abhänge, werde damit notwendigerweise die Möglichkeit eingeräumt, den steuerlich relevanten Sachverhalt nachträglich anders zu gestalten. Rückwirkendes Ereignis sei damit der mit der Zustimmung verbundene Antrag, nicht der Antrag oder die Zustimmung allein. Weitere Voraussetzung ist nach der Rechtsprechung, dass die Zustimmung des Ehegatten erst nach Eintritt der Bestandskraft des zu ändernden Bescheids eintritt. Ist die Zustimmung früher erteilt worden, konnte der Stpfl. den Antrag rechtzeitig stellen.[3] Eine Notwendigkeit, eine rückwirkend eintretende Tatsache anzunehmen, besteht nach der Rechtsprechung dann nicht. Nicht maßgebend ist der Zeitpunkt der tatsächlichen Anerkennung der Leistungen als Sonderausgaben.[4]

Eine vergleichbare Rechtslage besteht bei dem Antrag auf Übertragung des Kinderfreibetrags nach § 32 Abs. 6 S. 8-10 EStG.[5]

 

Rz. 136

In einem Sonderfall des § 32d Abs. 6 EStG hat der BFH in dem Antrag auf Günstigerprüfung ebenfalls ein rückwirkendes Ereignis nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO gesehen.[6] Werden Kapitaleinkünfte erstmals in eine geänderte Steuerfestsetzung einbezogen, kann der Antrag auf Günstigerprüfung im Rahmen der §§ 177, 351 Abs. 1 AO berücksichtigt werden, da der Änderungsrahmen dabei nicht überschritten werden kann. In dem vom BFH (a. a. O.) entschiedenen Fall war der Antrag bei der erstmaligen Veranlagung nicht gestellt worden, weil er wegen der Höhe der sonstigen Einkünfte gegenstandslos war und die Hinzurechnung der Kapitaleinkünfte zu den übrigen Einkünften nicht zu einer niedrigeren Steuerfestsetzung geführt hätte. Anschließend wurde die Steuerfestsetzung nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO wegen eines geänderten Grundlagenbescheids geändert und dabei die festgestellten Einkünfte auf Null herabgesetzt. Damit ergab sich erstmals die Möglichkeit auf einen Antrag zur Günstigerprüfung. Durch §§ 177, 351 Abs. 1 AO war der Fall nicht zu lösen, da die Durchbrechung der Bestandskraft zugunsten des Stpfl. erfolgt war und die Günstigerprüfung zu einem weiteren Vorteil führen würde. Der Änderungsrahmen wäre also überschritten worden.

BFH (a. a. O.) hat in dem Sachverhalt, in dem sich erstmals die Möglichkeit eines Antrags auf Günstigerprüfung ergab, eine korrekturbedürftigen Zustand und das Bedürfnis gesehen, die bestandskräftige Regelung an den veränderten Sachverhalt anzupassen. Durch die nachträgliche Veränderung der Einkünfte habe sich der Sachverhalt mit rückwirkender Kraft verändert. Es könne dem Stpfl. nicht zugemutet werden, den Antrag bereits bei der erstmaligen Steuerfestsetzung, gewissermaßen "ins Blaue hinein", zu stellen.

Die Annahme des BFH (a. a. O.), es sei rückwirkend eine Sachverhaltsänderung eingetreten, ist zu kritisieren. Der Sachverhalt ist objektiv unverändert geblieben. Die tatsächliche Höhe der festgestellten Einkünfte stand objektiv fest und war nur den Beteiligten unbekannt. Die Höhe der festzustellenden Einkünfte kann daher nicht als rückwirkendes Ereignis nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO angesehen werden, sondern als neu...

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