Rz. 59

§ 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO ermöglicht die Anpassung der Steuerfestsetzung, wenn ein Ereignis mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit eintritt (steuerliche Rückwirkung).Der Begriff des Ereignisses ist nicht ganz eindeutig; an sich ist dieser Begriff denkbar weit und würde jedes Vorkommnis erfassen, d. h. auch eine rückwirkende Gesetzesänderung. Es wird jedoch angenommen werden müssen, dass "Ereignis" i. S. v. "Besteuerungsgrundlagen" aufzufassen ist. Nach der Definition des § 199 Abs. 1 AO sind Besteuerungsgrundlagen die für die Steuerpflicht und für die Bemessung der Besteuerung maßgebenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse. Die Rechtsprechung fasst unter den Begriff des "Ereignisses" alle steuerrechtlich bedeutsamen Vorgänge einschließlich der tatsächlichen Lebensvorgänge.[1] Unter "Ereignis" ist daher der steuerlich relevante Sachverhalt im weitesten Sinne zu verstehen. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO ist daher nur anwendbar, wenn sich der Sachverhalt oder ein Teil des Sachverhalts, der durch den jeweiligen steuerlichen Tatbestand erfasst wird, mit Rückwirkung ändert.[2] Eine rückwirkende steuerliche Gesetzesänderung oder eine Änderung der Auslegung einer steuerrechtlichen Vorschrift stellt daher kein rückwirkendes Ereignis dar, da dadurch der durch den Steuertatbestand erfasste Lebenssachverhalt nicht geändert wird.[3] Auch eine veränderte rechtliche Beurteilung bei einem unveränderten Sachverhalt ist kein rückwirkendes Ereignis.[4] Beweismittel, die nachträglich entstehen und die nicht Teil des steuerlichen Tatbestands sind und nur dazu dienen, eine steuerlich relevante Tatsache zu belegen, sind kein rückwirkendes Ereignis. Sie sind nicht Teil des steuerlich relevanten Sachverhalts und ändern diesen Sachverhalt nicht rückwirkend.[5]

Daher ist auch ein Benennungsverlangen nach § 160 AO kein Ereignis, da es den steuerlichen Sachverhalt nicht rückwirkend ändert, sondern nur eine andere steuerliche Beurteilung des unverändert gebliebenen Sachverhalts ermöglicht.[6]

 

Rz. 60

Das gilt auch für die Umwandlung einer Lebenspartnerschaft in eine Ehe nach § 20a LebenspartnerschaftsG.[7] Nach dieser Vorschrift können die Partner einer Lebenspartnerschaft diese durch Erklärung in eine Ehe umwandeln. Das Gesetz enthält m. E. keine Bestimmung, dass dann die Lebenspartnerschaft rückwirkend als Ehe gilt. Auch Art. 3 Abs. 2 LebenspartnerschaftsG sagt nur, dass für Rechte und Pflichten der Partner/Eheleute der Tag der Begründung der Lebenspartnerschaft maßgebend bleibt, bestimmt aber nicht, dass die Lebenspartnerschaft rückwirkend auf das Datum ihrer Begründung als Ehe gilt. Eine rückwirkende Änderung des Sachverhalts "Lebenspartnerschaft" in "Ehe" erfolgt daher nicht.[8]

 

Rz. 61

Zum Begriff des Sachverhalts § 174 AO Rz. 24 ff. Der Sachverhalt setzt sich aus einer oder mehreren Tatsachen zusammen; Tatsachen wiederum sind nicht nur Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Verhältnisse und Eigenschaften[9], sondern auch für die jeweilige Steuerart präjudizielle Rechtsverhältnisse.[10] Bloße Buchungsvorgänge (Einbuchen, Ausbuchen, Stornieren) sind keine "Ereignisse", da sie den Sachverhalt nicht ändern.[11]

 

Rz. 62

§ 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO ist anwendbar, wenn sich der ganze oder ein Teil des aus Tatsachen bestehenden Sachverhalts so ändert, dass diese Änderung steuerlich auf den Zeitpunkt oder Zeitraum, der nach dem gesetzlichen Tatbestand besteuert werden soll, zurückwirkt. Es muss also nicht nur ein "Ereignis" vorliegen, sondern ein Ereignis, das den steuerlich zu berücksichtigenden Sachverhalt rückwirkend in der Weise ändert, dass der veränderte anstelle des ursprünglich verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist.[12] Es handelt sich also um eine Änderung des steuerlich zu berücksichtigenden Sachverhalts. Da ein tatsächlich eingetretener Sachverhalt i. d. R. rückwirkend nicht geändert werden kann, betrifft die Vorschrift vor allem Fälle, in denen der steuerlich zu berücksichtigende Sachverhalt unmittelbar oder mittelbar in Rechtsverhältnissen, Rechtsgeschäften oder Verwaltungsakten besteht oder hieran anknüpft, die rückwirkend geändert werden können.[13] Ob diese Änderung zu einer rückwirkenden Änderung der Rechtslage führt, ergibt sich aus dem materiellen Gehalt der jeweiligen Norm. Es ist also durch Auslegung der Norm zu ermitteln, ob die Änderung des Sachverhalts nur zu einer Änderung der Rechtslage für die Zukunft führt, oder ob sich die Rechtslage rückwirkend ändert.[14] Zum Zeitpunkt des Eintritts des Ereignisses Rz. 81.

 

Rz. 63

Eine Änderung des Sachverhalts in diesem Sinne kann auch in dem Erlass oder der Änderung eines Verwaltungsakts liegen. Das setzt voraus, dass der Inhalt eines Verwaltungsakts materielle Voraussetzung für einen anderen, den steuerlichen Verwaltungsakt ist, der Inhalt dieses Verwaltungsakts also die Qualität eines Sachverhalts für den steuerlichen Verwaltungsakt hat und damit rückwirkend die Rechtsfolgen dieses anderen Verwaltungsakts ändert. Ob der Inhalt des Verwaltu...

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